Mittwoch, 16. Oktober 2013

Heute von Gott sprechen – in säkularer Gesellschaft

Das war der Titel des Vortrags, den der em. Bischof Joachim Wanke am Donnerstag der vergangenen Woche im Audimax der Fachhochschule Nordhausen hielt, den ich in meinen Einträgen am folgenden Freitag und Samstag würdigte. Die erheblich davon abweichende Berichterstattung der „Nordhäuser Allgemeine“ veranlasste mich, bei Bischof Wanke die Erlaubnis zu erbitten, den Vortrag vollinhaltlich wiederzugeben. Nachdem ich diese inzwischen erhielt, eröffne ich interessierten Lesern meines Blogs, vom Inhalt dieses Vortrags Kenntnis davon zu nehmen, was Bischof Wanke wirklich ausführte. Und ich nutze dafür erneut und in sehr viel größeren Maße als bisher das Internet. Das Manuskript stimmt weitgehend mit dem gesprochenen Wort überein.

Öffentlicher Vortrag von Bischof em. Joachim Wanke , Nordhausen, 10. Oktober 2013

Meine Überlegungen zur Frage, wie von Gott reden, besonders im nichtchristlichen Umfeld, beginne ich mit einem kleinen Erlebnis. Manchmal gehe ich in meinem roten Diensttalar von meiner Wohnung aus zu Fuß in den Dom. Eines Tages geschah es: Ich war gerade im Begriff, einen Vater mit zwei kleinen Kindern an der Hand in der zum Dom führenden Stiftsgasse zu überholen. Da drehte sich eines der Kinder neugierig nach mir um und rief laut, mit dem Finger auf mich zeigend: „Sieh mal, Papa, da kommt der liebe Gott!“
Ich gebe zu: In voller „Dienstmontur“ macht ein Bischof schon etwas her – aber bei diesem Ausruf des Kindes wurde mein Gemüt doch sehr erheitert! Ich weiß nicht, welche frommen Filme der Kleine schon gesehen hatte oder was immer er sich unter Gott vorstellte, vermutlich etwas Feierliches, Fremdes, eben einen wie mich!
I. Beobachtungen zum Thema aus der Perspektive des religions- und kirchen-fernen Ostens
Ich habe beim Nachdenken über das mir gestellte Thema vornehmlich meine kirchenfernen Landsleute in Thüringen im Blick. Rund 70 % von ihnen gehören keiner Kirche an, sei es, dass sie sich von der Kirche ausdrücklich getrennt haben, sei es – und das ist vermutlich die Mehrheit – , dass sie von Kindheit an keine Kirchennähe hatten. Es gibt gerade in der Generation der 30 – 50-jährigen ehemaligen DDR-Bürger viele, die von religiöser Erziehung völlig unberührt, gleichsam „chemisch rein“ von Religion aufgewachsen sind.
Bezeichnend ist die Antwort, die ein Jugendlicher in Leipzig bei einer Befragung auf der Straße einem Interviewer auf die Frage gab, ob er religiös sei: „Religiös? Nein, das bin ich nicht. Ich bin...“ – und man sieht ihn gleichsam nach einem passenden Wort suchen – „Ich bin normal!“
Man kann bei den Menschen in den neuen Bundesländern sicher von einer Art religiösem „Sprachverlust“ sprechen, also von der Unfähigkeit, bestimmte Grunderfahrungen (etwa Angst oder Sorge, Freude oder Zuversicht) religiös ausdrücken zu können. Die religiöse Sprache steht vielen Zeitgenossen nicht mehr zur Verfügung. Christlich-kirchliche Vokabeln sind für diese Menschen wie „Chinesisch“. Warum das so ist, ist nochmals eine eigene Frage. 2

