Am 11. April 1945 sind die Konzentrationslager Buchenwald und
Mittelbau-Dora befreit worden. Aus Anlass der 75. Jahrestage der
Befreiung hatte die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora
gemeinsam mit dem Freistaat Thüringen und in Verbindung mit den Städten
Weimar und Nordhausen zahlreiche Veranstaltungen vorbereitet und
Überlebende aus aller Welt sowie an der Befreiung beteiligte Veteranen
der 3. US-Armee eingeladen. 42 Überlebende aus 14 Ländern konnten trotz
ihres hohen Alters ihr Kommen zusagen.
Im Mittelpunkt der Veranstaltungen hätten ein Gedenkakt des Freistaats
Thüringen im Deutschen Nationaltheater Weimar am 5. April gestanden und
eine große Gedenkfeier am 7. April in der KZ-Gedenkstätte
Mittelbau-Dora. Eine Lange Nacht in Kooperation mit dem Deutschen
Nationaltheater Weimar am 4. April und mit Beteiligung vieler
Mitwirkender aus Kultur, Kunst, Wissenschaft, Politik, Kirchen und
Zivilgesellschaft hätte die Gedenkveranstaltungen eröffnet. Den Auftakt
zur Langen Nacht bilden sollte eine Feier zum Beginn des Umbaus im
„Gauforum" Weimar für die dort dauerhafte Einrichtung der Ausstellung
zur Zwangsarbeit im Nationalsozialismus: „Zwangsarbeit. Die Deutschen,
die Zwangsarbeiter und der Krieg". Die Schirmherrschaft über alle
Veranstaltungen hatte der Ministerpräsident des Freistaats Thüringen,
Bodo Ramelow, übernommen.
Wegen der Ausbreitung des Coronavirus mussten alle Veranstaltungen aus
Anlass der 75. Befreiungstage abgesagt werden. Entsprechend der
Allgemeinverfügungen des Freistaates und der Städte Weimar und
Nordhausen sind die Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora
einschließlich der ehemaligen Lagergelände, wie alle anderen Kultur- und
Bildungseinrichtungen, derzeit geschlossen. Versammlungen können deshalb
leider nicht stattfinden.
Auch wenn die Bekämpfung des Coronavirus im Augenblick die Tagesordnung
bestimmen muss, sollen und dürfen die gegenwartsrelevante historische
Erinnerung an den Nationalsozialismus und die von ihm zur Staatsräson
erhobene Menschenfeindlichkeit nicht verblassen, ebenso wenig wie auch
die Lehren, die nach 1945 daraus in Deutschland, Europa und der Welt
gezogen worden sind. Es gilt historische Verantwortung zu wahren und
Demokratie und Menschenrechte aktiv zu verteidigen – wie wichtig dies
ist, erweist allein schon ein Blick auf das Erstarken des
Rechtspopulismus, der antidemokratisch-autoritären Haltungen, des
Nationalismus und Rassismus nicht nur in Deutschland. Dem „Aufbau einer
neuen Welt des Friedens und der Freiheit" (Schwur von Buchenwald) hatten
sich Überlebende des KZ Buchenwald bereits am 19. April 1945 im Rahmen
der ersten Gedenkfeier für die 56.000 Toten des Lagers verpflichtet.
Insgesamt sind über 76.000 Männer, Frauen und Kinder in den KZ
Buchenwald und Mittelbau-Dora von den Nationalsozialisten zu Tode
gebracht worden, mehr als 340.000 Menschen aus ganz Europa wurden in
beide Lager und ihre Außenlager verschleppt. Ihnen würdigend zu gedenken
und das Bewusstsein wach zu halten für die politischen und
gesellschaftlichen Gefahren und das Leid, die rechtsradikale Ideologien
in welcher Form auch immer – heute – hervorbringen, bleibt trotz des
Virus unsere Aufgabe.
Die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau und die
Repräsentanten der höchsten Verfassungsorgane Thüringens haben deshalb
gemeinsam mit Überlebenden, die am 5. April im Deutschen Nationaltheater
gesprochen hätten, eine „Thüringer Erklärung: 75 Jahre danach –
Historische Verantwortung wahren – Demokratie und Menschenrechte
verteidigen" verfasst, die am historischen Befreiungstag, dem 11. April
2020, bundesweit veröffentlicht wird. Alle Menschen guten Willens sind
eingeladen, sich dieser Erklärung anzuschließen und damit auch ein
Zeichen zu setzen gegen diejenigen, die vom Nationalsozialismus als
„Vogelschiss" sprechen oder eine radikale Kehrtwende der
Erinnerungskultur fordern.
