Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“
(Erscheinungstag: 4. Oktober 2022)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Nach
dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Vorratsdatenspeicherung in
Deutschland hat sich nach Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) auch
SPD-Innenpolitiker Lars Castellucci für eine Speicherung von
IP-Adressen für einen eng begrenzten Zeitraum ausgesprochen. Angesichts
steigender Deliktzahlen im Bereich der sexualisierten Gewalt gegen
Kinder müsse die Frage beantwortet werden, „warum wir in dem Bereich
nicht aufgeklärte Fälle haben, die eigentlich aufgeklärt werden könnten,
wenn man dieses Instrument nutzen würde“, sagte der stellvertretende
Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestages im Interview mit der
Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 4. Oktober 2022). Dann
müsse entweder eine Alternative benannt werden, die auch tragfähig sei
und zu Ergebnissen führe. „Oder man muss halt sagen, dass der Schutz der
Freiheitsrechte höher gewichtet wird als das Leid der Menschen, das wir
eigentlich verhindern oder mindestens aufklären könnten. Da entscheide
ich mich wie Ministerin Faeser dafür, den Sicherheitsbehörden solche
Instrumente an die Hand zu geben“, sagte Castellucci.
Das im
Koalitionsvertrag verabredete „Quick Freeze“-Verfahren beurteilte der
Sozialdemokrat zurückhaltend. So müssten die Daten, die eingefroren
werden sollen, erstmal vorhanden seien, sagte Castellucci mit Verweis
auf die unterschiedliche Speicherpraxis der Telekommunikationsanbieter.
Zudem sei es schon jetzt möglich, sich mit richterlichem Beschluss
anlassbezogen die Daten von einem Internetprovider geben zu lassen.
„Quick Freeze ist nur eine Verbesserung, wenn es wirklich schnell geht
und auch dann im Nutzen aus meiner Sicht begrenzt“, meinte der
Abgeordnete.
Das Thema werde in der Koalition „absehbar sehr
streitig“ diskutiert werden, prognostizierte der Innenpolitiker. Das
EuGH-Urteil habe zwar die bisherige Regelung eingestampft. Die
Vorschläge zur IP-Speicherung seien von dem Urteil aber gedeckt.
„Deswegen ist es auch berechtigt, jetzt darüber zu sprechen und
auszuloten, ob wir uns dazu durchringen können“, sagte Castellucci.
Das Interview im Wortlaut:
Das
Parlament: Der Europäische Gerichtshof hat jüngst die ohnehin
ausgesetzte deutsche Regelung zur Vorratsdatenspeicherung abgeräumt und
für europarechtswidrig erklärt. Wie bewerten Sie das Urteil?
Lars
Castellucci: Das ist ein gutes Urteil. Es ist zu respektieren, dass die
allgemeine und unterschiedslose Speicherung von Verkehrs- und
Standortdaten nicht möglich sein soll. Das Verhältnis von Freiheit und
Sicherheit muss in der Balance bleiben. Das ist mit der alten
Gesetzeslage nicht gelungen und das war auch absehbar. Jetzt haben wir
Klarheit durch das EuGH-Urteil und können neu in die Gesetzgebung
einsteigen.
Das Parlament: Mit dem Urteil hat das EuGH
Spielräume für die Speicherung von Daten betont. Aktuell wird in der
Politik vor allem über die Möglichkeit, anlasslos Daten zu IP-Adressen
zur Bekämpfung von Kriminalität zu speichern, diskutiert. Die Union
fordert das, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat Sympathien für
dieses Vorgehen, Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) nicht. Wie
stehen Sie dazu?
Lars Castellucci: Ich halte eine
Speicherung von IP-Adressen für einen eng begrenzten Zeitraum für
vertretbar. Wir müssen dann klar regeln, dass der Zugriff auf diese
Daten nur erfolgen kann, wenn es dafür einen Anlass gibt, also wenn es
sich um eine schwere Straftat handelt, und wenn ein Richter zustimmt.
Ich finde, bei schweren Straftaten stehen wir fast schon unter Zwang, zu
sagen: Wir tun alles, damit Aufklärung möglich ist.
Das Parlament: Was meinen Sie damit konkret?
Lars
Castellucci: Wir beobachten zum Beispiel einen deutlichen Anstieg der
Delikte im Bereich der sexualisierten Gewalt gegen Kinder im Netz. Da
muss die Frage beantwortet werden, warum wir in dem Bereich nicht
aufgeklärte Falle haben, die eigentlich aufgeklärt werden könnten, wenn
man dieses Instrument nutzen würde. Dann muss entweder eine Alternative
benannt werden, die auch tragfähig ist und zu Ergebnissen führt. Oder
man muss halt sagen, dass der Schutz der Freiheitsrechte höher gewichtet
wird als das Leid der Menschen, das wir eigentlich verhindern oder
mindestens aufklären könnten. Da entscheide ich mich wie Ministerin
Faeser dafür, den Sicherheitsbehörden solche Instrumente an die Hand zu
geben.
Das Parlament: Welche Rolle spielen denn IP-Adressen bei den Ermittlungen in diesem Bereich?