Ob den Menschen mit diesem Sprachverlust auch die in dieser Sprache ausge-drückte Sache entschwindet? Dann hätten wir in der Tat einen neuen Men-schentypus vor uns, den „religiös Unmusikalischen“ (Max Weber), einen „homo areligiosus“ (Eberhard Tiefensee). Ich bin freilich skeptisch. Ob es „religiös Un-musikalische“ ebenso gibt wie eben von Natur aus unmusikalische Menschen, bleibt für mich eine offene Frage. Ich neige dazu zu sagen: Jeder Mensch ist offen für Transzendenz. Das gehört zu seinem Menschsein. Aber mir ist bewusst: Es kommt bei einem generellen Urteil in dieser Frage sehr darauf an, was man unter „Religiosität“ versteht.
Religion und religiöse Praxis gehören, wie uns die Religionswissenschaften belehren, von Anfang an zur kulturellen Ausstattung des Menschen. Die Frage, ob es so etwas wie Gott wirklich gibt, wie man mit ihm in Verbindung treten kann und ob seine Existenz etwas mit unserem Leben zu tun haben könnte, bewegt die Menschen von Urzeiten an. Es ist sozusagen das Markenzeichen des Menschen zu fragen, ob er mit sich allein ist oder ein transzendentes Gegenüber hat.
In unserem von Aufklärung und naturwissenschaftlichem Denken geprägten Kulturraum hat sich das freilich radikal gewandelt. Das Fragen nach Gott und dem tragenden Grund des Seins hat sich von religiösen Sprachmustern emanzipiert. Die noch im 17./18. Jahrhundert bei den Aufklärern meist selbstverständliche Bejahung der Annahme, dass es Gott gibt, ist der skeptischen Infragestellung der Gottesexistenz gewichen. Jüngst hat der kanadische Philosoph Charles Taylor in seinem Werk Ein säkulares Zeitalter (dt. 2009) diese fundamentale Wende ausführlich dargestellt. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem „Nova-Effekt“, bei dem freilich manche der alten Fragestellungen in veränderter Gestalt wieder neu auftauchen. Das Fragen des Menschen nach sich selbst und seiner Zukunft kann nicht stillgestellt werden.
Richtig ist: Unsere heutige Situation ist bestimmt durch diesen kurz skizzierten tief greifenden kulturellen Wandel. Im Osten stellt er sich zudem verstärkt dar als ein radikaler Abbruch religiöser Tradition, seinerzeit zudem bewusst gefördert durch den kommunistischen Staat und seine Ideologie.
Ein Beispiel: Seit einigen Jahren steht auf dem Erfurter Weihnachtsmarkt wieder eine Krippe mit den dazugehörigen Figuren. Bekannte berichten mir, dass immer wieder junge Mütter ihren Kindern nicht antworten können, wenn diese über die Figuren Auskunft haben wollen. Interpretationsversuche in Richtung der Märchen von Frau Holle oder Rumpelstilzchen hat es auch schon gegeben! 3

Man mag darüber schmunzeln. Aber diese und viele andere Beobachtungen zeigen: Hier ist mehr weggebrochen als nur christliches Grundwissen. Hier ist eine Entfremdung von den eigenen kulturellen Wurzeln eingetreten, die sich etwa in der Hilflosigkeit offenbart, mit den christlichen Festen umzugehen.
Doch bedeutet das noch lange nicht: Desinteresse am Religiösen! Ein Pfarrer aus dem Bayrischen erzählte mir einmal, welches Neuheitserlebnis für ihn eine ungetaufte Ostdeutsche war, die mit ihrem bayrischen Verlobten zum Brautgespräch erschien und sich dort durchaus interessiert, aber mit merkwürdigem Vokabular nach dem erkundigte, was eigentlich ein Katholik alles zu glauben hätte. Der Pfarrer gestand mir, er sei ordentlich „ins Schwitzen“ gekommen. Er musste sich in seiner Denk- und Sprechweise gewaltig umstellen, um der gutwillig Fragenden einigermaßen verständlich antworten zu können.
Es kann manchmal ein Vorteil sein, wenn nichtreligiös aufgewachsene Menschen den christlichen Glauben unvermittelt als etwas völlig Neues entdecken. Wenn Vorurteile fehlen, kann eine Begegnung mit dem Gottesglauben unter Umständen besser glücken als wenn man meint, immer schon alles zu „wissen“.
Gern möchte ich auch dies zu bedenken geben: Die religiöse Rede schafft nicht Gottesgegenwart. Gott ist immer schon da, auch dort, wo wir Pfarrer ihn hintragen wollen. Oder etwas anders formuliert: Von Gott reden ist nicht belehrende „Einrede“, ist nicht Indoktrination, sondern ein „Aufdecken“ der vorgängig vorhandenen bewussten oder unbewussten Gottesbeziehung jedes Menschen.
Die christliche Verkündigung in ihren vielfältigen Formen schafft also nicht das Faktum der Gottesberührung. Sie hilft, den Anruf Gottes bewusst und die Antwort darauf ausdrücklich zu machen, den Menschen also (um mit dem Apostel Paulus zu sprechen) zum „Danken“ anzustiften (vgl. 2 Kor 4,15). Hier passt das Diktum von G. K. Chesterton, der den Unterschied zwischen einem Christen und einem Atheisten daran festmacht, dass der Atheist im Unterschied zum Christen niemanden kennt, dem er für sein Dasein danken soll. Das also ist die innere Dynamik des religiösen Aktes: Gottes Anruf, der jedem Menschen gilt, sucht einen „Resonanzraum“, in dem die „Melodie“ seines Wortes, das Evangelium zum Klingen kommen kann, noch genauer: zum „Mitsingen“ anstiften kann.
Das bedeutet: Seelsorger und Verkünder des Glaubens können nur „Hebam-mendienste“ im Blick auf das Gottesverhältnis der Menschen leisten, niemals das von Gott geschenkte Leben „produzieren“. Diese Haltung verhindert zum einen die vorschnelle Etikettierung und Abwertung von Menschen als rettungslos unreligiös und sie beflügelt zum anderen den seelsorglichen Einfallsreich-4

