„Tor und Tür“ - Gedanken zu einer Grafik von Dieter Kerwitz
Auch Dieter Kerwitz in den 80ern ein wenig systemkritisch?
Vor über 25 Jahren, noch vor der Wende - im Januar 1989 – baten mich Freunde eine Grafik zum 40. Geburtstag eines Dozenten an der TU Magdeburg zu beschaffen. Und als damals noch Nordhäuser führte mich der Weg nach Rüdigsdorf zu Dieter Kerwitz. Nach gutem Gespräch und langem Suchen entschied ich mich für die abgebildete Grafik „Tor und Tür“. Dieter Kerwitz hatte damals, heute würde man sagen „eine Phase“, wo diverse Tore und Türen seine Blätter füllten. Die Aquatinta Radierung wurde überreicht mit folgender „Bildinterpretation“, so wie man es halt in der EOS „Wilhelm von Humboldt“ gelernt hatte. Aus jetziger Sicht – 25 Jahre nach der Wende – eine sehr gewagte und nur für sehr enge Freunde bestimmte Interpretation. Aber – und dies scheint mir wesentlich – man konnte eine Bewegung spüren, wenn schon keinen Durchbruch, dann aber vielleicht einen Aufbruch. Hier also der damalige Text:
Gedanken zu
„Tor und Tür“ (Dipl.-Graphiker Klaus-Dieter Kerwitz,Nordhausen 1983 16/20)
heute:
99734 Rüdigsdorf
Wolfsgasse 5
03631 / 98 40 91
Ein Bild – erster Eindruck möglicherweise ein wenig abstoßend, vielleicht etwas zu düster, zu geometrisch, auch nur aus konstruktiven Elementen bestehend – also nichts für das Wohnzimmer, vielleicht Arbeitszimmer in der Mansarde, nichts, womit man Gäste begrüßt.
Und dennoch.
Tor und Tür, sicher beides Elemente, die eben nicht nur schließen, sondern auch öffnen können, den Weg frei geben sollen, uns durchlassen.
Und die Zeit – 1983, Zeit des atomaren, raketengestützten Nachrüstens.
Und das Land – die DDR, östlich des „eisernen Vorhanges“ oder Deutschland, geteilt durch die Grenze der Systeme.
Und der Künstler – Kerwitz, heute im Januar 1989 DDR-weit bekannt, aber auch damals 1983 nicht unbedingt systemkonform ... wie es halt so war.
Dominierend und drohend – die beiden quadratischen Öffnungen, vielleicht Augen, vielleicht Orwell, „1984“, „.... big brother is watching you“, vielleicht die Staatssicherheit oder der BND, sicher aber das SYSTEM. Beide ganz stark, ängstigend, aus dem Dunklen schauend, unpersönlich, eben SYSTEM.
und nochmals ein DENNOCH.
In den unteren Feldern des Tores, der Tür – links, schwarz STACHELDRAHT – die Grenze, die Mauer, das Trennende, das UNÜBERWINDLICHE ?? In der Mitte unten: Bricht der Draht ab, hat er seine Stacheln verloren, ist er mutiert zu einem in der Entstehung befindlichen Seil, an das man sich halten kann, das vielleicht in ferner Zukunft verbindet ? Und in der Mitte oben: ein Muster wie vom Borkenkäfer geschaffen, eben typisch alte Tür, die auch etwas hängt, deren Scharniere über die Zeit nicht mehr parallel und fest schließen, sich drehen. Aber was für ein Muster ?
EINE TAUBE, DIE EINEN ÖLZWEIG TRÄGT !
