Das
war der Titel des Vortrags, den der em. Bischof Joachim Wanke am
Donnerstag der vergangenen Woche im Audimax der Fachhochschule
Nordhausen hielt, den ich in meinen Einträgen am folgenden Freitag
und Samstag würdigte. Die erheblich davon abweichende
Berichterstattung der „Nordhäuser Allgemeine“ veranlasste mich,
bei Bischof Wanke die Erlaubnis zu erbitten, den Vortrag
vollinhaltlich wiederzugeben. Nachdem ich diese inzwischen erhielt,
eröffne ich interessierten Lesern meines Blogs, vom Inhalt dieses
Vortrags Kenntnis davon zu nehmen, was Bischof Wanke wirklich
ausführte. Und ich nutze dafür erneut und in sehr viel größeren
Maße als bisher das Internet. Das Manuskript stimmt weitgehend mit
dem gesprochenen Wort überein.
Öffentlicher
Vortrag von Bischof em. Joachim Wanke , Nordhausen, 10. Oktober 2013
Meine
Überlegungen zur Frage, wie von Gott reden, besonders im
nichtchristlichen Umfeld, beginne ich mit einem kleinen Erlebnis.
Manchmal gehe ich in meinem roten Diensttalar von meiner Wohnung aus
zu Fuß in den Dom. Eines Tages geschah es: Ich war gerade im
Begriff, einen Vater mit zwei kleinen Kindern an der Hand in der zum
Dom führenden Stiftsgasse zu überholen. Da drehte sich eines der
Kinder neugierig nach mir um und rief laut, mit dem Finger auf mich
zeigend: „Sieh mal, Papa, da kommt der liebe Gott!“
Ich
gebe zu: In voller „Dienstmontur“ macht ein Bischof schon etwas
her – aber bei diesem Ausruf des Kindes wurde mein Gemüt doch sehr
erheitert! Ich weiß nicht, welche frommen Filme der Kleine schon
gesehen hatte oder was immer er sich unter Gott vorstellte,
vermutlich etwas Feierliches, Fremdes, eben einen wie mich!
I.
Beobachtungen zum Thema aus der Perspektive des religions- und
kirchen-fernen Ostens
Ich
habe beim Nachdenken über das mir gestellte Thema vornehmlich meine
kirchenfernen Landsleute in Thüringen im Blick. Rund 70 % von ihnen
gehören keiner Kirche an, sei es, dass sie sich von der Kirche
ausdrücklich getrennt haben, sei es – und das ist vermutlich die
Mehrheit – , dass sie von Kindheit an keine Kirchennähe hatten. Es
gibt gerade in der Generation der 30 – 50-jährigen ehemaligen
DDR-Bürger viele, die von religiöser Erziehung völlig unberührt,
gleichsam „chemisch rein“ von Religion aufgewachsen sind.
Bezeichnend
ist die Antwort, die ein Jugendlicher in Leipzig bei einer Befragung
auf der Straße einem Interviewer auf die Frage gab, ob er religiös
sei: „Religiös? Nein, das bin ich nicht. Ich bin...“ – und man
sieht ihn gleichsam nach einem passenden Wort suchen – „Ich bin
normal!“
Man
kann bei den Menschen in den neuen Bundesländern sicher von einer
Art religiösem „Sprachverlust“ sprechen, also von der
Unfähigkeit, bestimmte Grunderfahrungen (etwa Angst oder Sorge,
Freude oder Zuversicht) religiös ausdrücken zu können. Die
religiöse Sprache steht vielen Zeitgenossen nicht mehr zur
Verfügung. Christlich-kirchliche Vokabeln sind für diese Menschen
wie „Chinesisch“. Warum das so ist, ist nochmals eine eigene
Frage. 2
Ob
den Menschen mit diesem Sprachverlust auch die in dieser Sprache
ausge-drückte Sache entschwindet? Dann hätten wir in der Tat einen
neuen Men-schentypus vor uns, den „religiös Unmusikalischen“
(Max Weber), einen „homo areligiosus“ (Eberhard Tiefensee). Ich
bin freilich skeptisch. Ob es „religiös Un-musikalische“ ebenso
gibt wie eben von Natur aus unmusikalische Menschen, bleibt für mich
eine offene Frage. Ich neige dazu zu sagen: Jeder Mensch ist offen
für Transzendenz. Das gehört zu seinem Menschsein. Aber mir ist
bewusst: Es kommt bei einem generellen Urteil in dieser Frage sehr
darauf an, was man unter „Religiosität“ versteht.
Religion
und religiöse Praxis gehören, wie uns die Religionswissenschaften
belehren, von Anfang an zur kulturellen Ausstattung des Menschen. Die
Frage, ob es so etwas wie Gott wirklich gibt, wie man mit ihm in
Verbindung treten kann und ob seine Existenz etwas mit unserem Leben
zu tun haben könnte, bewegt die Menschen von Urzeiten an. Es ist
sozusagen das Markenzeichen des Menschen zu fragen, ob er mit sich
allein ist oder ein transzendentes Gegenüber hat.
In
unserem von Aufklärung und naturwissenschaftlichem Denken geprägten
Kulturraum hat sich das freilich radikal gewandelt. Das Fragen nach
Gott und dem tragenden Grund des Seins hat sich von religiösen
Sprachmustern emanzipiert. Die noch im 17./18. Jahrhundert bei den
Aufklärern meist selbstverständliche Bejahung der Annahme, dass es
Gott gibt, ist der skeptischen Infragestellung der Gottesexistenz
gewichen. Jüngst hat der kanadische Philosoph Charles Taylor in
seinem Werk Ein
säkulares Zeitalter (dt.