tum, unter Umständen auch neue Wege in der Verkündigung des Gottesglaubens zu beschreiten.
Auf eine spezielle Schwierigkeit kirchlichen Wirkens im Osten sei hier hingewiesen: Ein diffuses Misstrauen gegenüber allem Institutionellen, nicht nur staatlichen Einrichtungen, sondern eben auch kirchlichen. Manche Ostdeutsche sahen nach dem politischen Umbruch 1989/90 das Christentum als eine Art neue Partei an, die sich nun anschickt, die alte Staatspartei mit ihrem Dominanzanspruch abzulösen. Gerade deshalb wollen manche ihre bisherige Distanziertheit zu jedem weltanschaulichen oder religiösen Bekenntnis trotzig bewahren – vergleichsweise wie den grünen Pfeil an den Ampeln unserer Straßenkreuzungen – getreu dem Motto: „Alles haben uns die Westler genommen – aber unsere Nichtkirchlichkeit lassen wir uns nicht nehmen!“
Dieses diffuse Misstrauen durchdringt auch die zivile Gesellschaft. Das hängt sicher mit den ideologischen Pressionen und Bespitzelungsmethoden des alten Systems zusammen. An den Folgen dieser geistigen Schädigung tragen wir im Osten noch heute. Aber das erklärt meines Erachtens nicht alles.
Im Letzten erhebt sich hier ein Grundverdacht gegen das Leben selbst. Dieser Verdacht sagt: Das Leben ist, so wie es ist, nicht lebenswert. Es lohnt sich letztlich nicht. Speziell ins Religiöse gewendet, gilt: Die Christen stehen im Osten wieder unter einem Grundverdacht: Damals vor der friedlichen Revolution war es der „Projektionsverdacht“ (frei nach Feuerbach und Marx: Der religiöse Glaube verdirbt das Denken). Jetzt danach erhebt sich der „Entfremdungsverdacht“: Glaube und Kirche entfremden vom Leben, verderben das Diesseitsglück, vermiesen das Leben und machen alles grau und fad! Neuerdings tritt noch der Verdacht hinzu, dass entschiedenes religiöses Bekenntnis den Menschen zum Fanatiker, zum „Taliban“ mache….
Es ist unendlich schwer, in der Seelsorge solchen Verdächtigungen zu begeg-nen, etwa dem Grundmisstrauen „Ich komme zu kurz!“. Aber genau hier liegt der springende Punkt für die evangeliumsgemäße Profilierung der Rede von Gott. Denn diese darf sagen: „Du kommst nicht zu kurz. Im Gegenteil: Dir ist alles geschenkt, denn nichts im Himmel und auf der Erde vermag dich von Gottes Liebe zu trennen“ (vgl. Röm 8,31 ff).
Wir wissen aus Erfahrung: Wer in einem Umfeld von menschlicher Geborgenheit und Annahme aufwachsen kann, wird später leichter lernen, sich selbst anzunehmen und sich an Aufgaben zu binden. Auch hier ist sofort hinzuzufü-5

gen, dass vieles, was an Bindungsunfähigkeit in der Gegenwart anzutreffen ist, nicht allein der alten Ideologie anzulasten ist, sondern den Modernisierungsschüben, die uns in West und Ost gleichermaßen erfasst haben, im Osten z. T. noch radikaler als im Westen.
Meine Beobachtung ist: Humanistische Werte, auch das Christentum und neu-erdings auch Elemente nichtchristlicher Religiosität sind im Osten durchaus ak-zeptiert, werden aber offensichtlich von den Menschen mit einer gewissen un-tergründigen Ironie betrachtet – frei nach dem Motto: „Hilft es auch nicht, so schadet es doch auch nicht.“
Vermutlich spüren wir im Osten stärker als unsere west- und süddeutschen Landsleute, dass das gesellschaftliche Klima insgesamt sich wandelt. Es ist nicht nur die etwas miefige Wärme einer geschlossenen Gesellschaft, die manche hie und da im Osten als nostalgische Erinnerung pflegen wollen. Eine säkular gewordene Gesellschaft fragt wieder nach den Quellen, aus denen sich Visionen von Mitmenschlichkeit, von Vertrauen, von gesellschaftlichem Zusammenhalt und zwischenmenschlicher Solidarität speisen lassen. Dabei kommt auch wieder der christliche Glaube in den Blick. Jürgen Habermas hat ja in den letzten Jahren seine nichtreligiösen Zeitgenossen auf die Sinn-Ressourcen des Christentums aufmerksam gemacht, die freilich – so seine Forderung – für ein säkulares Verständnis erschlossen werden müssten. Die derzeitige Diskussion um die Begründung von Menschenwürde bzw. universal geltenden Menschenrechten wäre ein Beispiel dafür. Aber das wäre ein eigenes Thema.
Dass all dem, was ich hier skizziere, im Osten auch immer wieder andere Tendenzen entgegenstehen, sei nur angedeutet. Wo Traditionsabbrüche erfahren werden, erwacht die Sehnsucht nach Kontinuität und Beheimatung. Wo Diesseitsglück brüchig und schal wird, gibt es ein neues Fragen nach dem, was wirk lich sättigt. Wo eine ideologiegeschädigte Gesellschaft in Misstrauen und ge-genseitigen Verdachts- und Neidgefühlen versinkt, gibt es neue Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit, nach gelingenden Beziehungen, nach einem DU, dem man ver-trauen kann, nach reueloser Hingabe und Anbetung. Schatten gibt es nur dort, wo es auch Licht gibt; Hunger und Durst sind besonders quälend, wenn man die Möglichkeit einer Sättigung erahnt. Die Entlarvung der alten Ideologie als men-schenfeindlicher Utopie bringt zumindest die Chance mit sich, sich neuen Einsichten zu öffnen.
Hier deutet sich schon an, welcher Grundtenor die Rede von Gott heute in einer Gesellschaft zu bestimmen hätte, die sich in Selbstzweifel, in Verdächtigungen und Misstrauen verliert: nicht Bedrohung oder Einschüchterung, sondern 6

