Freitag, 29. April 2016

Flickenteppich Ganztagsschule: Große Unterschiede zwischen den Bundesländern

Ganztagsschulen sollen Schüler individuell fördern. Doch von gleichwertigen Lernchancen in Ganztagsschulen kann in Deutschland keine Rede sein. Eine Studie über die Lernzeit und die personelle Ausstattung zeigt erstmals, wie stark sich Ganztagsschulen zwischen den Bundesländern unterscheiden.

Gütersloh, 28. April 2016. Immer mehr Schulen in Deutschland stellen auf Ganztagsbetrieb um: Während vor 15 Jahren noch nicht einmal jede fünfte Schule auf ganztägige Bildung ausgerichtet war, sind es heute rund 60 Prozent der Schulen. Der quantitative Ausbau war aber nicht an einheitliche Qualitätsstandards gekoppelt. Die Rahmenbedingungen für Ganztagsschulen unterscheiden sich daher stark zwischen den Bundesländern und den Schulstufen. Die Ressourcenausstattung an weiterführenden Schulen ist durchschnittlich schlechter als an Grundschulen. Das sind die Ergebnisse einer Studie der Bertelsmann Stiftung. Autoren sind der Bildungsforscher Professor Klaus Klemm und Dirk Zorn, Senior Project Manager bei der Bertelsmann Stiftung. Sie vergleichen die Regelungen der 16 Bundesländer für gebundene Ganztagsschulen. Die Studie ermöglicht erstmals eine differenzierte Abschätzung der Lernbedingungen an diesen Ganztagsschulen.

Die Zeit, die Ganztagsschülern über den Unterricht hinaus zum Lernen in der Schule zur Verfügung steht, ist abhängig von Schulstufe und Bundesland. Grund dafür sind unterschiedliche Vorgaben der Länder zu Anzahl und Umfang der Ganztage. Mit dem Wechsel von Grund- zu weiterführenden Schulen sinkt diese Lernzeit: Die zusätzliche Lernzeit an Grundschulen mit verpflichtendem Ganztagsbetrieb beträgt durchschnittlich knapp 14 Stunden pro Woche. An weiterführenden Schulen umfasst sie nur 8 Stunden. Zwischen den Bundesländern sind die Unterschiede ebenfalls groß: In den Grundschulen reicht die zusätzliche Lernzeit von 8 (Thüringen, Sachsen, Nordrhein-Westfalen) bis 22 Stunden (Hessen) pro Woche. Auch in der Sekundarstufe I bieten Ganztagsschulen in Hessen mit 16 Stunden die meiste zusätzliche Lernzeit. Mit rund 4 Stunden bilden Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen die Schlusslichter.

Große Unterschiede bei der Ausstattung mit pädagogischen Fachkräften
Die Zahl qualifizierter Pädagogen in Ganztagsschulen – neben Lehrkräften auch Erzieher und Sozialpädagogen – variiert ebenfalls stark zwischen Schulformen und Bundesländern. Grundschulklassen erhalten im Schnitt von den Ländern zusätzliches Personal für 12, an weiterführenden Schulen für 5 Wochenstunden. Die Spannweite zwischen den Bundesländern reicht bei Ganztagsgrundschulen von 3 (Bremen) bis zu knapp 32 zusätzlichen Wochenstunden (Saarland). In der Sekundarstufe I liegen die Unterschiede zwischen einer bis anderthalb Wochenstunden (Bremen, Sachsen, Thüringen) und 10 zusätzlichen Wochenstunden (Berlin, Rheinland-Pfalz, Saarland).

In Euro ausgedrückt heißt das: Eine Grundschulklasse erhält pro Jahr von Landesseite zusätzliches Personal für den Ganztag im Wert von durchschnittlich 23.000 Euro. Bundesweit liegt die Bandbreite zwischen 9.000 Euro (Bremen) und 52.000 Euro (Saarland). In gebundene Ganztagsklassen der Sekundarstufe I investieren die Länder durchschnittlich 15.000 Euro zusätzlich. Hier reicht die Spannweite von 1.300 Euro (Sachsen) bis knapp 37.000 Euro (Rheinland-Pfalz) bei Gymnasien und von 2.000 Euro (Sachsen) bis 31.000 Euro (Saarland) bei den nicht gymnasialen Schulformen.

Zusätzliche Lernzeit und Personalausstattung passen oft nicht zueinander
Zusätzliche Lernzeit und Personalausstattung sind in vielen Bundesländern nicht aufeinander abgestimmt. Zwar deckt das vom Land gestellte zusätzliche Personal bei gebundenen Ganztagsgrundschulen im Schnitt 91 Prozent der zusätzlichen Lernzeit ab, aber zwischen den Ländern gibt es große Unterschiede: Die geringste Abdeckung im Ländervergleich liegt bei 22 Prozent (Bremen und Hessen), die höchste im Saarland. In der Sekundarstufe I liegt die durchschnittliche Abdeckung bei 69 Prozent (Gymnasien) beziehungsweise 67 Prozent (nicht gymnasiale Schulformen). Auch hier gibt es große Länderunterschiede: Die geringste Abdeckung von 20 Prozent findet sich an Thüringer Gymnasien und mit 22 Prozent bei den nicht gymnasialen Schulen in Bremen. Sachsen-Anhalt verfügt über die höchste Abdeckung bei den weiterführenden Schulen, allerdings bei sehr wenig zusätzlicher Lernzeit.

Ein gutes Verhältnis zwischen ausgeprägter zusätzlicher Lernzeit und entsprechender Personalausstattung bieten in allen Stufen gebundener Ganztagsschulen lediglich Berlin und das Saarland. In der Sekundarstufe I gibt es außerdem in Rheinland-Pfalz ähnlich gute Rahmenbedingungen an den dortigen gebundenen Ganztagsschulen.

"Wo an Deutschlands Schulen Ganztag drauf steht, ist leider nicht immer Ganztag drin. Die unterschiedlichen Rahmenbedingungen gebundener Ganztagsschulen weisen auf ein konzeptionelles Vakuum hin", so Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann Stiftung. "Bundesweite Mindeststandards für Ganztagsschulen sind notwendig, um gleichwertige Lernchancen zu ermöglichen", sagte Dräger. Es brauche mehr Transparenz über die tatsächlichen Ausstattungen der Ganztagsschulen und eine pädagogische Debatte über angemessene zeitliche und personelle Rahmenbedingungen, so der Vorstand.

Zusatzinformationen
In der vorliegenden Studie "Die landesseitige Ausstattung gebundener Ganztagsschulen mit personellen Ressourcen – Ein Bundesländervergleich" haben Professor Klaus Klemm und Dirk Zorn für die Bertelsmann Stiftung die unterschiedlichen gesetzlichen Vorgaben der Länder zum zeitlichen Umfang und zur personellen Ausstattung am Beispiel gebundener Ganztagsschulen analysiert und erstmals miteinander vergleichbar gemacht. Gebunden bedeutet: Alle Schüler lernen verbindlich über den Tag gemeinsam. Sie beruht in Teilen auf einer Dokumentation einschlägiger Erlasse und Verordnungen, die Professor Nils Berkemeyer im Auftrag der Bertelsmann Stiftung Ende 2015 mit Unterstützung der zuständigen Referate in den Kultusministerien der Länder erstellt hat. Da die Zuweisungsmodalitäten für zusätzliches Personal zwischen den Bundesländern stark divergieren, handelt es sich bei der vergleichenden Analyse um eine Abschätzung. Diese beruht teilweise auf Annahmen und Modellrechnungen, die im Anhang zur Studie ausführlich dokumentiert sind.

Unser Experte: Dr. Dirk Zorn, Telefon: 05241 81-81546
E-Mail: dirk.zorn@bertelsmann-stiftung.de

Konrad Lischka, Pressestelle Bertelsmann Stiftung

Mitteilung des idw – wissenschaftlicher Dienst am 28.04.2016

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