2009) diese fundamentale Wende ausführlich dargestellt. Er spricht
in diesem Zusammenhang von einem „Nova-Effekt“, bei dem freilich
manche der alten Fragestellungen in veränderter Gestalt wieder neu
auftauchen. Das Fragen des Menschen nach sich selbst und seiner
Zukunft kann nicht stillgestellt werden.
Richtig
ist: Unsere heutige Situation ist bestimmt durch diesen kurz
skizzierten tief greifenden kulturellen Wandel. Im Osten stellt er
sich zudem verstärkt dar als ein radikaler Abbruch religiöser
Tradition, seinerzeit zudem bewusst gefördert durch den
kommunistischen Staat und seine Ideologie.
Ein
Beispiel: Seit einigen Jahren steht auf dem Erfurter Weihnachtsmarkt
wieder eine Krippe mit den dazugehörigen Figuren. Bekannte berichten
mir, dass immer wieder junge Mütter ihren Kindern nicht antworten
können, wenn diese über die Figuren Auskunft haben wollen.
Interpretationsversuche in Richtung der Märchen von Frau Holle oder
Rumpelstilzchen hat es auch schon gegeben! 3
Man
mag darüber schmunzeln. Aber diese und viele andere Beobachtungen
zeigen: Hier ist mehr weggebrochen als nur christliches Grundwissen.
Hier ist eine Entfremdung von den eigenen kulturellen Wurzeln
eingetreten, die sich etwa in der Hilflosigkeit offenbart, mit den
christlichen Festen umzugehen.
Doch
bedeutet das noch lange nicht: Desinteresse am Religiösen! Ein
Pfarrer aus dem Bayrischen erzählte mir einmal, welches
Neuheitserlebnis für ihn eine ungetaufte Ostdeutsche war, die mit
ihrem bayrischen Verlobten zum Brautgespräch erschien und sich dort
durchaus interessiert, aber mit merkwürdigem Vokabular nach dem
erkundigte, was eigentlich ein Katholik alles zu glauben hätte. Der
Pfarrer gestand mir, er sei ordentlich „ins Schwitzen“ gekommen.
Er musste sich in seiner Denk- und Sprechweise gewaltig umstellen, um
der gutwillig Fragenden einigermaßen verständlich antworten zu
können.
Es
kann manchmal ein Vorteil sein, wenn nichtreligiös aufgewachsene
Menschen den christlichen Glauben unvermittelt als etwas völlig
Neues entdecken. Wenn Vorurteile fehlen, kann eine Begegnung mit dem
Gottesglauben unter Umständen besser glücken als wenn man meint,
immer schon alles zu „wissen“.
Gern
möchte ich auch dies zu bedenken geben: Die religiöse Rede schafft
nicht Gottesgegenwart. Gott ist immer schon da, auch dort, wo wir
Pfarrer ihn hintragen wollen. Oder etwas anders formuliert: Von Gott
reden ist nicht belehrende „Einrede“, ist nicht Indoktrination,
sondern ein „Aufdecken“ der vorgängig vorhandenen bewussten oder
unbewussten Gottesbeziehung jedes Menschen.
Die
christliche Verkündigung in ihren vielfältigen Formen schafft also
nicht das Faktum der Gottesberührung. Sie hilft, den Anruf Gottes
bewusst und die Antwort darauf ausdrücklich zu machen, den Menschen
also (um mit dem Apostel Paulus zu sprechen) zum „Danken“
anzustiften (vgl. 2 Kor 4,15). Hier passt das Diktum von G. K.
Chesterton, der den Unterschied zwischen einem Christen und einem
Atheisten daran festmacht, dass der Atheist im Unterschied zum
Christen niemanden kennt, dem er für sein Dasein danken soll. Das
also ist die innere Dynamik des religiösen Aktes: Gottes Anruf, der
jedem Menschen gilt, sucht einen „Resonanzraum“, in dem die
„Melodie“ seines Wortes, das Evangelium zum Klingen kommen kann,
noch genauer: zum „Mitsingen“ anstiften kann.
Das
bedeutet: Seelsorger und Verkünder des Glaubens können nur
„Hebam-mendienste“ im Blick auf das Gottesverhältnis der
Menschen leisten, niemals das von Gott geschenkte Leben
„produzieren“. Diese Haltung verhindert zum einen die vorschnelle
Etikettierung und Abwertung von Menschen als rettungslos unreligiös
und sie beflügelt zum anderen den seelsorglichen Einfallsreich-4
tum,
unter Umständen auch neue Wege in der Verkündigung des
Gottesglaubens zu beschreiten.
Auf
eine spezielle Schwierigkeit kirchlichen Wirkens im Osten sei hier
hingewiesen: Ein diffuses Misstrauen gegenüber allem
Institutionellen, nicht nur staatlichen Einrichtungen, sondern eben
auch kirchlichen. Manche Ostdeutsche sahen nach dem politischen
Umbruch 1989/90 das Christentum als eine Art neue Partei an, die sich
nun anschickt, die alte Staatspartei mit ihrem Dominanzanspruch
abzulösen. Gerade deshalb wollen manche ihre bisherige
Distanziertheit zu jedem weltanschaulichen oder religiösen
Bekenntnis trotzig bewahren – vergleichsweise wie den grünen Pfeil
an den Ampeln unserer Straßenkreuzungen – getreu dem Motto: „Alles
haben uns die Westler genommen – aber unsere Nichtkirchlichkeit
lassen wir uns nicht nehmen!“
Dieses
diffuse Misstrauen durchdringt auch die zivile Gesellschaft. Das
hängt sicher mit den ideologischen Pressionen und
Bespitzelungsmethoden des alten Systems zusammen. An den Folgen
dieser geistigen Schädigung tragen wir im Osten noch heute. Aber das
erklärt meines Erachtens nicht alles.