Lars
Castellucci: Aus den USA bekommen unsere Behörden beispielsweise vom
„National Center for Missing & Exploited Children“ regelmäßig und
ansteigend Hinweise auf mögliche Straftaten vor allem im Bereich der
Kinderpornographie. In diesem Jahr könnten es erstmals über 100.000
Hinweise sein. Dazu gibt es in der Regel IP-Adressen, die unsere
Behörden in die Lage versetzen, entsprechende Ermittlungen aufzunehmen.
Wir können nicht dauerhaft auf ausländische Dienste angewiesen bleiben,
bei denen uns dann egal ist, wie die zu ihren Daten kommen.
Das Parlament: Das setzt voraus, dass diese IP-Adressen auch einem Anschluss oder Gerät zugeordnet werden können...
Lars
Castellucci: Genau, im Moment haben wir da eine ungeregelte Situation.
Telekommunikationsanbieter gehen bei der Speicherung von IP-Adressen
unterschiedlich vor. Mittlerweile gibt es Anbieter, die überhaupt keine
IP-Adressen mehr speichern, weil es für ihre Prozesse, etwa die
Abrechnung, nicht mehr nötig ist. Daran sieht man, dass die technische
Entwicklung weitergeht. Darum müssen wir uns immer wieder neu anschauen,
was gesetzlich notwendig ist.
Das Parlament: Was
entgegnen Sie Kritikerinnen und Kritikern dieser Idee, etwa bei D64,
einem der SPD nahestehenden digitalpolitischen Verein? Dort wird die
IP-Speicherung als „Massenüberwachung“ abgelehnt – und gezieltere
Instrumente wie die Login-Falle gefordert.
Lars Castellucci:
Das sind alles hochrelevante Beiträge in einer Diskussion, in der man
zu einer Abwägung kommen muss. Aber auch bei der Login-Fall soll zu
einem bestimmten Zeitpunkt eine automatisierte Übertragung der
IP-Adresse stattfinden. Wenn die aber gar nicht gespeichert wird, dann
wird auch die Login-Falle nicht funktionieren.
Das
Parlament: Das würde dann aber gegen das im Koalitionsvertrag
vorgesehene „Quick Freeze“-Verfahren sprechen, bei dem die
Verbindungsdaten beim Vorliegen eines konkretem Anlasses sozusagen
„eingefroren“ werden sollen, bevor sie gelöscht werden.
Lars
Castellucci: Auch da müssten die Daten, die eingefroren werden sollen,
erstmal vorhanden seien. Und es ist schon jetzt möglich, sich mit
richterlichem Beschluss anlassbezogen die Daten von einem
Internetprovider geben zu lassen. Quick Freeze ist nur eine
Verbesserung, wenn es wirklich schnell geht und auch dann im Nutzen aus
meiner Sicht begrenzt.
Das Parlament: Das klingt so, als wäre für Sie die IP-Speicherung keine Ergänzung, sondern eine Alternative zu „Quick Freeze“.
Lars
Castellucci: Nein, ich würde diese Instrumente erstmal in den Raum
stellen und dann fragen, was kommt in welchem Fall in Betracht und unter
welchen Bedingungen. Wir werden das Thema in der Koalition absehbar
sehr streitig diskutieren. Ich sage aber klar: Das EuGH-Urteil hat zwar
die bisherige Regelung eingestampft. Die Vorschläge zur Speicherung von
IP-Adressen sind aber genau von diesem Urteil gedeckt. Deswegen ist es
auch berechtigt, jetzt darüber zu sprechen und auszuloten, ob wir uns
dazu durchringen können.
Das Parlament: Wie groß ist aus
ihrer Sicht der Handlungsdruck? Muss nun schnell ein Gesetzentwurf
kommen oder sollte erst die im Koalitionsvertrag angekündigte
„Überwachungsgesamtrechnung“ abgewartet werden?
Lars
Castellucci: Es gibt den unmittelbaren Druck von steigenden
Deliktzahlen, das halte ich für relevant. Überwachungsgesamtrechnung ist
ohnehin nicht meine Begrifflichkeit. Das hört sich für mich nach
Überwachungsstaat an, den man nun bilanzieren müsste. Wir leben aber
nicht in einem Überwachungsstaat, sondern in einem der freiesten Länder
der Welt. Und diese Freiheit muss man auch schützen. Ich glaube, wir
haben ein sehr hohes Schutzniveau der Privatsphäre. Dafür sollten wir
auch weltweit Werbung machen.
Das Parlament: Muss, ganz
allgemein gefragt, der freiheitliche Staat damit leben, dass es digitale
Räume und Kanäle gibt, die durch technische Gegebenheiten wie etwa
Verschlüsselung so gesichert sind, dass es schlicht keinen Zugriff für
Ermittler gibt?
Lars Castellucci: Was stimmt, und das ist in
der Frage enthalten, ist, dass wir tendenziell hinterherhinken. Wir
müssen aber am Ball bleiben. Ich würde es umgekehrt sagen: Dinge, die in
der analogen Welt nicht gehen, sollten auch in der digitalen Welt nicht
gehen. Das Internet ist kein rechtsfreier Raum.