Ermutigung zur Annahme des Lebens und zu Vertrauen. Nur so lässt sich Le-bensangst, die meint zu kurz zu kommen, überwinden und eingefressenes Misstrauen auflösen.
Sind unsere Kirchen, sind wir Christen selbst dafür gerüstet, diesen Dienst der „Ausleuchtung“ der menschlichen Existenz zu leisten? Das führt schon zu einem zweiten Teil meiner Überlegungen:
II. Christlicher Glaube und unsere Rede von Gott heute
Im Blick auf die nachfolgenden Überlegungen möchte ich zunächst auf eine Ei-gentümlichkeit der religiösen Überzeugung hinweisen, die sie übrigens mit anderen Wertüberzeugungen teilt. Der religiöse Glaube ist ja vorrangig nicht das Ergebnis einer nüchternen, rein rationalen Auswahl aus einem Kranz vorgegebener Möglichkeiten, aus dem ich mir ein passendes Angebot aussuche. Religiöse Überzeugungen entstehen vielmehr durch ein existentielles Hingerissen-Sein, ein Überwältigt-Werden, das seine eigene Evidenz hat. Ein Indiz dafür ist die Beobachtung, dass echte religiöse Bindung von innen her gerade nicht als Knebelung erfahren wird, sondern als ein tiefes und beglückendes „Zu-sich-Selbst-Kommen“, wie immer wieder Erwachsene, die sich zur Taufe melden, eindrücklich bezeugen. Das ist übrigens für mich das stärkste Argument gegen das brandenburgische Schulfach LER, das ja den Schülern Wertüberzeugungen gleichsam objektiv vorstellen will in der Hoffnung, dass sich dann die jungen Menschen für eine von ihnen entscheiden.
Was den weltanschaulichen Pluralismus in der Gemengelage der offenen Ge-sellschaft so problematisch macht, möchte ich (in Anlehnung an Hans Joas) eher mit dem Begriff Kontingenzerfahrung fassen.1
1 Vgl. Hans Joas, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg i. Br. 2004, 32ff.; auch ders., Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg i.Br. 2012.
Kontingent ist eine Sache, die weder notwendig noch unmöglich ist. Es gibt etwas, aber es muss nicht sein, dass es das gibt! Der Korrespondenzbegriff zu Kontingenz ist der Begriff Notwendigkeit. Auf unser Thema hin gewendet: Der Kernpunkt unserer gegenwärtigen Verunsicherung als Christen und Kirche(n) liegt in der sprunghaften Zunahme von Kontingenzerfahrungen im Blick auf die Deutung des Lebens und der Welt. 7