Im
Letzten erhebt sich hier ein Grundverdacht gegen das Leben selbst.
Dieser Verdacht sagt: Das Leben ist, so wie es ist, nicht lebenswert.
Es lohnt sich letztlich nicht. Speziell ins Religiöse gewendet,
gilt: Die Christen stehen im Osten wieder unter einem Grundverdacht:
Damals vor der friedlichen Revolution war es der
„Projektionsverdacht“ (frei nach Feuerbach und Marx: Der
religiöse Glaube verdirbt das Denken). Jetzt danach erhebt sich der
„Entfremdungsverdacht“: Glaube und Kirche entfremden vom Leben,
verderben das Diesseitsglück, vermiesen das Leben und machen alles
grau und fad! Neuerdings tritt noch der Verdacht hinzu, dass
entschiedenes religiöses Bekenntnis den Menschen zum Fanatiker, zum
„Taliban“ mache….
Es
ist unendlich schwer, in der Seelsorge solchen Verdächtigungen zu
begeg-nen, etwa dem Grundmisstrauen „Ich komme zu kurz!“. Aber
genau hier liegt der springende Punkt für die evangeliumsgemäße
Profilierung der Rede von Gott. Denn diese darf sagen: „Du kommst
nicht zu kurz. Im Gegenteil: Dir ist alles geschenkt, denn nichts im
Himmel und auf der Erde vermag dich von Gottes Liebe zu trennen“
(vgl. Röm 8,31 ff).
Wir
wissen aus Erfahrung: Wer in einem Umfeld von menschlicher
Geborgenheit und Annahme aufwachsen kann, wird später leichter
lernen, sich selbst anzunehmen und sich an Aufgaben zu binden. Auch
hier ist sofort hinzuzufü-5
gen,
dass vieles, was an Bindungsunfähigkeit in der Gegenwart anzutreffen
ist, nicht allein der alten Ideologie anzulasten ist, sondern den
Modernisierungsschüben, die uns in West und Ost gleichermaßen
erfasst haben, im Osten z. T. noch radikaler als im Westen.
Meine
Beobachtung ist: Humanistische Werte, auch das Christentum und
neu-erdings auch Elemente nichtchristlicher Religiosität sind im
Osten durchaus ak-zeptiert, werden aber offensichtlich von den
Menschen mit einer gewissen un-tergründigen Ironie betrachtet –
frei nach dem Motto: „Hilft es auch nicht, so schadet es doch auch
nicht.“
Vermutlich
spüren wir im Osten stärker als unsere west- und süddeutschen
Landsleute, dass das gesellschaftliche Klima insgesamt sich wandelt.
Es ist nicht nur die etwas miefige Wärme einer geschlossenen
Gesellschaft, die manche hie und da im Osten als nostalgische
Erinnerung pflegen wollen. Eine säkular gewordene Gesellschaft fragt
wieder nach den Quellen, aus denen sich Visionen von
Mitmenschlichkeit, von Vertrauen, von gesellschaftlichem Zusammenhalt
und zwischenmenschlicher Solidarität speisen lassen. Dabei kommt
auch wieder der christliche Glaube in den Blick. Jürgen Habermas hat
ja in den letzten Jahren seine nichtreligiösen Zeitgenossen auf die
Sinn-Ressourcen des Christentums aufmerksam gemacht, die freilich –
so seine Forderung – für ein säkulares Verständnis erschlossen
werden müssten. Die derzeitige Diskussion um die Begründung von
Menschenwürde bzw. universal geltenden Menschenrechten wäre ein
Beispiel dafür. Aber das wäre ein eigenes Thema.
Dass
all dem, was ich hier skizziere, im Osten auch immer wieder andere
Tendenzen entgegenstehen, sei nur angedeutet. Wo Traditionsabbrüche
erfahren werden, erwacht die Sehnsucht nach Kontinuität und
Beheimatung. Wo Diesseitsglück brüchig und schal wird, gibt es ein
neues Fragen nach dem, was wirk
lich sättigt. Wo eine ideologiegeschädigte Gesellschaft in
Misstrauen und ge-genseitigen Verdachts- und Neidgefühlen versinkt,
gibt es neue Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, nach gelingenden
Beziehungen, nach einem DU, dem man ver-trauen kann, nach reueloser
Hingabe und Anbetung. Schatten gibt es nur dort, wo es auch Licht
gibt; Hunger und Durst sind besonders quälend, wenn man die
Möglichkeit einer Sättigung erahnt. Die Entlarvung der alten
Ideologie als men-schenfeindlicher Utopie bringt zumindest die Chance
mit sich, sich neuen Einsichten zu öffnen.
Hier
deutet sich schon an, welcher Grundtenor die Rede von Gott heute in
einer Gesellschaft zu bestimmen hätte, die sich in Selbstzweifel, in
Verdächtigungen und Misstrauen verliert: nicht Bedrohung oder
Einschüchterung, sondern 6
Ermutigung
zur Annahme des Lebens und zu Vertrauen. Nur so lässt sich
Le-bensangst, die meint zu kurz zu kommen, überwinden und
eingefressenes Misstrauen auflösen.
Sind
unsere Kirchen, sind wir Christen selbst dafür gerüstet, diesen
Dienst der „Ausleuchtung“ der menschlichen Existenz zu leisten?
Das führt schon zu einem zweiten Teil meiner Überlegungen:
II.
