Dass ich also von der Ansprache des Oberbürgermeisters so gut wie nichts verstehen konnte, beeinträchtigt indessen mein eigenes Gedenken nicht, liegt mir doch die Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx vor, die er gestern bei der Eucharistiefeier in Gleiwitz (Polen) hielt. Dort hatte am 31. August 1939 ein fingierter Überfall auf den Sender Gleiwitz den Nazis den Vorwand für den Überfall auf Polen geliefert. Kardinal Marx wurde übrigens bei den Gedenkveranstaltungen im polnischen Gleiwitz von Bischof Wolfgang Ipolt (Görlitz) begleitet, der bekanntlich als Dompfarrer mehrere Jahre in Nordhausen wirkte.
Hier also die Ansprache des Kardinals:
Liebe
Schwestern und Brüder!
Dass
wir hier als Deutsche und Polen und vor allem auch als Christen
gemeinsam
in Gleiwitz, wo vor genau 75 Jahren der Zweite Weltkrieg begann,
miteinander
Eucharistie feiern, scheint vielen wie ein Wunder im Rückblick
auf
die schreckliche Epoche des 20. Jahrhunderts. Aber ist es wirklich
ein
Wunder?
Ist es nicht ureigene Aufgabe der Kirche, Wege der Versöhnung und
des
Friedens im Geist des Evangeliums zu ermöglichen? Ist es nicht auch
ein
Zeichen
dafür, dass die Kirche durch alle geschichtlichen Turbulenzen,
Tragödien
und Verwundungen hindurch ihre eigentliche Sendung, Zeugin zu
sein
für die Möglichkeit von Versöhnung, Hoffnung und neuer
Gemeinschaft
wirklich
lebt? Wenn die Kirche nicht Zeichen der Hoffnung für alle Menschen
ist,
hätte sie nicht dann ihre Sendung verraten? Dennoch wissen wir, wie
schwierig
und anspruchsvoll dieser Weg in den vergangenen Jahrhunderten
war
– auch für uns als Christen.
Ich
frage mich als einer, der nach dem Krieg geboren wurde, oft, wie es
möglich
war, dass in einem Land, das durchweg christlich geprägt schien, wo
die
überwältigende Mehrheit der Menschen getauft war, die Zehn Gebote
und
die
Weisungen Jesu kannte, wie solche Verbrechen geschehen und ein
mörderischer
Krieg entfesselt werden konnte. Es stimmt nicht, dass das
Erschrecken
mit dem Abstand der Zeit geringer würde, nein, der Schrecken
wächst
eher und das Unverständnis und die Fragen. Umso mehr ist die heutige
Erinnerung
auch eine Aufforderung an uns alle, niemals diese eigentliche
Sendung
der Kirche zu vergessen: einzutreten für das Heil aller Menschen,
eine
Einladung an alle Völker und Nationen zu sein, zum Berg Zion zu
pilgern,
Zeichen
zu sein für die Einheit der ganzen Menschheitsfamilie, wie es der
Prophet
Jesaja in seiner großen Vision schildert.
Der
Zweite Weltkrieg ging ja über alle Vorstellung, was ein Krieg ist,
weit hinaus. Es ging
um
Unterdrückung und Vernichtung, Vergewaltigung und Zerstörung. Dass
dies von
Deutschland
ausging, erschüttert uns auch als Kirche in Deutschland bis heute.
Und betroffen
stehen
wir vor der Tatsache, dass der Weltkrieg damals von der Kirche in
unserem Land nicht
als
Unrecht geächtet wurde.
Dass
Menschen im Geist des Evangeliums, trotz solcher Erfahrungen neu
aufgebrochen sind,
Wege
der Versöhnung zu gehen, das allerdings dürfen wir als ein Wunder
der Gnade Gottes
bezeichnen.
Und so ist das Werk der deutsch-polnischen Versöhnung aus der
Architektur des
europäischen
Hauses nicht wegzudenken. Zu den Baumeistern gehören Kardinal
Kominek,
der
Autor des Briefes der polnischen Bischöfe an ihre deutschen
Amtsbrüder, und vor allem
auch
der unvergessene heilige Johannes Paul II. Aber ich möchte auch die
vielen Menschen
erwähnen,
die nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen: Die Schüler und
Jugendlichen, die
Studenten
und all die Männer und Frauen aus den Kirchengemeinden, die die
Partnerschaft
zwischen
Deutschland und Polen pflegen und lebendig gestalten, auch für die
Zukunft.
Versöhnung
im Geist des Evangeliums ist für die Kirche Verpflichtung, aber
dennoch auch
eine
große Herausforderung. Es geht auch darum, sich der Wahrheit der
Geschichte zu stellen,
das
Gedächtnis zu reinigen, aufmerksam und sensibel in der Begegnung
miteinander
umzugehen
und die Gemeinschaft je neu zu pflegen und weiterzuentwickeln.
Nichts
war und ist einfach selbstverständlich, sondern tägliche Gabe und
Aufgabe. Das gilt
auch
für die Beziehung zwischen Deutschen und Polen, zwischen
katholischer Kirche in
Deutschland
und katholischer Kirche in Polen. In einem sich vereinigenden Europa
haben wir
als
Kirche einen Beitrag zu leisten für Gerechtigkeit, Frieden,
Versöhnung. Wir haben neuen
Abgrenzungen
und Nationalismen entgegenzutreten und in unserem Leben und Arbeiten,
in
unserem
Beten und in unseren Gottesdiensten den gemeinsamen Pilgerweg aller
Völker zu
bezeugen
und dazu einzuladen.
sein,
keine Werkzeuge der Exklusion, sondern Brückenbauer, Versöhner,
Friedensstifter, wie
es
dem Geist der Seligpreisung entspricht. Das gilt auch in ökumenischer
und darüber hinaus
in
interreligiöser Perspektive. Die aktuellen Erfahrungen von Krieg,
Terror, Gewalt im Irak,
Syrien
und auch in der Ukraine, fordern uns als Christen heraus, ein
engagiertes Zeugnis zu
geben
für einen gerechten Frieden und die Achtung der Würde des Menschen.
Wir
sollten deshalb diesen Gottesdienst nicht feiern ohne uns zu
verpflichten, den
gemeinsamen
Weg kraftvoll weiterzugehen, gemeinsam zu überlegen und zu bedenken,
was
wir
als Kirche – gerade als katholische Kirche, die universal alle
Völker umfasst – tun können
und
tun müssen, um diesen Geist für heute lebendig zu halten. Dazu sind
gerade wir Bischöfe
aus
Polen und Deutschland im Kontext eines vereinten Europas aufgerufen.
Der heutige Tag
ist deshalb
Rückblick, Erinnerung, aber vor allem Ausblick und Ermutigung!
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