Montag, 1. September 2014

Gedenken zum Beginn des Zweiten Weltkrieges

In Nordhausen gedachte man heute vor der Stele am Rathaus des Beginns des Zweiten Weltkriegs. Oberbürgermeister Dr. Klaus Zeh hielt dabei eine Ansprache, die dem Anlass des Gedenkens angemessen war. Da sich die Sitzgelegenheiten, auf die ich angewiesen bin, im Rücken des Redenden befanden, vermochte ich deren Inhalt nicht zu verstehen. Dabei bleibt mir festzuhalten, dass ich wohl der älteste Teilnehmer dieser Gedenkveranstaltung war, der auch noch eine eigene Erinnerung an den Ausbruch dieses 2. Weltkriegs hat. Und ich bedauere ganz allgemein, dass sich die Zahl der wenigen Teilnehmer, die sich zu diesem Gedenken an der Stele eingefunden hatten, nahezu ausschließlich auf Vertreter von Parteien, Verwaltungen und der Kirche beschränkten.

Dass ich also von der Ansprache des Oberbürgermeisters so gut wie nichts verstehen konnte, beeinträchtigt indessen mein eigenes Gedenken nicht, liegt mir doch die Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx vor, die er gestern bei der Eucharistiefeier in Gleiwitz (Polen) hielt. Dort hatte am 31. August 1939 ein fingierter Überfall auf den Sender Gleiwitz den Nazis den Vorwand für den Überfall auf Polen geliefert. Kardinal Marx wurde übrigens bei den Gedenkveranstaltungen im polnischen Gleiwitz von Bischof Wolfgang Ipolt (Görlitz) begleitet, der bekanntlich als Dompfarrer mehrere Jahre in Nordhausen wirkte.

Hier also die Ansprache des Kardinals:
Liebe Schwestern und Brüder!
Dass wir hier als Deutsche und Polen und vor allem auch als Christen
gemeinsam in Gleiwitz, wo vor genau 75 Jahren der Zweite Weltkrieg begann,
miteinander Eucharistie feiern, scheint vielen wie ein Wunder im Rückblick
auf die schreckliche Epoche des 20. Jahrhunderts. Aber ist es wirklich ein
Wunder? Ist es nicht ureigene Aufgabe der Kirche, Wege der Versöhnung und
des Friedens im Geist des Evangeliums zu ermöglichen? Ist es nicht auch ein
Zeichen dafür, dass die Kirche durch alle geschichtlichen Turbulenzen,
Tragödien und Verwundungen hindurch ihre eigentliche Sendung, Zeugin zu
sein für die Möglichkeit von Versöhnung, Hoffnung und neuer Gemeinschaft
wirklich lebt? Wenn die Kirche nicht Zeichen der Hoffnung für alle Menschen
ist, hätte sie nicht dann ihre Sendung verraten? Dennoch wissen wir, wie
schwierig und anspruchsvoll dieser Weg in den vergangenen Jahrhunderten
war – auch für uns als Christen.
Ich frage mich als einer, der nach dem Krieg geboren wurde, oft, wie es
möglich war, dass in einem Land, das durchweg christlich geprägt schien, wo
die überwältigende Mehrheit der Menschen getauft war, die Zehn Gebote und
die Weisungen Jesu kannte, wie solche Verbrechen geschehen und ein
mörderischer Krieg entfesselt werden konnte. Es stimmt nicht, dass das
Erschrecken mit dem Abstand der Zeit geringer würde, nein, der Schrecken
wächst eher und das Unverständnis und die Fragen. Umso mehr ist die heutige
Erinnerung auch eine Aufforderung an uns alle, niemals diese eigentliche
Sendung der Kirche zu vergessen: einzutreten für das Heil aller Menschen,
eine Einladung an alle Völker und Nationen zu sein, zum Berg Zion zu pilgern,
Zeichen zu sein für die Einheit der ganzen Menschheitsfamilie, wie es der
Prophet Jesaja in seiner großen Vision schildert.

Der Zweite Weltkrieg ging ja über alle Vorstellung, was ein Krieg ist, weit hinaus. Es ging
um Unterdrückung und Vernichtung, Vergewaltigung und Zerstörung. Dass dies von
Deutschland ausging, erschüttert uns auch als Kirche in Deutschland bis heute. Und betroffen
stehen wir vor der Tatsache, dass der Weltkrieg damals von der Kirche in unserem Land nicht
als Unrecht geächtet wurde.
Dass Menschen im Geist des Evangeliums, trotz solcher Erfahrungen neu aufgebrochen sind,
Wege der Versöhnung zu gehen, das allerdings dürfen wir als ein Wunder der Gnade Gottes
bezeichnen. Und so ist das Werk der deutsch-polnischen Versöhnung aus der Architektur des
europäischen Hauses nicht wegzudenken. Zu den Baumeistern gehören Kardinal Kominek,
der Autor des Briefes der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder, und vor allem
auch der unvergessene heilige Johannes Paul II. Aber ich möchte auch die vielen Menschen
erwähnen, die nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen: Die Schüler und Jugendlichen, die
Studenten und all die Männer und Frauen aus den Kirchengemeinden, die die Partnerschaft
zwischen Deutschland und Polen pflegen und lebendig gestalten, auch für die Zukunft.
Versöhnung im Geist des Evangeliums ist für die Kirche Verpflichtung, aber dennoch auch
eine große Herausforderung. Es geht auch darum, sich der Wahrheit der Geschichte zu stellen,
das Gedächtnis zu reinigen, aufmerksam und sensibel in der Begegnung miteinander
umzugehen und die Gemeinschaft je neu zu pflegen und weiterzuentwickeln.
Nichts war und ist einfach selbstverständlich, sondern tägliche Gabe und Aufgabe. Das gilt
auch für die Beziehung zwischen Deutschen und Polen, zwischen katholischer Kirche in
Deutschland und katholischer Kirche in Polen. In einem sich vereinigenden Europa haben wir
als Kirche einen Beitrag zu leisten für Gerechtigkeit, Frieden, Versöhnung. Wir haben neuen
Abgrenzungen und Nationalismen entgegenzutreten und in unserem Leben und Arbeiten, in
unserem Beten und in unseren Gottesdiensten den gemeinsamen Pilgerweg aller Völker zu
bezeugen und dazu einzuladen.
Die Kirche und die Kirchen dürfen niemals mehr Instrumente des Gegeneinanders der Völker
sein, keine Werkzeuge der Exklusion, sondern Brückenbauer, Versöhner, Friedensstifter, wie
es dem Geist der Seligpreisung entspricht. Das gilt auch in ökumenischer und darüber hinaus
in interreligiöser Perspektive. Die aktuellen Erfahrungen von Krieg, Terror, Gewalt im Irak,
Syrien und auch in der Ukraine, fordern uns als Christen heraus, ein engagiertes Zeugnis zu
geben für einen gerechten Frieden und die Achtung der Würde des Menschen.
Wir sollten deshalb diesen Gottesdienst nicht feiern ohne uns zu verpflichten, den
gemeinsamen Weg kraftvoll weiterzugehen, gemeinsam zu überlegen und zu bedenken, was
wir als Kirche – gerade als katholische Kirche, die universal alle Völker umfasst – tun können
und tun müssen, um diesen Geist für heute lebendig zu halten. Dazu sind gerade wir Bischöfe
aus Polen und Deutschland im Kontext eines vereinten Europas aufgerufen. Der heutige Tag
ist deshalb Rückblick, Erinnerung, aber vor allem Ausblick und Ermutigung!

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