Christlicher Glaube und unsere Rede von Gott heute
Im
Blick auf die nachfolgenden Überlegungen möchte ich zunächst auf
eine Ei-gentümlichkeit der religiösen Überzeugung hinweisen, die
sie übrigens mit anderen Wertüberzeugungen teilt. Der religiöse
Glaube ist ja vorrangig nicht das Ergebnis einer nüchternen, rein
rationalen Auswahl aus einem Kranz vorgegebener Möglichkeiten, aus
dem ich mir ein passendes Angebot aussuche. Religiöse Überzeugungen
entstehen vielmehr durch ein existentielles Hingerissen-Sein, ein
Überwältigt-Werden, das seine eigene Evidenz hat. Ein Indiz dafür
ist die Beobachtung, dass echte religiöse Bindung von innen her
gerade nicht als Knebelung erfahren wird, sondern als ein tiefes und
beglückendes „Zu-sich-Selbst-Kommen“, wie immer wieder
Erwachsene, die sich zur Taufe melden, eindrücklich bezeugen. Das
ist übrigens für mich das stärkste Argument gegen das
brandenburgische Schulfach LER, das ja den Schülern
Wertüberzeugungen gleichsam objektiv vorstellen will in der
Hoffnung, dass sich dann die jungen Menschen für eine von ihnen
entscheiden.
Was
den weltanschaulichen Pluralismus in der Gemengelage der offenen
Ge-sellschaft so problematisch macht, möchte ich (in Anlehnung an
Hans Joas) eher mit dem Begriff Kontingenzerfahrung fassen.1
1
Vgl. Hans Joas, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der
Selbsttranszendenz, Freiburg i. Br. 2004, 32ff.; auch ders., Glaube
als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg i.Br.
2012.
Kontingent
ist eine Sache, die weder notwendig noch unmöglich ist. Es gibt
etwas, aber es muss nicht sein, dass es das gibt! Der
Korrespondenzbegriff zu Kontingenz ist der Begriff Notwendigkeit. Auf
unser Thema hin gewendet: Der Kernpunkt unserer gegenwärtigen
Verunsicherung als Christen und Kirche(n) liegt in der sprunghaften
Zunahme von Kontingenzerfahrungen im Blick auf die Deutung des Lebens
und der Welt. 7
Ich
mache das einmal anschaulich mit einem von Hans Joas entliehenen
Vergleich. Ein Ehemann entdeckt nach einigen Jahren, dass es außer
seiner Frau noch Hunderte anderer liebenswerter Frauen gibt. Die
Ursprungserfahrung einer Liebe, die sein JA und seine anhaltende
Treue zu dieser konkreten Partnerin begründet hat, weitet sich zu
einer Kontingenzerfahrung: „Hier stehe ich – aber ich könnte
auch ganz anders!“
Nun
ist die bloße Konfrontation mit der Tatsache, dass es neben der
christlichen Religion auch andere Religionen bzw. säkulare
Lebensdeutungen gibt, noch kein hinreichender Grund, meine
persönliche Bindung an den christlichen Glauben zu erschüttern.
Freilich: Die existenzielle Erfahrung gestiegener Kontingenz meiner
religiösen Lebensoption verändert die Qualität, die Art der
Bindung. Ohne eine Einbeziehung dieser Infragestellungen meiner
Entscheidung durch das Verhalten anderer bleibt meine Entscheidung,
meine Bindung nicht überlebensfähig.
Genau
in diesem Prozess einer Vertiefung, einer qualitativen (!)
Verdichtung unseres Gottesglaubens stehen wir heute. Der geweitete
Erfahrungsraum für den Einzelnen hat eine Ausweitung des
Freiheitsraumes, und damit eine Vervielfältigung der
Handlungsoptionen mit sich gebracht. Wie dieser Wandlung der
Rahmenbedingungen für einen verantwortbaren religiösen Glauben in
der Moderne zu begegnen ist, bleibt die Grundherausforderung einer
wachen zeitgenössischen christlichen Spiritualität.
Wie
also von Gott in einer solchen Situation sprechen? Wie kann das
Evangelium in unserem Land aus einem Erbe zu einem neuen Angebot
werden? Ich trage einmal vier Überlegungen vor, von denen ich mir
wünschte, dass sie im Kern unserer Kirche in Gesamtdeutschland
konsensfähig sein könnten.
1.
Gott größer denken
Es
gilt heute mehr denn je zu beherzigen, was das 2. Vatikanische Konzil
in der Pastoralkonstitution Gaudium
et spes gesagt
hat: Der zeitgenössische Atheismus und Agnostizismus sind zunächst
nicht als Bedrohung, sondern als Chance zur Vertiefung des eigenen
Gottesglaubens und der eigenen christlichen Lebenspraxis zu
verstehen.2
Selbstkritisch
an die eigene Adresse gerichtet: Unser religiös-kirchliches
Hantieren mit Gott wirkt oft zu kurzschlüssig, zu harmlos und
2
„Das
Heilmittel gegen den Atheismus kann nur von einer situationsgerechten
Darlegung der Lehre und vom integren Leben der Kirche und ihrer
Glieder erwartet werden. Denn es ist Aufgabe der Kir-che, Gott den
Vater und seinen menschgewordenen Sohn präsent und sozusagen
sichtbar zu machen, indem sie sich selbst unter der Führung des
Heiligen Geistes unaufhörlich erneuert und läutert“ (Gau-dium et
spes 21). 8
ist
meist zu fern der erfahrenen Wirklichkeit des Lebens angesiedelt. Ich
sage es einmal etwas ungeschützt: Der christliche Glaube ist zu sehr
„Lehre“ geworden. Er bringt nicht mehr die Kraft auf, die eigenen
Bedürfnisse, Fragen und Erfahrungen zu deuten. Natürlich braucht
christliche Religiosität ein Mindestmaß an objektiver Lehrstruktur.
