. . . stand an den beiden letzten Tagen
am Beginn fast jeder Geschichte, die im Park des Kunsthauses
Meyenburg zu hören war, wie deren Abschlüsse vielfach mit dem Satz
endeten, „Und wenn sie nicht gestorben sind . . .“. Es fand dort
ein zweitägiges Märchenpicknick statt und als Besucher konnte man
an vielen Stellen und Ständen des Parks Märchenerzählern zuhören
oder Märchenaufführungen verfolgen, die selbst große und kleine
Zuhörer und Zuschauer in eine märchenhafte Welt zu entführen
vermochten. Und dieses „Es war einmal . . .“ steht nun auch am
Ende dieser märchenhaften Veranstaltung selbst und regt mich an,
eine ganz persönliche kleine Rückschau mit gewonnenen Eindrücken
und Einsichten zu halten. Mein Interesse an dieser Veranstaltung
teilte ich mit vielen anderen Erwachsenen, die ihren Sinn für
Märchen nicht verloren haben. Ich war am Samstag anlässlich der
Eröffnung
dieses Picknicks überrascht, welche Kenntnis und
Erinnerung auch sowohl der Sondershäuser Bürgermeister Joachim
Kreyer und Oberbürgermeister Dr. Klaus Zeh an Märchen mitbrachten.
Nicht nur an solchen, die man in Kindheitstagen hörte und lernte,
sondern auch an modernen Märchen. Und der mit dieser Veranstaltung
verbundene Märchen-Wettbewerb gab ihnen als Mitglied der Jury oder
als Gastgeber der Veranstaltung Gelegenheit, diese Kenntnis noch zu
erweitern. Immerhin waren es 193 erdachte Märchen, die als Ergebnis
der Einladung zu diesen Wettbewerb eingereicht wurden.
Nachzutragen in diesem Zusammenhang ist
die Tatsache, dass sich nicht nur Kinder an diesem Wettbewerb
beteiligten, sondern Menschen jeden Alters, die demzufolge in zwei
Gruppen gewertet wurden: Preisträger Kinder und Preisträger
Erwachsene. Dass sich unter letzteren auch Birgit Susemihl,
Pressesprecherin des Theaters Nordhausen befand, lässt erkennen, wie
breit gestreut das Spektrum der Bewerberinnen war. Und dann
waren es
an diesen beiden Tagen nicht nur Eltern, die mit ihren Kindern oder
Enkeln ins Märchenland des Kunsthaus-Parks gekommen waren, es waren
auch Menschen, die sich einfach in diese Märchenwelt entführen
lassen wollten.
Ich könnte das, was ich bei meinen
Besuchen des Parks an diesen beiden Tagen sah und erlebte, in eine
Bildergalerie fassen, zumal ich noch nie in einer Veranstaltung so
viele Situationen und Vorgänge erlebte, die mir wert schienen, im
Bild festgehalten zu werden. Damit aber würde ich einen Betrachter
mit diesen Bildern allein lassen, ohne Hilfestellung für
Hintergründe und Zusammenhänge. Die aber doch bemerkenswert sind,
wie ich meine. Und so mögen es wohl auch die Verfasser des Büchleins
gesehen haben, die darin die besten Märchen zusammengefasst hatten
und es während dieser Veranstaltung zum Kauf für 2 Euro anboten.
Nachdem das Sponsoring der Sparkassen der drei nordthüringer
Landkreise und der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen diesen
günstigen Preis ermöglichte.
Es waren viele Besucher, die an diesen
beiden Tagen in den Park kamen, trotzdem hätten es mehr sein können,
wie ich als Antwort auf meine diesbezüglichen Fragen von
Organisatoren und Regisseure hörte. Das Zusammentreffen von Beginn
der Schulferien und der des Märchenpark-Picknicks war wohl nicht
sehr glücklich gewählt, denn viele Kinder dürften mit ihren Eltern
schon auf der Fahrt in den Urlaub gewesen sein. Deshalb sind wohl
auch die Ankündigungen in den Medien unmittelbar vor der
Veranstaltung eher wirkungslos geblieben.