Veröffentlicht wird die Erklärung zusammen mit den Reden – insbesondere
auch den Reden der Überlebenden – die im Rahmen des Gedenkaktes im
Deutschen Nationaltheater und in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora
gehalten worden wären, auf einer eigens zu den Befreiungstagen
eingerichteten Webseite: www.thueringer-erklaerung.de . Die Website ist
ab dem Morgen des 11. April online und bietet auch die Möglichkeit zur
Mitunterzeichnung der Erklärung. Hier finden sich zudem Statements von
Überlebenden und Nachgeborenen zur fortwährenden Bedeutung der
Erinnerung.
Ab Donnerstag, den 9. April 2020, erinnern außerdem Banner öffentlich an
signifikanten Gebäuden und Orten in Weimar, Erfurt und Nordhausen an die
Befreiungstage und ihre Bedeutung. Sie fokussieren mit Bezug auf die
„Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" von 1948 eine zentrale Lehre
und Antwort auf die Barbarei des Nationalsozialismus: alle Menschen sind
gleich an Würde und Rechten geboren.
Auch wenn die Gedenkstätten und die Lagergelände geschlossen sind und
mehr als zwei Menschen aus Gründen der Pandemiebekämpfung sich nicht
gemeinsam in der Öffentlichkeit bewegen dürfen, sollen Einzelpersonen
unter Beachtung der Regeln der Allgemeinverfügungen – insbesondere der
Abstandsregeln – die Möglichkeit haben, still zu gedenken und Blumen
niederzulegen. Diese Möglichkeit besteht in beiden Gedenkstätten: in
Buchenwald am Lagerzaun links vom Lagertor und in Mittelbau-Dora beim
Pylon am Eingang zum ehemaligen Häftlingslager.
Außerdem hat die Stiftung alle diplomatischen Vertretungen der Länder,
die mit Buchenwald und Mittelbau-Dora historisch verbunden sind, sowie
die demokratischen Parteien in der Bundesrepublik eingeladen, im Bereich
der ehemaligen Häftlingslager bei den Denkmalen für alle Opfer Kränze
niederlegen zu lassen, auch wenn bei dieser Niederlegung am 11. April
jeweils nur die Gedenkstättenleiter*innen unmittelbar anwesend sein
können.
Auf der Webseite zu den Befreiungstagen wird auch die Rede von Prof. Dr.
José Brunner (Tel Aviv/Israel), Enkel des Buchenwaldhäftlings Maximilian
Brunner, dokumentiert. Darin heißt es, ausgehend von den Täterinnen und
Tätern, die nach 1945 ganz überwiegend ungestraft geblieben sind: „ ....
auch von ihrer Seite aus blieb und bleibt etwas: das politische Virus
des Hasses, des Rassismus in all seinen Ausprägungen, und des
Autoritarismus. Wie auch immer mutiert, bedroht es weiterhin
Minderheiten und sozial Schwächere. Es bedroht all die, die den
politischen Nachkommen und Verwandten der Täter als fremd und als
minderwertig gelten. Gegen dieses gewalttätige, zerstörerische Virus,
das immer wieder zur Epidemie zu werden droht, gibt es keine Impfung.
Deshalb muss man sich ihm immer wieder von neuem widersetzen. Dazu dient
die Erinnerung an Buchenwald."
Es besteht Einvernehmen mit dem Freistaat Thüringen und dem Bund als den
Zuwendungsgebern der Stiftung, dass die Überlebenden, die in diesem Jahr
kommen wollten, sobald dies wieder möglich sein wird, neuerlich
eingeladen werden und die 76. Jahrestage der Befreiung im April 2021
wegen des Ausfalls der diesjährigen Veranstaltungen entsprechend groß
und nachhaltig gestaltet werden. Dies ist ein wichtiges politisches
Zeichen.
Auch wenn es ins Herz schneidet und besonders schmerzt, dass die
Begegnung mit den Überlebenden nun nicht stattfinden kann, gibt die
durch die Pandemie entstandene Situation jeder und jedem doch die
Gelegenheit ein Zeichen zu setzen: Erinnerung und das Eintreten für
Mitmenschlichkeit und Demokratie sind nicht an Jahrestage oder
herausgehobene Gedenkakte gebunden. Sie haben ihren Platz im Alltag –
immer und jederzeit.
Rikola-Gunnar Lüttgenau
Leiter Strategische Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit
Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora
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