Der Glaube muss sich ja der kritischen Nach-frage des Denkens
stellen. Es ist freilich bedenklich, wenn das subjektive Erleben,
Fragen, ja auch Zweifeln kein Zugangsweg zur Wahrheit des
Christentums mehr sein kann. Der Gottesbegriff und das christliche
Credo sind zu lange Zeit in unseren Katechismen einer enggeführten
Schulbegrifflichkeit ausgeliefert gewesen. Das Paradoxe, das
Irrationale und das Bedrohliche des Lebens sind nicht mehr in das
religiöse Lebenshaus eingelassen worden.
Dabei
ist das gerade eine Stärke des katholischen Christentums, mit der
ganzen Wirklichkeit menschlicher Biographien umgehen zu können, auch
mit den dunklen und unaufgeräumten Hinterzimmern. Ich bewundere die
großen Seelsorger der Vergangenheit, wie etwa Franz von Sales oder
Johann Michael Sailer, die um die Abgründe des Menschenherzens
wussten und dennoch für und mit jedem Menschen hoffen konnten.
In
diesem Sinne sprechen eine Reihe von heutigen Theologen von der
Got-teskrise als der eigentlichen Herausforderung des Christentums in
heutiger Zeit. „Gotteskrise“ in dem Sinn, dass Gott zu klein, zu
harmlos gedacht wird. Vor dem Forum heutigen kritischen Denkens ist
der Anspruch auf eine autoritative Weltdeutung, wie sie in der
Normalverkündigung der Kirche begegnet, nicht mehr überzeugend.
Gott wird manchmal zu schnell zu einer alles erklärenden
„Weltformel“ gemacht. Damit werden im Grunde die biblischen und
altchristlichen Aussagen über die Transzendenz Gottes, über das
„Anderssein“ Gottes nicht genügend ernst genommen. Zu einer
Weltformel kann man nicht beten, man kann vor ihr nicht weinen, nicht
einmal mehr ihr fluchen. Man kann sie höchstens für falsch halten,
sie bestreiten oder sie für überflüssig halten. Von der
Radikalität des alttestamentlichen Psalmisten, der mit Gott hadert,
der gegen ihn protestiert, ja manchmal an ihm verzweifelt, ist die
christliche Normalfrömmigkeit oft weit entfernt.
„Gott
größer denken“ heißt, dass wir selbst in tief gehender Weise
umkehren müssen zu dem Gott der Verkündigung Jesu und der
biblischen Schriften. Wir brauchen eine Radikalisierung unseres
Gottesglaubens, eine Transparenz allen kirchlichen Agierens und
Redens auf die unbegreiflich größere Wirklichkeit Gottes hin, vor
dem allein all unser Fragen verstummen kann. In diesem Sinn ist es
richtig, von der „Selbstevangelisierung“ der Kirche zu reden, die
vor der Neue-vangelisierung der Welt zu leisten ist. Ich vermute,
dass wir derzeit frömmig-9
keitsgeschichtlich
gesehen den Preis für die starke Verkirchlichung unseres Glaubens
seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu bezahlen haben.
Es
ist wahr: Gott liegt nicht auf den Ramschtischen unserer Warenhäuser
herum. Er ist kein Billigprodukt. Er ist vielmehr anspruchsvoll. Er
ist der ganz Andere. Er kann durchaus verunsichern. Er führt auf
ungewohntes Terrain. Aber er führt ins Weite. Er lässt Grenzen
überschreiten. Er ver-mag zu heilen bis in die Wurzel unserer
Existenz. „Gott, du mein Gott, dich suche ich, meine Seele dürstet
nach dir!“ so betet der Psalmist. Psalm 63 ist ein Text, der auch
Zweiflern und Agnostikern etwas sagen kann. Unter uns Christen ist
das Grundwasser der Gottessehnsucht wichtig. Wenn dieses Grundwasser
steigt, kann vieles auch in einem säkularen Land wieder religiös
wachsen und zum Blühen kommen.
2.
Religiös auskunftswillig und auskunftsfähig werden
Ich
knüpfe noch einmal an jene Episode an, die ich von dem bayerischen
Pfarrer erzählte, der mit der ostdeutschen Frau nur mit Mühe ins
Gespräch kam. Das „diesseitige“ Lebensgefühl, das ich bei
meinen mitteldeutschen Landsleuten (und manchmal auch bei mir)
diagnostizierte, ist nämlich gar nicht so „diesseitig“, wie es
sich gibt. Hinter den Fassaden und durch die Spalten und Ritzen von
Biographien sind Sehnsüchte und Hoffnungen erkennbar, die
erfahrungsgemäß unsere Möglichkeiten weit überschreiten.
Das
ist freilich eine Auskunft, die nicht im Sinne einer reinen
„Anknüpfungs-Pastoral“ missverstanden werden darf. Ich erinnere
an das soeben über die Krise unserer Gottesrede Gesagte. Gott ist
nicht einfach eine Antwort auf mensch-liche Bedürfnisse, er ist
vielmehr eine Antwort auf das Verlangen, einem ewigen DU zu begegnen,
dem ganz „Anderen“, der mir hilft, mich selbst zu verstehen. Der
Atem meines persönlichen Glaubens ist mehr die Sehnsucht als das
alles Verstehen- und Erklären-Können um jeden Preis!
