Donnerstag, 26. Juni 2014

WSI-Tarifarchiv erinnert an „Meilenstein der Tarifgeschichte“

Vor 30 Jahren: Einstieg in die 35-Stunden Woche nach wochenlangem Streik

Vor 30 Jahren streikten Beschäftigte in der Metallindustrie sieben Wochen für die Einführung der 35-Stunden-Woche. In der Druckindustrie streikten die Beschäftigten für dieselbe Forderung 12 Wochen lang. Im Ergebnis setzten die IG Metall am 28.6.1984 und die IG Druck und Papier am 6.7.1984 in einem ersten Schritt die Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 40 auf 38,5 Stunden bei vollem Lohnausgleich durch. „Dieser Arbeitskampf brachte einen ersten Durchbruch für die Gewerkschaften auf dem Weg zur 35-Stunden-Woche“, sagt Dr. Reinhard Bispinck, der Tarifexperte des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI).

Viele Branchen folgten in den Jahren danach diesem Beispiel. Es dauerte rund ein Jahrzehnt, bis 1995 die 35-Stunden-Woche als tarifliche Wochenarbeitszeit in der Metallindustrie und auch in der Druckindustrie endgültig durchgesetzt werden konnte. „Der harte Arbeitskampf von 1984 trug maßgeblich dazu bei, dass die weiteren Verkürzungsschritte ohne Streiks durchgesetzt werden konnten“, ist sich der WSI-Tarifexperte sicher.

Aktuell gewinnt das Thema „Arbeitszeit“ erneut stark an Bedeutung: „Im Zentrum der Diskussion“, so der Forscher, „steht die Gestaltung der Arbeitszeit im Lebensverlauf und hier insbesondere die Möglichkeiten, wie flexiblere und auch kürzere Arbeitszeiten im Interesse der Beschäftigten gestaltet werden können.“

– Hintergrund –
Nach Durchsetzung der Gewerkschaftsforderung der 40-Stunden-Woche in den 1960er Jahren war die (Wochen-)Arbeitszeit für eine Weile von der tarifpolitischen Tagesordnung verschwunden. Doch bereits seit Mitte der 1970er Jahre hatten die Gewerkschaften das Thema „Arbeitszeitverkürzung“ wieder aufgegriffen. Dabei spielten verschiedene Argumente eine Rolle: Angesichts der verschärften Rationalisierung und der damit einhergehenden Leistungsverdichtung sollten kürzere Arbeitszeiten einen Beitrag zur Begrenzung der steigenden Arbeitsbelastungen und damit zur Humanisierung der Arbeit leisten. Zugleich sollte damit der Krise auf dem Arbeitsmarkt nach der Rezession 1974/75 entgegengetreten werden: Sicherung von Beschäftigung und Schaffung neuer Arbeitsplätze waren ein zentrales Ziel gewerkschaftlicher Arbeitszeitforderungen. Und schließlich sollten kürzere Arbeitszeiten auch mehr Spielraum für die individuellen Interessen und gesellschaftlichen Bedürfnisse der Beschäftigten außerhalb der Erwerbsarbeit schaffen.

– Vorläufer –
Einen ersten Anlauf zur Durchsetzung der 35-Stunden-Woche unternahm die IG Metall 1978/79 in der Eisen- und Stahlindustrie, konnte sich damit allerdings nicht durchsetzen. Nach einem 6-wöchigen Streik einigten sich die Tarifparteien auf eine Verlängerung des Jahresurlaubs auf 6 Wochen, Freischichten für ältere Beschäftigte und Schichtarbeiter. Das Thema war damit aber nicht erledigt. Insbesondere mit dem Kriseneinbruch 1982/83 nahm die gewerkschaftliche Diskussion um Arbeitszeitverkürzungen als tarifpolitische Offensive zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit wieder an Fahrt auf. Während einige DGB-Gewerkschaften auf eine Verkürzung der Lebensarbeitszeit setzten, orientierten die IG Metall, die IG Druck und Papier, die Gewerkschaft Holz und Kunststoff (GHK), die Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen (HBV) und die Deutsche Postgewerkschaft (DPG) auf die Verkürzung der Wochenarbeitszeit.

– Ablauf und Einigung im Tarifkonflikt 1984 – Die IG Metall kündigte zum Jahresende 1983 die tariflichen Arbeitszeitregelungen und forderte die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Die Arbeitgeber lehnten dies ab und boten stattdessen eine tarifliche Vorruhestandsregelung sowie Regelungen über mehr Flexibilität in der Arbeitszeit an. Im Dezember 1983 fand die erste Runde regionaler Verhandlungen statt. Nach insgesamt fünf Verhandlungsrunden und zwei erfolglosen Spitzengesprächen auf Bundesebene erklärte die IG Metall im April das Scheitern der Verhandlungen.