Ich mache das einmal anschaulich mit einem von Hans Joas entliehenen Vergleich. Ein Ehemann entdeckt nach einigen Jahren, dass es außer seiner Frau noch Hunderte anderer liebenswerter Frauen gibt. Die Ursprungserfahrung einer Liebe, die sein JA und seine anhaltende Treue zu dieser konkreten Partnerin begründet hat, weitet sich zu einer Kontingenzerfahrung: „Hier stehe ich – aber ich könnte auch ganz anders!“
Nun ist die bloße Konfrontation mit der Tatsache, dass es neben der christlichen Religion auch andere Religionen bzw. säkulare Lebensdeutungen gibt, noch kein hinreichender Grund, meine persönliche Bindung an den christlichen Glauben zu erschüttern. Freilich: Die existenzielle Erfahrung gestiegener Kontingenz meiner religiösen Lebensoption verändert die Qualität, die Art der Bindung. Ohne eine Einbeziehung dieser Infragestellungen meiner Entscheidung durch das Verhalten anderer bleibt meine Entscheidung, meine Bindung nicht überlebensfähig.
Genau in diesem Prozess einer Vertiefung, einer qualitativen (!) Verdichtung unseres Gottesglaubens stehen wir heute. Der geweitete Erfahrungsraum für den Einzelnen hat eine Ausweitung des Freiheitsraumes, und damit eine Vervielfältigung der Handlungsoptionen mit sich gebracht. Wie dieser Wandlung der Rahmenbedingungen für einen verantwortbaren religiösen Glauben in der Moderne zu begegnen ist, bleibt die Grundherausforderung einer wachen zeitgenössischen christlichen Spiritualität.
Wie also von Gott in einer solchen Situation sprechen? Wie kann das Evangelium in unserem Land aus einem Erbe zu einem neuen Angebot werden? Ich trage einmal vier Überlegungen vor, von denen ich mir wünschte, dass sie im Kern unserer Kirche in Gesamtdeutschland konsensfähig sein könnten.
1. Gott größer denken
Es gilt heute mehr denn je zu beherzigen, was das 2. Vatikanische Konzil in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes gesagt hat: Der zeitgenössische Atheismus und Agnostizismus sind zunächst nicht als Bedrohung, sondern als Chance zur Vertiefung des eigenen Gottesglaubens und der eigenen christlichen Lebenspraxis zu verstehen.2 Selbstkritisch an die eigene Adresse gerichtet: Unser religiös-kirchliches Hantieren mit Gott wirkt oft zu kurzschlüssig, zu harmlos und
2 „Das Heilmittel gegen den Atheismus kann nur von einer situationsgerechten Darlegung der Lehre und vom integren Leben der Kirche und ihrer Glieder erwartet werden. Denn es ist Aufgabe der Kir-che, Gott den Vater und seinen menschgewordenen Sohn präsent und sozusagen sichtbar zu machen, indem sie sich selbst unter der Führung des Heiligen Geistes unaufhörlich erneuert und läutert“ (Gau-dium et spes 21). 8

ist meist zu fern der erfahrenen Wirklichkeit des Lebens angesiedelt. Ich sage es einmal etwas ungeschützt: Der christliche Glaube ist zu sehr „Lehre“ geworden. Er bringt nicht mehr die Kraft auf, die eigenen Bedürfnisse, Fragen und Erfahrungen zu deuten. Natürlich braucht christliche Religiosität ein Mindestmaß an objektiver Lehrstruktur. Der Glaube muss sich ja der kritischen Nach-frage des Denkens stellen. Es ist freilich bedenklich, wenn das subjektive Erleben, Fragen, ja auch Zweifeln kein Zugangsweg zur Wahrheit des Christentums mehr sein kann. Der Gottesbegriff und das christliche Credo sind zu lange Zeit in unseren Katechismen einer enggeführten Schulbegrifflichkeit ausgeliefert gewesen. Das Paradoxe, das Irrationale und das Bedrohliche des Lebens sind nicht mehr in das religiöse Lebenshaus eingelassen worden.
Dabei ist das gerade eine Stärke des katholischen Christentums, mit der ganzen Wirklichkeit menschlicher Biographien umgehen zu können, auch mit den dunklen und unaufgeräumten Hinterzimmern. Ich bewundere die großen Seelsorger der Vergangenheit, wie etwa Franz von Sales oder Johann Michael Sailer, die um die Abgründe des Menschenherzens wussten und dennoch für und mit jedem Menschen hoffen konnten.
In diesem Sinne sprechen eine Reihe von heutigen Theologen von der Got-teskrise als der eigentlichen Herausforderung des Christentums in heutiger Zeit. „Gotteskrise“ in dem Sinn, dass Gott zu klein, zu harmlos gedacht wird. Vor dem Forum heutigen kritischen Denkens ist der Anspruch auf eine autoritative Weltdeutung, wie sie in der Normalverkündigung der Kirche begegnet, nicht mehr überzeugend. Gott wird manchmal zu schnell zu einer alles erklärenden „Weltformel“ gemacht. Damit werden im Grunde die biblischen und altchristlichen Aussagen über die Transzendenz Gottes, über das „Anderssein“ Gottes nicht genügend ernst genommen. Zu einer Weltformel kann man nicht beten, man kann vor ihr nicht weinen, nicht einmal mehr ihr fluchen. Man kann sie höchstens für falsch halten, sie bestreiten oder sie für überflüssig halten. Von der Radikalität des alttestamentlichen Psalmisten, der mit Gott hadert, der gegen ihn protestiert, ja manchmal an ihm verzweifelt, ist die christliche Normalfrömmigkeit oft weit entfernt.
Gott größer denken“ heißt, dass wir selbst in tief gehender Weise umkehren müssen zu dem Gott der Verkündigung Jesu und der biblischen Schriften. Wir brauchen eine Radikalisierung unseres Gottesglaubens, eine Transparenz allen kirchlichen Agierens und Redens auf die unbegreiflich größere Wirklichkeit Gottes hin, vor dem allein all unser Fragen verstummen kann. In diesem Sinn ist es richtig, von der „Selbstevangelisierung“ der Kirche zu reden, die vor der Neue-vangelisierung der Welt zu leisten ist. Ich vermute, dass wir derzeit frömmig-9