In
diesem Sinn: auskunftsfähig werden für das Evangelium. Wenn der
Gott Jesu Christi „mehr als notwendig“ ist oder gar „nützlich“:
Was hat das für Folgen für unser Sprechen von Gott? Könnten wir an
der Verkündigung Jesu, etwa an dem Gleichnis vom verlorenen Sohn
bzw. vom grundlos gütigen Vater (Lk 15) etwas für die heute
notwendige Art und Weise unserer Rede von Gott lernen? Wie kann Gott
und seine Verheißung so zur Sprache kommen, dass Gott als anderer
Name für die Freiheit und die Gnadenhaftigkeit unseres Lebens neu
entdeckt werden kann? Die französische Sprache kennt das Wort
gratuité.
Gnade, Liebe 10
sind
immer „grundlos“. Aber gerade diese unbegreifliche gratuité,
die
Grundlo-sigkeit unserer Existenz macht deren Seligkeit aus.
Was
wir dringend und verstärkt brauchen, ist solch eine in den
Gottesglauben einführende Katechese. Das biblisch gesättigte, vom
Glauben der Kirche inspi-rierte Sprechen von Gott ist ein wichtiges
Desiderat der Seelsorge heute. Das Ziel dieses Lernprozesses wäre
die „Sprachbefähigung“ aller
in
Glaubensdingen. In diesem Sinn sind die Wiederbelebung des
Erwachsenenkatechumenats und von Formen einer „dialogischen
Katechese“ Aufgaben, die für die Zukunft der Kirche wichtig sind.
Wir müssen noch mehr lernen „Wege erwachsenen Glaubens“ zu
gehen. Nicht nur die mit der Pastoral hauptberuflich Betrauten, alle
Getauften müssen religiös „auskunftswillig“ und
„auskunftsfähig“ werden, einschließlich in der Sprache des
Gebetes. Martin Buber war es, der einmal sagte: Man könne ohnehin
von Gott glaubhaft nur in der Form des Vokativs sprechen, also in der
Gebetsanrede.
Wir
brauchen ferner so etwas wie ein öffentliches Aufmerksam-Machen auf
den Gottesglauben und seine Implikationen.
Einige
Beispiele für diese Art der Anknüpfung der christlichen
Verkündigung an die Lebenssituation von Menschen sind im Bistum
Erfurt entwickelt worden, etwa Segnungsgottesdienste,
die den Blick für das Geschenk von Freundschaft und Partnerschaft
stärken, das nächtliche
Weihnachtslob für
Nichtchristen, die Feier
der Lebenswende für
junge, ungetaufte Menschen, das monatliche
Totengedenken als
Angebot für Bewohner der Stadt Erfurt, die ihre Angehörigen haben
anonym bestatten lassen, „Kosmas
und Damian-Gottesdienste“ für
Langzeitkranke und Behinderte, die trotz aller medizinischen Hilfe
mit ihren Begrenzungen weiterleben müssen, oder seit drei Jahren die
Aktion von Theologiestudenten für die vielen nichtgläubigen
Besucher des Erfurter Weihnachtsmarktes „Folge
dem Stern“,
die ihnen den Sinn des Weihnachtsfestes erschließen will.
Doch
sollten auch andere, vielleicht noch tiefer im Wesen des Menschen
anset-zende Anknüpfungen in den Blick genommen werden. Aus meiner
Erfahrung heraus ist das besonders die Erfahrung einer glückenden
Beziehung, manchmal auch nur die Sehnsucht danach, oder auch die
Erfahrung eines Scheiterns solcher Beziehungen. Solche Erfahrungen
bilden so etwas wie ein „Tor zur Transzendenz“. Beziehungen kann
man bekanntlich nicht machen. Sie sind zutiefst Geschenk. Und doch
bestimmen ihr Gelingen oder Misslingen die Qualität des Lebens. 11
Es
geht um ein Anbieten des Glaubens, das nicht „von oben“ her
kommt, son-dern das aus einer Haltung der Grundsympathie mit den
Menschen jene Momente des Evangeliums zum Leuchten bringt, die den
Menschen eine Identifizierung mit der christlichen Botschaft von
innen her ermöglichen.
Was
mich zuversichtlich stimmt: Es gibt eine wachsende Sehnsucht nach dem
Heiligen in der Gesellschaft, auch wenn atheistische Gereiztheiten
und Tendenzen zum Blasphemischen ebenso (oder gerade deswegen?) zu
registrieren sind. Die Präsenz des Religiösen in der Gesellschaft
transformiert sich, so wie manche Elemente ihren Aggregatzustand
ändern – aber das Religiöse verschwindet nicht.
3.
Eine neue christliche „Sprach- und Zeichenkompetenz“ gewinnen
Damit
füge ich dem Wunsch nach einer neuen religiösen Auskunftsfähigkeit
noch einen weiteren Gesichtspunkt hinzu, den einer neu zu gewinnenden
kulturellen „Sprach- und Zeichenkompetenz“ für das Religiöse.
Dazu wäre eine zweifache Anstrengung nötig: Die Verfremdung unserer
Rede von Gott und eine Konzentration auf die Mitte der christlichen
Botschaft. Statt Konzentration könnte man auch sagen:
Elementarisierung.
Zum
einen wird das Christliche „verfremdet“ werden müssen, um in
seinem eigentlichen Profil erkennbar zu werden. Worum geht es
eigentlich im Evangelium? Was will es bewirken? Es geht im Evangelium
um die Ansage und Zusage eines von Gott her in Jesus Christus
ausgelösten Herrschaftswechsels. Ich vergleiche dies manchmal mit
der Zumutung, als Bürger eines kommunistischen Zwangsstaates mit den
darin eingeübten Verhaltensmustern nun zu einem freien, mündigen
Bürger in einer offenen Gesellschaft zu werden. Manche ehemaligen
DDR-Mitbürger arbeiten sich daran bis heute ab!