Über die Eröffnung dieser
Veranstaltung habe ich berichtet. Nicht erwähnt hatte ich, dass Dr.
Anja Eisner, Chefdramaturgin des Theaters Nordhausen, während des
Einführungsdialogs mit der Kunsthistorikerin
Susanne Hinsching, als
Jurymitglied bei dieser Eröffnung und zur Demonstration der
Qualität der eingesandten Märchen eines herausgegriffen hatte und
vorlas, das nicht unter den ausgezeichneten war: es stammte von Ines
Gast vom Jugendsozialwerk. Mit deren Namen sich doch ein Projekt
verbindet , das inzwischen weit über die Grenzen Nordhausens bekannt
ist: „Nordhäuser Treppenkäfer“. Und „Der Käferzug“ war
auch der Titel ihres Märchens, das sie eingereicht hatte. Und nun
von Dr. Eisner vorgelesen wurde. Es zeigt auch für jene, die das
Büchlein „Märchenhaft“ nicht kennen oder gar erwarben, das
bemerkenswerte Niveau der eingesandten Märchen. Hier ihr
mitgeschnittener Text:
„Der Käferzug“
Volker Bank lebte für seinen Job als
Bankangestellter. Frühmorgens der Erste und abends der Letzte, immer
vollständig vertieft in seine Aufgaben. Er bemerkte nichts von den
„süßen, wohlbekannten Düften, die
ahnungsvoll das Land
streiften“, er hatte kein Auge für die „auf und nieder
tanzenden Schneeflöckchen“, er sah weder die „roten Blätter
fallen“, noch die „grauen Nebel wallen“. Nur den Sommer gelang
es ihm nicht immer zu ignorieren. Wenn es gar zu heiß und drückend
wurde, konnten ihm schon einmal ein tiefer Seufzer über die Lippen
gleiten.
So verging der Frühling seines Lebens
und auch der Sommer, ohne dass jemals irgendetwas ihn ernsthaft von
seiner Leidenschaft für Zahlen auf dem Papier hätte lösen können.
Keine Null war ihm zu klein, kein Komma zu unbedeutend. Auf ihn war
in jeder Bankhinsicht Verlass.
Jedoch an einem dieser heißen
Sommertage, die die Luft zum Flirren und ihn ab und an zum Seufzen
brachten, geschah das Unerhörte. Etwas bewegte sich in einer der
Hitze angemessenen Langsamkeit über sein mit Zahlen übersätes
Blatt. Zunächst glaubte Volker Bank der Hitze wegen seinen Augen
nicht mehr trauen zu können. Warum sonst hätte die Zahl, auf der
sein Blick gerade klebte, plötzlich nicht mehr in Gänze zu
überblicken gewesen sein sollen. Volker Bank seufzte. Und er
blinzelte mit den Augen. Und da war es geschehen. Seine Augen fanden
nicht mehr zurück an die Stelle, die sie gerade verlassen hatten.
Wie auch, die Zahl hatte ja von ihnen noch nicht vollständig erfasst
werden können. Ein Teil fehlte. Und es war vollkommen unklar, ob es
sich dabei um eine belanglose Null hinter dem Komma oder irgendetwas
davor gehandelt hatte.
Volker Bank schwitzte. Er hatte sowieso
geschwitzt. Aber das war nicht der Rede wert gewesen, es war der
Sommerhitze geschuldet. Zu diesem Schwitzen gesellte sich nun ein
zweites, mit dem ersten überhaupt nicht vergleichbares, weil
unerhörtes, Schwitzen. Volker Bank schwitzte Blut und Wasser.
Ehrlich. Noch nie ist diese Phase wahrhaftiger gewesen als in diesem
Falle. Beweis genug sind die weiteren Entwicklungen.
