Montag, 29. Juli 2013

Kitaausbau: Lässt der Druck nach?

Seit Monaten berichten die Medien über den ab 1. August wirksamen gesetzlichen Anspruch von Eltern auf einen Krippenplatz für ihre Kinder unter drei Jahren. In der Art, in der das in der Vergangenheit geschah, wurden systematisch Befürchtungen geschürt, dass Kommunen vornehmlich im Westen der Republik diesem Anspruch nicht entsprechen werden können.
So hieß es noch im November des Vorjahres, dass es knapp neun Monate vor Inkrafttreten des Rechtsanspruchs auf ein Betreuungsangebot für unter Dreijährige weit weniger Krippenplätze gibt als bisher angenommen. Laut neuen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes fehlen bundesweit noch 220 000 Plätze, um zum 1. August 2013 die gesetzliche Garantie auf ein Betreuungsangebot einlösen zu können. Bislang waren Experten aufgrund der Ländermeldungen von nur rund 130 000 noch fehlenden Kita-Plätzen ausgegangen. Die „Frankfurter Rundschau“ schrieb dazu kurz zuvor(Auszug): „Ein Jahr vor Inkrafttreten des Rechtsanspruchs auf Betreuung für jedes Kind vom ersten Geburtstag an wächst bei den Kommunen die Panik, von einer Klagewelle erboster Eltern überrollt zu werden, die von 1. August 2013 an keinen Platz für ihren Nachwuchs bekommen.“(Ende des Auszugs).
Nun, Tage vor dem 1. August, berichtete zum Beispiel N-tv gestern (Auszug): „Umso erstaunlicher, dass wenige Tage vor dem Inkrafttreten des Rechtsanspruchs die befürchtete Klagewelle in den großen deutschen Städten bislang ausblieb. Nach einer Umfrage der "Bild"-Zeitung bei 27 Städten stehen derzeit nur Köln, Düsseldorf, Dresden und Wiesbaden in einem Rechtsstreit mit Eltern, die keinen Platz gefunden haben. Auch die meisten Bundesländer rechnen damit, den Bedarf zum 1. August decken zu können...“(Ende des Auszugs.)

Inzwischen hat sich der Trend in der Berichterstattung beträchtlich geändert. So berichtete der NDR in der vergangenen Woche, dass nicht nur in den neuen Bundesländern, in denen es bereits eine gute Versorgung gab, die Bilanz positiv sei . Im Westen gebe es ebenfalls eine spürbare Verbesserung, auch dort lägen die Zahlen jetzt nah am berechneten Bedarf, zitiert der Sender NDR info Regierungskreise. Ein Teil dieser Plätze werde derzeit noch mit Bundesgeldern fertig gestellt. Viele warteten aber nur noch auf die Betriebserlaubnis.

Ein ganz anderes Problem aber gerät jetzt vermehrt in den Focus der Medien: die Betreuung der Kinder in den Kitas. „Sonntag aktuell“ etwa kommentierte gestern (Auszug): „Stell dir vor, es gibt viele neue Kitas, und keiner arbeitet darin. Zugespitzt könnte man so die Situation der Träger von Kindertagesstätten beschreiben. Sie suchen dringend nach Personal. Ob Eltern in Zukunft die dringend benötigten Betreuungsplätze für ihre Kinder bekommen, hängt also davon ab, ob sich genug Menschen für diesen Beruf entscheiden...“ (Ende des Auszugs). In Düsseldorf etwa suchen allein die Wohlfahrtsverbände händeringend für das U3-Projekt 300 Erzieherinnen. Und in der „Welt“ war zu diesem Problem neulich zu lesen (Auszug): „...Denn Baden-Württemberg hat vor Kurzem beschlossen, dass fortan auch Kinderkrankenschwestern, Hebammen oder Krankengymnasten als Betreuer in den Kitas arbeiten dürfen. Und einige Bundesländer, Hamburg und Niedersachsen etwa, bilden in großer Zahl sogenannte sozialpädagogische Assistenten oder Linderpfleger aus: eine Art Erzieherausbildung light. . .“(Ende des Auszugs). Keine „light“-Ausbildung in den erzieherischen Berufen bildet dagegen seit Jahren in Nordhausen die „pro-vita-Akademie“ aus. Und was dort zu einer gediegenen Ausbildung gehört, kann man jeweils am „Tag der offenen Tür“ oder während der jährlichen Berufsstartmessen in der Wiedigsburghalle erleben. Dass sich zwischen diesen qualifizierten Erzieherinnen und jenen sehr viel flüchtiger ausgebildeten Betreuerinnen nicht nur ein pädagogisches Problem auftut, sondern auch eines den Verdienst betreffend, sei hier am Rande bemerkt, kann aber gravierend sein.

Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Verlautbarung der Stiftung der Universität Hildesheim, in der Kirsten Scheiwe, Professorin für Recht sozialer Dienstleistungen an der dortigen Universität feststellt: „Entscheidend ist neben dem Ausbau die Qualität der Kita und Tagespflege. In dieser Verlaubarung vom 26.07.13 heißt es u.a. (Auszug): „Durch den Rechtsanspruch erhöht sich der Druck zum bedarfsgerechten Ausbau auf Kommunen – einige sind sehr gut vorbereitet, an anderen Orten wird das Angebot nicht ausreichen. „Die Planungsverantwortung liegt beim öffentlichen Träger. Er ist in der Bringschuld, muss einen Platz finden und hatte mehrere Jahre Vorlaufzeit“, sagt Scheiwe. Vermutlich werden einige Eltern vor Verwaltungsgerichte ziehen.

Das Verhältnis von öffentlicher und privater Erziehung habe sich in den letzten Jahren in Deutschland gewandelt. „Im europäischen Vergleich ist die Bundesrepublik bei der frühkindlichen Erziehung eher ein Nachzügler. Wir nähern uns jetzt dem Modell von skandinavischen Ländern, Frankreich und Belgien an – in Belgien besuchten schon um 1900 etwa 60 % der über Dreijährigen eine Vorschule“, erklärt Kirsten Scheiwe. Sie forscht an der Uni Hildesheim über das Recht auf soziale Dienstleistungen und untersucht historisch-vergleichend die Kindergarten- und Vorschulentwicklung in Europa und den USA. Der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für Kinder ab drei (seit 1996) und für Kinder ab einem Jahr (ab 2013) markieren diesen Prozess ebenso wie die zunehmende Einführung von Ganztagsschulen. „Die Angebote öffentlicher Erziehung wurden erweitert. Statt sie gegeneinander auszuspielen, sollten öffentliche und private Erziehung in Deutschland als gemeinsame Verantwortung stärker verzahnt werden“, sagt Scheiwe.

Zugenommen habe der Bedarf an Unterstützung durch Jugendhilfeangebote. Familien werden zum Beispiel vermehrt durch Frühe Hilfen, Familienhebammen und Beratung unterstützt. „Aber auch Inobhutnahmen durch das Jugendamt und familiengerichtliche Sorgerechtseingriffe – staatliche Eingriffe zum Schutz des Kindeswohls – haben zugenommen. Die regionale Zusammenarbeit zwischen Gesundheitsämtern, Schulen, Jugendamt und Familiengericht sollte gestärkt werden, das ist auch ein Ziel des Bundeskinderschutzgesetzes.“

Eine Forschergruppe um Kirsten Scheiwe betrachtet längerfristige sowie aktuelle Entwicklungen historisch und institutionell. Wie haben sich Kindergärten und Vorschulen in Europa und Nordamerika seit 1850 entwickelt? Wie lassen sich heutige Unterschiede und Gemeinsamkeiten erklären? Vom 10. bis 12. Oktober 2013 tagen etwa 50 Vertreterinnen und Vertreter der Rechtswissenschaften, Soziologie, Geschichte und Politikwissenschaften an der Universität Hildesheim. Erstmals wird auf der internationalen Forschungskonferenz „Kindergarten and preschool developments in Europe and North America" die Zeitspanne seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts betrachtet. „Wo Kirche und Staat mit Erziehungsangeboten in starker Konkurrenz agierten, wurde die Ausbreitung von Betreuungsangeboten begünstigt“, so eine These. Bereits die Vorläuferkonferenz 2006 und das Buch „Child care and preschool development in Europe“ (Palgrave Macmillan) wurden stark nachgefragt.

„In der Debatte in der Bundesrepublik richtet sich der Fokus sehr auf die Erwerbstätigkeit von Frauen, im Mittelpunkt steht aber die Förderung von Kindern. Kinder sollen spielen, sich altersgemäß entwickeln und lernen können – nicht nur betreut werden. Die Qualität bei der Schaffung von Kita-Plätzen und auch in der Kindertagespflege ist entscheidend“, sagt Scheiwe. Allerdings seien die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung für Erzieherinnen und Erzieher derzeit „nicht angemessen“ und führen zu hoher Fluktuation, Fachkräftemangel und Engpässen.“


(Aus der Verlautbarung der Uni Hildesheim vom 26.07.13)

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