Dienstag, 21. Juni 2016

„Anatevka“ mit Zeitbezügen!?

Viel Zeit hatten hatte man am Sonntag als Fahrgast des Kleinbusses von Nordhausen zu den Schlossfestspielen in Sondershausen, um sich auf das Musical „Anatevka“ vorzubereiten. Selbst nach der Ankunft am Schloss blieb noch eine gute Stunde Zeit, sich umzusehen,
einzustimmen oder auch zu verköstigen. Es sind nun die letzten Schlossfestspiele, die unter der Intendanz Lars Tietjes und einer ganzen Anzahl seiner unmittelbaren MitarbeiterInnen stattfinden. Ich trauere ihnen nach, allein schon angesichts der Verdienste, die sie sich um das Theater Nordhausen, und damit auch um die Schlossfestspiele in Sondershausen während der Jahre ihres Wirkens erwarben.

War dies zunächst Thema während der Fahrt nach Sondershausen, richtete sich Erwartung
und beginnende Spannung dann doch zunehmend auf „Anatevka“, von dem es in der Vorschau des Theaters hieß, dass der deutsche Name des Musicals auf den Schauplatz der Handlung verweist, während sich der Ori­ginaltitel „Fiddler On The Roof“ auf ein Gemälde Marc Chagalls bezieht . Der Geiger auf dem Dach soll eine Metapher für den Überlebenswillen unter widrigsten Umständen darstellen. Das Musical in seiner Mischung aus Humor und Tragik, Hoffnung und Abschied und mit seiner zu Herzen gehenden Musik berührt außerordentlich, die
gleichermaßen von Klezmer, russischer Folklore und auch Broadwayklängen inspiriert ist. Ausgesprochen vielversprechend also, ist damit damit doch in diesem Sommer ein weltberühmtes Musical auf die Bühne im Schlosshof Sondershausen gekommen. Deren Produktion der Uraufführung am New Yorker Broadway im Jahr 1964 damals schon für längere Zeit alle Rekorde brach. Die Spannung, mit der man den Schlosshof betrat, war also vorprogrammiert. Wenn auch das spartanische Bühnenbild, das sich mir zunächst bot, und für das Wolfgang Kurima Rauschning verantwortlich ist, zunächst eher
ernüchternd wirkte.


Dieser erste Eindruck erhielt dann freilich mit Beginn der Handlung und dem Auftreten des Milchhändlers Tevje (Thomas Bayer) Sinn, Bedeutung und Leben. Der mit Golde, seiner Frau ( Anja Daniela Wagner) und seinen Töchtern in einem russischen Dorf namens Anatevka lebt und sich als tiefgläubiger Jude zu erkennen gibt, zunächst und fest der Tradition von Heimat und Glauben verhaftet. Die Zeiten sind zwar unsicher, aber noch scheint die Welt in Ordnung zu sein. Alles ist so, wie es bisher immer war. Keiner ist reich, viele Wünsche sind offen, der Sabbat ist heilig und die Traditionen lebendig. So lebt auch Tevje der Milchmann, der seinen Karren selber ziehen muss, weil sein Pferd ein Hufeisen verloren hat. Die Tradition aber ist auf Dauer und durch Zutun seiner fünf Töchter nicht aufrecht zu erhalten. In seine traditionellen Überlegungen schleichen sich zunehmend Zweifel ein, die jeweils in ein geäußertes „andererseits“
münden. Und die traditionellen Überlegungen zunehmend – oft nur widerstrebend - ablösen. So entwickelt sich eine äußerst spannende Mischung aus Tradition und Neubeginn, Existenzkampf und Lebenslust, jiddischem Humor und anrührender Tragik. Bayer spielt absolut überzeugend und beeindruckt durch seine Selbstzweifel, dessen Zwiegespräch mit Gott „Wenn ich einmal reich wär...“ zu Szenenapplaus der Zuhörer führte. Und auf die Mahnung, den Mammon zu meiden, denn er sei der Fluch der Welt, betet der Milchmann mit weit ausgebreiteten Armen und nach oben gewandtem Blick: "So schlage mich mit
deinem Fluch, o Herr, und laß mich nie davon genesen."
Dazu kann man, wenn man aufgeschlossen genug ist, viele poetische, ja fast zärtliche Szenen genießen. Das Duett Tevje – Golde ("Ist es Liebe?") etwa berührt in seiner fragenden Schlichtheit besonders.

Nun ist Tevje der Tradition zunächst doch noch insoweit verbunden, als er Jente, eine Heiratsvermittlerin (Brigitte Roth) mit der Suche nach geeigneten Ehemännern für seine Töchter beauftragt. Die aber von Traditionen so gar nichts halten und ihre
Entscheidungen selbst schon getroffen haben: während Vater Tevje für Zeitel, der Ältesten( Natalia Voskoboynikov), dem Werben des Fleischers Lazar Wolf (Matthias Mitteldorf) bei einer Flasche Wodka nachgibt, hat die sich bereits mit dem Schneider Mottel Kamzoil (Leo Mastjugin)liiert. Und Hodel (Rebekka Reister) ist dem Studenten Perschik (Philipp Lang) zugeneigt. Und wieder gerät Tevje in Gewissensnöte: Soll er auf bewährten Traditionen beharren, oder dem Willen seiner Töchter nachgeben? Schließlich stimmt er dem Drängen beider Töchter zu, während er der Wahl der dritten Tochter Chava (Katrin Filip) die Zustimmung verweigert: die nämlich ist dem Christen Fedja (David Roßteutscher)
zugetan. Das geht ihm dann doch zu weit und er verstößt sie. Während Vater Tevje noch mit sich und der Welt hadert und die zwischenmenschlichen Beziehungen der Töchter tranparenter werden, vollzieht sich das Schicksal der gesamten jiddischen Gemeinde: Es erscheint mit dem Wachtmeister (Thomas Kohl) die etwas farblos wirkende Staatsmacht und kündigt eine kleine Demonstration an. Die schließlich zum Pogrom mutiert. Und am Ende werden die Juden aus Anatevka vertrieben und ziehen einer Zukunft ins Ungewisse entgegen. Und das nach anfänglichen Zögern mit jiddischer Gelassenheit

Bleibt anzumerken, dass Dirigent Sergi Roca das Loh-Orchester sicher leitet und die Musiknummern – wie oben bereits erwähnt - sanft, aber stilgerecht und effektvoll zum Klingen bringt. Und die Singstimmen wirkungsvoll begleitet. Für die Bühne im Schlosshof inszeniert das Stück Toni Burkhardt, Oberspielleiter am Theater Nordhausen, dessen „My Fair Lady“ in Sondershausen erst vor zwei Jahren große Erfolge feierte.
Es ist – wie ich meine – eine ebenso eindrucksvolle, wie begeisternde Aufführung an der alle Akteure Anteil haben, die sich denn dann auch für den langanhaltenden Applaus des Publikums angemessen bedankten. Für die Busreisenden blieb danach nur noch, ihre Plätze wieder einzunehmen und diesmal ohne Verzug die Rückfahrt anzutreten. Dem Chauffeur sei für die sichere Hin-und Rückreise gedankt.

Inspiriert war dieses Musical übrigens von Geschichten des jiddischen Schriftstellers Scholem Alejchem, der 1906 nach New York kam, weil er hoffte, dort für das jiddische Theater zu schreiben. Mit der kleinen Verspätung von 58 Jahren wurde ihm dieser Wunsch postum im September 1964 erfüllt.

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