Volker Bank verließ seinen Platz am
Bankschalter. Nicht als Letzter, nachdem alle anderen schon längst
gegangen waren, er verließ seinen Platz mitten am Tag. Ohne jede
Ankündigung, ohne erkennbaren Grund. Alle seine Kollegen und alle
Kunden starrten Volker Bank an. Hier war etwas im Gange, das so
unerwartet kam wie Schnee im Juli. Volker Bank verließ nicht nur
seinen Platz, er verließ auch das Haus. Er folgte instinktiv dem
Wesen, das sein Zahlenblatt gekreuzt hatte, das sein Leben aus der
Bahn gebracht hatte. Als er auf die Straße trat, wandte er seine
Schritte nach links. Er überquerte eine Straße, dann noch eine, und
unmittelbar danach fand er sich am Fuße einer Treppe wieder. Eine
schöne Treppe, eine breite Treppe, in einem spitzen Winkel auf ihn
zulaufend, als wollte sie ihn aufspießen. Abrupt blieb Volker Bank
stehen.
Da saß dieses seltsame Wesen, das
seinen Weg so nachdrücklich gekreuzt hatte, zu seinen Füßen, auf
der untersten Stufe der Treppe und war offenbar gerade im Begriff,
die nächste Stufe zu erklimmen. Volker Bank schaute genauer hin. Er
zählte sechs Beine und übersah auch die Punkte auf dem
halbkreisförmigen Rumpf nicht, der zudem von zwei Flügeln bedeckt
wurde. Am auffälligsten aber war der große Hut, aus dem zwei lange
Fühler schauten. Nach allem, was neben Zahlen in seinem Kopf hängen
geblieben war, musste es sich hier um einen Käfer handeln. Und er
war nicht allein. Ein ganzer Käferzug krabbelte im Gänsemarsch die
Treppe hinauf.
Volker Bank musste jetzt sehen, wohin
sie wollten. Er gab Acht, die Käfer nicht zu berühren und stieg die
Stufen daher nur langsam nach oben. Je höher er kam, desto weiter
öffnete sich sein Blick. Blumenübersäte Beete wurden sichtbar,
dicke Seile, die zwischen hohen Pfählen gespannt waren, ein sehr
hoher steiler Stein, an dem Menschen wie Käfer hinaufkletterten,
weiter entfernt ein Turm, der weit über das Land ragte. Der Lärm
der Stadt trat in den Hintergrund. Volker Bank hielt den Atem an. Er
spürte plötzlich den leichten Sommerwind, der seinen Schweiß
getrocknet hatte, der Duft der Blumen kitzelte in seiner Nase, der
unbefleckte blaue Himmel tat seinen Augen gut. Er setzte sich auf das
Rondell oberhalb der Treppe und atmete ganz tief, ganz bewusst ein.
Er spürte plötzlich sein Blut pulsieren. Er lebte!
Lange saß Volker Bank in Gedanken
versunken. Seine Kollegen, die ihm in Sorge und Verwunderung gefolgt
waren, waren gebannt auf den Treppenstufen stehen geblieben. In
Gänseformation wie die Käfer, die sich langsam aber gleichmäßig
nach oben bewegten. Es war klar, dass sie genau wussten, wohin sie
wollten. Sie öffneten Horizonte. (Ende des Märchens.)
Mich beeindruckte an dieser Geschichte
nicht nur sein imaginärer Inhalt, sondern auch die Linguistik, die
eigentlich heutzutage jeder Germanistin – und Susanne Hinsching ist
ja eine solche – Freude bereiten dürfte. Auch die in erwähntem
Büchlein enthaltenen Märchen sind ja in einem so sauberen Deutsch
gefasst, dass ich eine berufene Hand dahinter vermute. Denn Kinder im
Alter von durchweg zehn Jahren vermögen das kaum.
Wie dem auch sei, das Leben im Park an
diesen beiden Tagen war in der beobachteten Unbeschwertheit so
märchenhaft geprägt, dass man den Organisatoren dankbar sein
müsste, die dieses Erleben den Akteuren sowohl als auch den
Besuchern ermöglichten. Die Bilder entlang des Textes mögen es
verdeutlichen.
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