keitsgeschichtlich gesehen den Preis für die starke Verkirchlichung unseres Glaubens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu bezahlen haben.
Es ist wahr: Gott liegt nicht auf den Ramschtischen unserer Warenhäuser herum. Er ist kein Billigprodukt. Er ist vielmehr anspruchsvoll. Er ist der ganz Andere. Er kann durchaus verunsichern. Er führt auf ungewohntes Terrain. Aber er führt ins Weite. Er lässt Grenzen überschreiten. Er ver-mag zu heilen bis in die Wurzel unserer Existenz. „Gott, du mein Gott, dich suche ich, meine Seele dürstet nach dir!“ so betet der Psalmist. Psalm 63 ist ein Text, der auch Zweiflern und Agnostikern etwas sagen kann. Unter uns Christen ist das Grundwasser der Gottessehnsucht wichtig. Wenn dieses Grundwasser steigt, kann vieles auch in einem säkularen Land wieder religiös wachsen und zum Blühen kommen.
2. Religiös auskunftswillig und auskunftsfähig werden
Ich knüpfe noch einmal an jene Episode an, die ich von dem bayerischen Pfarrer erzählte, der mit der ostdeutschen Frau nur mit Mühe ins Gespräch kam. Das „diesseitige“ Lebensgefühl, das ich bei meinen mitteldeutschen Landsleuten (und manchmal auch bei mir) diagnostizierte, ist nämlich gar nicht so „diesseitig“, wie es sich gibt. Hinter den Fassaden und durch die Spalten und Ritzen von Biographien sind Sehnsüchte und Hoffnungen erkennbar, die erfahrungsgemäß unsere Möglichkeiten weit überschreiten.
Das ist freilich eine Auskunft, die nicht im Sinne einer reinen „Anknüpfungs-Pastoral“ missverstanden werden darf. Ich erinnere an das soeben über die Krise unserer Gottesrede Gesagte. Gott ist nicht einfach eine Antwort auf mensch-liche Bedürfnisse, er ist vielmehr eine Antwort auf das Verlangen, einem ewigen DU zu begegnen, dem ganz „Anderen“, der mir hilft, mich selbst zu verstehen. Der Atem meines persönlichen Glaubens ist mehr die Sehnsucht als das alles Verstehen- und Erklären-Können um jeden Preis!
In diesem Sinn: auskunftsfähig werden für das Evangelium. Wenn der Gott Jesu Christi „mehr als notwendig“ ist oder gar „nützlich“: Was hat das für Folgen für unser Sprechen von Gott? Könnten wir an der Verkündigung Jesu, etwa an dem Gleichnis vom verlorenen Sohn bzw. vom grundlos gütigen Vater (Lk 15) etwas für die heute notwendige Art und Weise unserer Rede von Gott lernen? Wie kann Gott und seine Verheißung so zur Sprache kommen, dass Gott als anderer Name für die Freiheit und die Gnadenhaftigkeit unseres Lebens neu entdeckt werden kann? Die französische Sprache kennt das Wort gratuité. Gnade, Liebe 10

sind immer „grundlos“. Aber gerade diese unbegreifliche gratuité, die Grundlo-sigkeit unserer Existenz macht deren Seligkeit aus.
Was wir dringend und verstärkt brauchen, ist solch eine in den Gottesglauben einführende Katechese. Das biblisch gesättigte, vom Glauben der Kirche inspi-rierte Sprechen von Gott ist ein wichtiges Desiderat der Seelsorge heute. Das Ziel dieses Lernprozesses wäre die „Sprachbefähigung“ aller in Glaubensdingen. In diesem Sinn sind die Wiederbelebung des Erwachsenenkatechumenats und von Formen einer „dialogischen Katechese“ Aufgaben, die für die Zukunft der Kirche wichtig sind. Wir müssen noch mehr lernen „Wege erwachsenen Glaubens“ zu gehen. Nicht nur die mit der Pastoral hauptberuflich Betrauten, alle Getauften müssen religiös „auskunftswillig“ und „auskunftsfähig“ werden, einschließlich in der Sprache des Gebetes. Martin Buber war es, der einmal sagte: Man könne ohnehin von Gott glaubhaft nur in der Form des Vokativs sprechen, also in der Gebetsanrede.
Wir brauchen ferner so etwas wie ein öffentliches Aufmerksam-Machen auf den Gottesglauben und seine Implikationen.
Einige Beispiele für diese Art der Anknüpfung der christlichen Verkündigung an die Lebenssituation von Menschen sind im Bistum Erfurt entwickelt worden, etwa Segnungsgottesdienste, die den Blick für das Geschenk von Freundschaft und Partnerschaft stärken, das nächtliche Weihnachtslob für Nichtchristen, die Feier der Lebenswende für junge, ungetaufte Menschen, das monatliche Totengedenken als Angebot für Bewohner der Stadt Erfurt, die ihre Angehörigen haben anonym bestatten lassen, „Kosmas und Damian-Gottesdienste“ für Langzeitkranke und Behinderte, die trotz aller medizinischen Hilfe mit ihren Begrenzungen weiterleben müssen, oder seit drei Jahren die Aktion von Theologiestudenten für die vielen nichtgläubigen Besucher des Erfurter Weihnachtsmarktes „Folge dem Stern“, die ihnen den Sinn des Weihnachtsfestes erschließen will.
Doch sollten auch andere, vielleicht noch tiefer im Wesen des Menschen anset-zende Anknüpfungen in den Blick genommen werden. Aus meiner Erfahrung heraus ist das besonders die Erfahrung einer glückenden Beziehung, manchmal auch nur die Sehnsucht danach, oder auch die Erfahrung eines Scheiterns solcher Beziehungen. Solche Erfahrungen bilden so etwas wie ein „Tor zur Transzendenz“. Beziehungen kann man bekanntlich nicht machen. Sie sind zutiefst Geschenk. Und doch bestimmen ihr Gelingen oder Misslingen die Qualität des Lebens. 11