Uns
ist das Gespür für die „Fremdheit“ des Christlichen verloren
gegangen. Es geht um ein „Leben aus dem Vorgriff auf Gottes Reich“
inmitten einer von in-nerweltlichen Mächten beherrschten
Gesellschaft. Es ist, wie wenn Wintersportler mitten im Sommer etwa
mit ihren mit Rollen ausgestatteten Langlaufskiern für ihre
demnächst anstehenden alpinen Wettbewerbe trainieren. Das ist schon
für einen Zuschauer befremdlich! Hier leben und üben Menschen für
ein Zeit, die gewiss kommt, aber als kommende schon jetzt den
Einzelnen for-dert. 12
Auf
unsere christliche Existenz angewendet: Gibt es für ein solches
„Leben aus der Vorläufigkeit heraus“ überzeugende
Ausdrucksformen? Sind das vielleicht doch die Räte des Evangeliums:
ein Leben in Ehelosigkeit als Zeichen der Freiheit für Gott und den
Dienst am Menschen? Ein Leben in Verfügbarkeit und Gehorsam für
eine Lebensaufgabe oder auch die materielle Anspruchslosigkeit, die
an den Dingen dieser Welt nicht festklebt? Ich frage mich manchmal:
Was treibt eigentlich Menschen zum Pilgern? Ist es nicht ihre
Sehnsucht, dadurch „sich selbst zu finden“? Aber was meint das
eigentlich? Das Evangelium hat Potential zur Verfremdung des
Geläufigen, des Selbstverständlichen – und lässt so Neues
entdecken, das schlechthin „Neue“, ein Leben, das an Gott Maß
nimmt.
Zum
anderen ist für die Kirche und ihre Lebensäußerungen eine
Konzentration auf die Mitte ihrer Botschaft notwendig. Dieses besteht
einerseits in der Pro-klamation und der „Feier“ dieser von Gott
her erfolgten Freisetzung des Menschen und andererseits in deren
zeichenhafter Praktizierung. Das bedeutet: Gebet und Liturgie gehören
mit caritativem Handeln und christlichem Alltagszeugnis zusammen.
Glaube und Caritas dürfen nicht voneinander getrennt werden. Sie
inspirieren einander. Sie beglaubigen sich gegenseitig. Die Zukunft
wird vermutlich noch manche schmerzliche Trennung von bisher
gewohnten Formen kirchlichen Arbeitens und Agierens mit sich bringen,
besonders von solchen, die kaum noch mit dem spirituellen
„Grundwasser“ des Evangeliums in Verbindung stehen.
Was
mich besonders bedrängt: Das „Verstummen“ des Glaubens im
Lebensall-tag vieler Christen. Die Gläubigen im Kern unserer
Gemeinden und Gemeinschaften müssen wieder neu ein Gespür
entwickeln für Zeichen und Alltagsrituale, mit deren Hilfe die
Gottesgegenwart im Alltäglichen festgehalten werden können.
Ein
kleines Beispiel: Ein junges Ehepaar – die junge Frau sollte zu
Ostern getauft werden – sagt mir in einem vertraulichen Gespräch:
„Wir müssen jeden Morgen gemeinsam ca. 25 km in die nächste Stadt
zur Arbeit fahren. Wenn wir morgens aus dem Haus gehen, zeichnen wir
uns gegenseitig ein kleines Kreuz auf die Stirn!“ Die gemeinsame
Vergewisserung, von einer noch größeren Liebe umfangen und geborgen
zu sein, wird in einem schlichten, einfach zu praktizierenden Zeichen
zum Ausdruck gebracht – und darin als Deutung „nachhaltig“.
Das
bestärkt mich in der Überzeugung, dass die Religions- und
Kirchenferne im Osten Deutschlands den Menschen nicht angeboren,
sondern durch Ausfall- bzw. Mangelphänomene kulturell zugewachsen
ist. Das aber lässt sich ändern. 13
Das
bedeutet, um den Gedanken abzuschließen: Die Vermittlung und
Aneig-nung des Gottesglaubens in der Moderne wird nicht allein mit
theoretischer Unterweisung gelingen. Eher gilt die Einladung, es mit
dem Evangelium einmal zu „probieren“, darin Erfahrungen zu
sammeln, zu kosten, wie es „schmeckt“. Es bedarf in unserer
säkularen Welt personal geprägter „Glaubensbiotope“. Das sind
manchmal geistliche Gemeinschaften oder Ordenhäuser oder auch andere
freie Initiativen von Glaubenden, die sich einer sozialen oder
gesellschaftlichen Not zuwenden. „Und die Jünger gingen mit
(Jesus) und sahen, wo er wohnte“ (Joh 1,39).
Das
Evangelium ist vornehmlich die Botschaft einer existentiellen
Freisetzung des Menschen, die nicht mit Libertinismus verwechselt
werden darf. Menschen suchen nach der „Fülle“ des Lebens. Sie
wollen – biblisch ausgedrückt – „Reich-Gottes-Anwärter“
werden. Was bedeutet es eigentlich, dass in der heutigen Literatur
und Kunst so weitgefächert biblische Motive aufgegriffen werden,
freilich meist „gegen den Strich gebürstet“? Wo die Vision und
Praxis des „Gottesreiches“ im Leben von Glaubenden aufleuchtet,
stellt sich wie von allein Interesse ein.