Nach Urabstimmungen mit jeweils über 80 % Zustimmung begann am 14.5.1984 der Streik in Nordwürttemberg/Nordbaden und am 21.5. in Hessen. Nach einem erneuten Spitzengespräch wurden am 24.5. die Verhandlungen in Nordwürttemberg/Nordbaden wieder aufgenommen. Nach weiteren vier Runden begann am 20.6. für dieses Tarifgebiet die „Besondere Schlichtung“ unter Vorsitz des ehemaligen Verteidigungsministers Georg Leber (SPD) und des Arbeitsrechtsprofessors Bernd Rüthers.

Der dort erarbeitete Einigungsvorschlag vom 28.6. sah vor: Die Wochenarbeitszeit beträgt im betrieblichen Durchschnitt 38,5 Stunden. Sie kann aber in einer Spanne zwischen 37 und 40 Stunden flexibel auf die Beschäftigten verteilt werden. Diese Flexibilisierung der Arbeitszeit entsprach einer zentralen Forderung der Metallarbeitgeberverbände. In einer zweiten Urabstimmung sprachen sich rund 54 bzw. 52 % der IG Metall-Mitglieder in Nordwürttemberg/Nordbaden bzw. Hessen für die Annahme des Ergebnisses aus. Am 3. bzw. 5.7. wurde die Arbeit wieder aufgenommen. Insgesamt waren 57.500 Beschäftigte an den Streiks beteiligt, die Arbeitgeber sperrten 155.000 Beschäftigte über mehrere Wochen von der Arbeit aus. Die Ergebnisse wurden auch für die anderen regionalen Tarifgebiete übernommen.

Die IG Druck und Papier hatte für die Druckindustrie neben der 35-Stunden-Woche auch Forderungen zum Rationalisierungsschutz aufgestellt. Nach mehreren ergebnislosen Verhandlungen scheiterte ein erstes Schlichtungsverfahren. Nach einer Urabstimmung mit 83 % Zustimmung begannen am 12.4. die Arbeitskampfmaßnahmen, die sich über 12 Wochen erstreckten. 46.000 streikende Beschäftigte waren daran beteiligt. Erst am 5.6. begannen unter Vorsitz des CDU-Politiker Kurt Biedenkopf neue Schlichtungsverhandlungen. Sein Einigungsvorschlag scheiterte am Einspruch der Druckarbeitgeber. Deren Vorschlag, das Metallergebnis zu übernehmen, wurde von der Gewerkschaft abgelehnt. Am 6.7. einigten sich die Tarifparteien auf die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 38,5 Stunden. Anders als in der Metallindustrie gilt diese Arbeitszeit für jeden Beschäftigten und nicht nur im Betriebsdurchschnitt. Flexible Arbeitszeitregelungen können auf Basis von Betriebsvereinbarungen festgelegt werden.

– Die weiteren Schritte –
In zwei weiteren Tarifrunden in den Jahren 1987 und 1990 gelang es der IG Metall jeweils ohne Arbeitskampf weitere Stufen der Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen. Im Jahr 1995 wurde endgültig die 35-Stunden-Woche als tarifliche regelmäßige Wochenarbeitszeit in der (westdeutschen) Metallindustrie eingeführt. Dies gelang allerdings außer in der Druckindustrie nur wenigen anderen Tarifbereichen.
In Ostdeutschland konnte die IG Metall im Jahr 2003 einen Stufenplan für die 35-Stunden-Woche in der Stahlindustrie durchsetzen. In der ostdeutschen Metallindustrie musste sie im selben Jahr einen zweiwöchigen Streik für dieses Ziel ohne Ergebnis abbrechen.

– Der aktuelle Stand –
Aktuell beträgt die tarifliche Wochenarbeitszeit in der Gesamtwirtschaft 37,7 Stunden. In Westdeutschland liegt sie mit 37,5 Stunden deutlich unter dem Wert für Ostdeutschland von 38,6 Stunden.
(Siehe Tabelle im Internet: 
http://www.boeckler.de/wsi-tarifarchiv_4831.htm
Rainer Jung Abt. Öffentlichkeitsarbeit
Hans-Böckler-Stiftung (Eine Mitteilung des idw – wissenschaftlichen Dienstes am 25.06.2014)


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