Können dies die Augen droben sehen? Man könnte meinen, die unteren Felder liegen im toten Winkel: „Big brother can’t watch it“ oder eben nicht „1984“, sondern erst 1983. Zwar Auf- und Nachrüstung, PERCHING-2, SS-20 – und doch, es bewegt sich etwas zwischen den Systemen. Man will „Schwerter zu Pflugscharen schmieden“ oder „DEN FRIEDEN WOLLEN“. Richtig, so steht es auf dem rechten unteren Feld. Und auch die Düsternis, die Finsternis hat ein ganz wenig von der Tiefe, der Schwere verloren. Sicher, es ist noch kein Sonnenaufgang, noch keine lichte, von jeglicher Bedrohung freie Zukunft. Wird es die je geben? Aber es keimt Hoffnung, es scheint heller zu werden.
Und „DEN FRIEDEN WOLLEN“ heißt ja noch lange nicht, „DEN FRIEDEN AUCH WAGEN“ ! Der Hoffnung gebende Gedanke – durchgestrichen, überkritzelt, aber nicht einfach und mit starkem, sicheren Strich durchgestrichen, sondern mehr diesen Gedanken kaschiert, ein wenig unsichtbar, unleserlich gemacht – falls doch „Big brother ......“ Oder ist die Zeit vielleicht noch nicht reif? Zeigt der ebenfalls ein wenig zitternde Pfeil nicht nach links, auf den Stacheldraht?
Und kann die Tür sich zu uns, dem Betrachter öffnen? Sie kann es nicht, wird von der rechten Torhälfte bedeckt, gehindert. Geht sie vielleicht nach hinten auf? Besser auch nicht, denn unten, ist es die Türschwelle oder scheint unter der Tür, durch diesen Spalt über der Schwelle die düstere Schwärze hin
durchzuscheinen, fast hervorzuquellen?
Hindern die großen Tore der SYSTEME die kleine DEUTSCHE TÜR am Öffnen?
Wieder 1983 – wer konnte denn durch das kleine innerdeutsche Türchen, falls er nicht die Erlaubnis des SYSTEMS hatte, NSW-Reisekader war, oder geschickt wurde, als Vertreter des MfS, der Abwehr, als Kämpfer an der unsichtbaren Front, an vorderster Front mit dem Klassenfeind? Kleiner Grenzverkehr – noch Zukunft, nur im Ansatz, nur Rentner, die gern auch fortbleiben durften, dann als Kostenfaktor nicht mehr zählten. Fahrten zu besonderen Anlässen – ebenfalls noch Zukunft.
Und nochmals ein DENNOCH. Trotz der Düsternis, der fast uns anspringenden Kälte, scheint Bewegung in den Toren zu sein, als würde die rechte sich schon ein wenig nach vorn bewegen, vielleicht doch mehr „DEN FRIEDEN WOLLEN“ als den Stacheldraht weiter und enger zu ziehen. Und auch links – der Pfeil zeigt nach rechts, eindeutig und ist ebenfalls unterbrochen, hat einen Versatz. Es arbeitet in und zwischen den SYSTEMEN. Es geht in Richtung Frieden, in Richtung Öffnen des Tores und der Tür.
Es gab im Januar 1989 noch kein Kunsthaus Meyenburg und auch keinen KUNSTHAUS MEYENBURG Förderverein und sicher waren Gerd Mackensen und Dieter Kerwitz keine Systemkritiker oder wie man heute gern sagt „Dissidenten“. Es gab seit Beginn der 80er ein gewisses „Brodeln“, eine „Unruhe unter der Decke“. Und so sahen eben kritische Geister auch in den Werken dieser Nordhäuser Künstler Systemkritik und schöpften Hoffnung, dass sich Türen öffnen mögen. Heute, wo Jeder, der es sich finanziell leisten kann, fahren kann wohin er mag, ist solch ein Text fast schon ein Dokument einer vergangenen Zeit.
In diesem Sinne – nach dem Begehen des Jubiläumstages am 10. Juli und vor der Eröffnung der Ausstellung zum Jubiläum – nochmals Dieter Kerwitz noch viele glückliche Jahre und für alles, was er angehen möchte, immer offene Türen.
Dr. Wolfgang R. Pientka Vorsitzender des KUNSTHAUS MEYENBURG Fördervereins
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