Ich
meine, wir dürfen auch in der vor uns liegenden Zeit auf neue
Anstöße einer Inkulturation des Christlichen hoffen.
4.
Den „Nächsten“ als Anruf Gottes entdecken
In
einem war die DDR-Gesellschaft noch von säkularisierten christlichen
Idealen bestimmt: Ihre Führer träumten von einer „sozialistischen
Menschenfamilie“, in der aufgrund der Befriedigung der Bedürfnisse
aller die Menschen glücklich werden sollten. Dieser Traum ist
zerplatzt, vermutlich weniger wegen der falschen Ökonomie des alten
Systems als vielmehr wegen seines defizitären Menschenbildes. Der
Sozialismus wäre vielleicht mit Heiligen, aber sicher nicht mit uns
Sündern gelungen!
Wir
hatten diese Erfahrung schon kurz angesprochen: Zutiefst bleibt dem
Men-schen, nicht nur im Osten, das Verlangen erhalten, in
gelingenden, versöhnten Beziehungen leben zu können. Die wahren
Nöte des Menschen sind meist nicht die materiellen Nöte, sondern
weithin die Beziehungsnöte. Gelingende Beziehungen sind oftmals
entscheidend, wenn es um Lebensqualität, um Lebensfreude, um
personale Stabilität und Belastbarkeit geht. Solche Erfahrungen
glückender Beziehungen eröffnen meist auch einen Zugang zur
Gotteswirklichkeit. 14
So
gilt es zu lernen, den „Nächsten“ als Anruf Gottes zu entdecken
und meine Beziehung zu ihm als „Rohmaterial“ meiner
Gottesbeziehung zu verstehen. Dort, wo die Sozialwissenschaften von
Wertebeziehungen und Wertbindung reden, sprechen wir Christen von
Nächstenliebe, von Treue, von Dienstbereitschaft, von Sinnerfüllung
im Vergessen des „egoistischen“ Adam in uns. Die großen
institutionellen Werke der Nächstenliebe werden sicher auch in
Zukunft wichtig bleiben. „Sprechender“ aber wird sein die
Zuwendung von Mensch zu Mensch – um der Liebe Christi willen, der
durch seine „Armut“ uns reich ge-macht hat, wie Paulus einmal
sagt (vgl. 2 Kor 8,9). Das schrieb er übrigens, um für eine
Kollekte zu werben!
In
Thüringen hatten wir im Jahr 2007 die Freude, den 800. Geburtstag
der heiligen Elisabeth zu feiern. Für mich erstaunlich war die
Anteilnahme der nichtchristlichen Bevölkerung an diesem Gedenken.
Für manche der marxistisch indoktrinierten Thüringer war es
offensichtlich eine Entdeckung zu sehen, wie ein Leben, das sich vom
Himmel her versteht, sich nicht der Erde entfremdet. Es ist wohl doch
nicht so, dass Religion und Himmel nur etwas ist für „Engel und
die Spatzen“, wie einst Heine gespottet hat. Es ist wohl eher
anders: Wer keinen Himmel kennt, bekommt mit der Erde Probleme. Und
wer Gott ausblendet, versteht sich selbst nicht mehr. Als Bischof war
ich dankbar: Elisabeth hatte in diesem Jahr besser gepredigt als ich.
Unsere
Zeitgenossen wollen nicht von Kanzeln angepredigt werden. Sie suchen
vielmehr Menschen, die mit ihrem Leben vom Evangelium sprechen und
die zum „Dienst der Fußwaschung“ am Nächsten bereit sind. Und
das ist auch ein Sakrament, freilich eines, das – wie der Theologe
Hans Urs von Balthasar einmal gesagt hat – „vor den Kirchentüren
gespendet wird“.
Soweit
meine vier Anregungen für eine Nachhilfe in religiöser
Sprachkompetenz, und ich meine, diese gelten nicht nur für den
kirchenfernen Osten:
In
der Frage nach Gott unruhig bleiben; lernen, von Gott größer
denken;
die
Bereitschaft und den Willen in den Herzen wecken, eine religiöse
All-tagssprache zu entwickeln und so in Glaubensdingen für
Zeitgenossen auskunftsfähig zu werden;
persönliche
und gemeinschaftliche kulturelle Zeichen für die Gegenwart Gottes
und die Einladungen des Evangeliums zu setzen und schließlich:
den
Mitmenschen immer neu als einen Weckruf Gottes entdecken, der mich
und die Kirche insgesamt zum „Dienst der Fußwaschung“ am
Nächsten bereit macht.
15
Eine
Nachbemerkung sei noch erlaubt:
Was
ich gern meinen Pfarrern sage, gilt sicher auch allen Christen,
besonders jenen, die manchmal am derzeitigen Zustand der Kirche
leiden. Die Grundbefindlichkeit unseres Christseins darf von einer in
sich ruhenden Gewissheit getragen sein: Wir bezeugen einen Gott, der
nicht auf unseren Dienst angewiesen ist. Eine lebendige und auf die
Menschen zugehende Pastoral greift nicht einem hilflosen Gott unter
die Arme, sondern sie dient vor allem uns selbst: Wir
bleiben
in der Osterwirklichkeit, wenn wir zusammen mit dem österlich
präsenten Christus auf andere zugehen. Als Seelsorger schaue ich
letztlich zu bei dem, was Gottes Geist selbst in den Herzen der
Menschen bewirkt. Die kritische, aber von Grundsympathie getragene
Begleitung der Menschen, so wie sie sind, nicht, wie wir Bischöfe
sie haben möchten – das ist der Weg einer Kirche, die ihrer Rede
von Gott Zukunft eröffnet.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen