Seit
dem Pisa-Schock hat sich in Deutschlands Schulen eine Menge
verbessert:
weniger Jugendliche ohne Schulabschluss, mehr
Abiturienten, Aufstieg bei internationalen Leistungsvergleichen. Die
größte Baustelle aber bleibt die
Chancengerechtigkeit.Benachteiligte Kinder vermag Schule nicht ausreichend zu fördern.
Gütersloh, 11. Dezember 2014. Die Chancengerechtigkeit in den deutschen Schulsystemen macht zwar stetige, aber nur langsame Fortschritte. Das zeigt der Chancenspiegel, den die Bertelsmann Stiftung mit der Technischen Universität Dortmund und der Friedrich-Schiller-Universität Jena heute veröffentlicht. Weniger Jugendliche verlassen die Schule ohne Abschluss, und der Anteil der Hochschulzugangsberechtigten steigt. Der Bildungserfolg jedoch ist nach wie vor stark von der sozialen Herkunft abhängig. Neuntklässler aus höheren Sozialschichten haben in Mathematik bis zu zwei Jahre Vorsprung vor ihren Klassenkameraden aus bildungsferneren Familien.
Der Chancenspiegel analysiert jährlich, wie gerecht und leistungsstark das jeweilige Schulsystem der Bundesländer ist. Bildungsforscher vergleichen dafür die Durchlässigkeit der Schulsysteme sowie die Möglichkeiten der Schüler, sich gut ins Schulsystem zu integrieren, fachliche Kompetenzen zu entwickeln und gute Abschlüsse zu erhalten. Die diesjährige Neuauflage bestätigt: Die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind groß, aber kein Land ist in allen Bereichen Spitze oder Schlusslicht. Im Ausmaß überraschend ist, dass Bildungschancen auch innerhalb der einzelnen Bundesländer regional höchst ungleich verteilt sind.
Die bundesweit positiven Trends: Seit dem Vorjahr sank erneut der Anteil der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss. Verließen 2011 noch 6,2 Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss, waren es 2012 nur noch 6,0 Prozent (2009: 6,9 Prozent). Gestiegen ist hingegen der Anteil der Jugendlichen, die Fachhochschul- bzw. Hochschulreife erlangten. 2011 gelang dies 51,1 Prozent der Schulabgänger, 2012 bereits 54,9 Prozent (2009: 46,7 Prozent). Geringe Fortschritte stellt der Chancenspiegel bei schulischen Ganztagsangeboten fest. 2012 besuchten 32,3 Prozent der Schüler eine Ganztagsschule. Dieser Anteil hatte 2011 bei 30,6 Prozent gelegen. Der insgesamt langsame Ausbau deckt bei Weitem nicht die Nachfrage der Eltern nach Ganztagsplätzen; sie liegt bei 70 Prozent. Im gebundenen Ganztag – also in Schulklassen, die über den gesamten Tag gemeinsam als Klassenverband unterrichtet werden – lernen lediglich 14,4 Prozent der Schüler. Genau diese Ganztagsform, so die Bildungsforschung, bietet jedoch gute Rahmenbedingungen dafür, alle Schüler individuell optimal zu fördern. Der gebundene Ganztag kann potenziell am ehesten die Nachteile derjenigen Kinder ausgleichen, die in ihren Familien nur geringe Unterstützung erfahren. Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, forderte deshalb einen erheblich schnelleren Ausbau der Ganztagsangebote: "Ein Rechtsanspruch wäre der entscheidende Hebel, damit genügend Ganztagsschulen eingerichtet und bessere Konzepte entwickelt werden."
Zwischen Fortschritt und Stagnation sieht der Chancenspiegel die Teilhabechancen von Schülern mit Förderbedarf. Zwar gehen immer mehr Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf auf eine Regelschule, der Anteil der Sonderschüler jedoch bleibt konstant. "Dieses Doppelsystem schließt nach wie vor fast 5 Prozent aller Schüler vom Regelschulsystem aus. Außerdem bindet es wichtige Ressourcen, die für guten inklusiven Unterricht in den Regelschulen gebraucht werden", sagte Dräger.
Erstmals untersucht der Chancenspiegel nicht nur die Länderebene, sondern auch die Kreise und kreisfreien Städte. Die Bildungschancen sind auf der kommunalen Ebene höchst ungleich verteilt. In Bayern etwa verlassen landesweit nur 4,9 Prozent der Jugendlichen ohne Abschluss die Schule. Regional allerdings schwankt dieser Anteil zwischen 0,7 Prozent und 12,3 Prozent – auch bedingt durch das jeweilige Schulangebot vor Ort. Beispiel Sachsen: Hier machen 44,7 Prozent der Schüler Fachabitur oder Abitur. Die kommunale Spannbreite liegt zwischen 32 Prozent und 63 Prozent. "Eine stärkere Unterstützung der regionalen Schulentwicklung durch die Länder ist ratsam. So kann der Entstehung von Ungleichheit begegnet werden, unabhängig von den kommunalen Finanzlagen", sagte Prof. Bos von der TU Dortmund.
Die ausbaufähige Datenlage erschwerte erneut die Erstellung des Chancenspiegels. Auf regionaler Ebene sind beispielsweise nur Daten für Durchlässigkeit und die Zertifikatsvergabe flächendeckend verfügbar gewesen. Auch auf Länderebene gibt es Schwierigkeiten. Hier werden zwar jährlich Daten zur Kompetenzförderung erhoben, echte Zeitreihen sind aber aufgrund der erhobenen fachlichen Schwerpunkte sowie der unterschiedlichen untersuchten Altersgruppen nicht abbildbar. "Wenn es uns wirklich wichtig ist, die Gerechtigkeit der Schulsysteme über größere Zeiträume hinweg untersuchen und einschätzen zu können, müssen seitens der amtlichen Statistikstellen verlässlichere und aussagekräftigere Daten bereitgestellt werden", betonte Prof. Berkemeyer von der Universität Jena. Nur auf dieser Basis könne die Bildungsforschung erklärende Analysen liefern und diese seien die Voraussetzungen dafür, dass auch Bildungspolitik erheblich zielgenauere Konzepte zur Weiterentwicklung der Schulsysteme erarbeiten könne.
Über den Chancenspiegel
Der Chancenspiegel ist ein ergänzendes Instrument der Bildungsberichterstattung. Ziel ist es, Chancengerechtigkeit konkret zu erfassen und vergleichbar zu machen, damit Wissenschaft und Politik dieses zentrale Thema besser diskutieren und bewerten können. Der Chancenspiegel basiert auf einem umfassenden Verständnis von Chancengerechtigkeit der Schulsysteme, das unterschiedliche Theorieansätze zusammenführt und operationalisiert. In den vier Dimensionen Integrationskraft, Durchlässigkeit, Kompetenzförderung und Zertifikatsvergabe bewertet er ausgewählte Indikatoren aus den amtlichen Statistiken und empirischen Leistungsvergleichsstudien. Ein Gruppenvergleich stellt die Chancenprofile der Bundesländer dar. Der Chancenspiegel wird in den kommenden Jahren fortgeschrieben. Herausgeber sind die Bertelsmann Stiftung, das Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Technischen Universität Dortmund und das Institut für Erziehungswissenschaft (IfE) der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Maria Droop Pressestelle Bertelsmann Stiftung
Eine
Mitteilung des idw – wissenschaftlichen Dienstes am 11.12.14
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