Es geht um ein Anbieten des Glaubens, das nicht „von oben“ her kommt, son-dern das aus einer Haltung der Grundsympathie mit den Menschen jene Momente des Evangeliums zum Leuchten bringt, die den Menschen eine Identifizierung mit der christlichen Botschaft von innen her ermöglichen.
Was mich zuversichtlich stimmt: Es gibt eine wachsende Sehnsucht nach dem Heiligen in der Gesellschaft, auch wenn atheistische Gereiztheiten und Tendenzen zum Blasphemischen ebenso (oder gerade deswegen?) zu registrieren sind. Die Präsenz des Religiösen in der Gesellschaft transformiert sich, so wie manche Elemente ihren Aggregatzustand ändern – aber das Religiöse verschwindet nicht.
3. Eine neue christliche „Sprach- und Zeichenkompetenz“ gewinnen
Damit füge ich dem Wunsch nach einer neuen religiösen Auskunftsfähigkeit noch einen weiteren Gesichtspunkt hinzu, den einer neu zu gewinnenden kulturellen „Sprach- und Zeichenkompetenz“ für das Religiöse. Dazu wäre eine zweifache Anstrengung nötig: Die Verfremdung unserer Rede von Gott und eine Konzentration auf die Mitte der christlichen Botschaft. Statt Konzentration könnte man auch sagen: Elementarisierung.
Zum einen wird das Christliche „verfremdet“ werden müssen, um in seinem eigentlichen Profil erkennbar zu werden. Worum geht es eigentlich im Evangelium? Was will es bewirken? Es geht im Evangelium um die Ansage und Zusage eines von Gott her in Jesus Christus ausgelösten Herrschaftswechsels. Ich vergleiche dies manchmal mit der Zumutung, als Bürger eines kommunistischen Zwangsstaates mit den darin eingeübten Verhaltensmustern nun zu einem freien, mündigen Bürger in einer offenen Gesellschaft zu werden. Manche ehemaligen DDR-Mitbürger arbeiten sich daran bis heute ab!
Uns ist das Gespür für die „Fremdheit“ des Christlichen verloren gegangen. Es geht um ein „Leben aus dem Vorgriff auf Gottes Reich“ inmitten einer von in-nerweltlichen Mächten beherrschten Gesellschaft. Es ist, wie wenn Wintersportler mitten im Sommer etwa mit ihren mit Rollen ausgestatteten Langlaufskiern für ihre demnächst anstehenden alpinen Wettbewerbe trainieren. Das ist schon für einen Zuschauer befremdlich! Hier leben und üben Menschen für ein Zeit, die gewiss kommt, aber als kommende schon jetzt den Einzelnen for-dert. 12

Auf unsere christliche Existenz angewendet: Gibt es für ein solches „Leben aus der Vorläufigkeit heraus“ überzeugende Ausdrucksformen? Sind das vielleicht doch die Räte des Evangeliums: ein Leben in Ehelosigkeit als Zeichen der Freiheit für Gott und den Dienst am Menschen? Ein Leben in Verfügbarkeit und Gehorsam für eine Lebensaufgabe oder auch die materielle Anspruchslosigkeit, die an den Dingen dieser Welt nicht festklebt? Ich frage mich manchmal: Was treibt eigentlich Menschen zum Pilgern? Ist es nicht ihre Sehnsucht, dadurch „sich selbst zu finden“? Aber was meint das eigentlich? Das Evangelium hat Potential zur Verfremdung des Geläufigen, des Selbstverständlichen – und lässt so Neues entdecken, das schlechthin „Neue“, ein Leben, das an Gott Maß nimmt.
Zum anderen ist für die Kirche und ihre Lebensäußerungen eine Konzentration auf die Mitte ihrer Botschaft notwendig. Dieses besteht einerseits in der Pro-klamation und der „Feier“ dieser von Gott her erfolgten Freisetzung des Menschen und andererseits in deren zeichenhafter Praktizierung. Das bedeutet: Gebet und Liturgie gehören mit caritativem Handeln und christlichem Alltagszeugnis zusammen. Glaube und Caritas dürfen nicht voneinander getrennt werden. Sie inspirieren einander. Sie beglaubigen sich gegenseitig. Die Zukunft wird vermutlich noch manche schmerzliche Trennung von bisher gewohnten Formen kirchlichen Arbeitens und Agierens mit sich bringen, besonders von solchen, die kaum noch mit dem spirituellen „Grundwasser“ des Evangeliums in Verbindung stehen.
Was mich besonders bedrängt: Das „Verstummen“ des Glaubens im Lebensall-tag vieler Christen. Die Gläubigen im Kern unserer Gemeinden und Gemeinschaften müssen wieder neu ein Gespür entwickeln für Zeichen und Alltagsrituale, mit deren Hilfe die Gottesgegenwart im Alltäglichen festgehalten werden können.
Ein kleines Beispiel: Ein junges Ehepaar – die junge Frau sollte zu Ostern getauft werden – sagt mir in einem vertraulichen Gespräch: „Wir müssen jeden Morgen gemeinsam ca. 25 km in die nächste Stadt zur Arbeit fahren. Wenn wir morgens aus dem Haus gehen, zeichnen wir uns gegenseitig ein kleines Kreuz auf die Stirn!“ Die gemeinsame Vergewisserung, von einer noch größeren Liebe umfangen und geborgen zu sein, wird in einem schlichten, einfach zu praktizierenden Zeichen zum Ausdruck gebracht – und darin als Deutung „nachhaltig“.
Das bestärkt mich in der Überzeugung, dass die Religions- und Kirchenferne im Osten Deutschlands den Menschen nicht angeboren, sondern durch Ausfall- bzw. Mangelphänomene kulturell zugewachsen ist. Das aber lässt sich ändern. 13

Das bedeutet, um den Gedanken abzuschließen: Die Vermittlung und Aneig-nung des Gottesglaubens in der Moderne wird nicht allein mit theoretischer Unterweisung gelingen. Eher gilt die Einladung, es mit dem Evangelium einmal zu „probieren“, darin Erfahrungen zu sammeln, zu kosten, wie es „schmeckt“. Es bedarf in unserer säkularen Welt personal geprägter „Glaubensbiotope“. Das sind manchmal geistliche Gemeinschaften oder Ordenhäuser oder auch andere freie Initiativen von Glaubenden, die sich einer sozialen oder gesellschaftlichen Not zuwenden. „Und die Jünger gingen mit (Jesus) und sahen, wo er wohnte“ (Joh 1,39).
Das Evangelium ist vornehmlich die Botschaft einer existentiellen Freisetzung des Menschen, die nicht mit Libertinismus verwechselt werden darf. Menschen suchen nach der „Fülle“ des Lebens. Sie wollen – biblisch ausgedrückt – „Reich-Gottes-Anwärter“ werden. Was bedeutet es eigentlich, dass in der heutigen Literatur und Kunst so weitgefächert biblische Motive aufgegriffen werden, freilich meist „gegen den Strich gebürstet“? Wo die Vision und Praxis des „Gottesreiches“ im Leben von Glaubenden aufleuchtet, stellt sich wie von allein Interesse ein.
Ich meine, wir dürfen auch in der vor uns liegenden Zeit auf neue Anstöße einer Inkulturation des Christlichen hoffen.
4. Den „Nächsten“ als Anruf Gottes entdecken
In einem war die DDR-Gesellschaft noch von säkularisierten christlichen Idealen bestimmt: Ihre Führer träumten von einer „sozialistischen Menschenfamilie“, in der aufgrund der Befriedigung der Bedürfnisse aller die Menschen glücklich werden sollten. Dieser Traum ist zerplatzt, vermutlich weniger wegen der falschen Ökonomie des alten Systems als vielmehr wegen seines defizitären Menschenbildes. Der Sozialismus wäre vielleicht mit Heiligen, aber sicher nicht mit uns Sündern gelungen!
Wir hatten diese Erfahrung schon kurz angesprochen: Zutiefst bleibt dem Men-schen, nicht nur im Osten, das Verlangen erhalten, in gelingenden, versöhnten Beziehungen leben zu können. Die wahren Nöte des Menschen sind meist nicht die materiellen Nöte, sondern weithin die Beziehungsnöte. Gelingende Beziehungen sind oftmals entscheidend, wenn es um Lebensqualität, um Lebensfreude, um personale Stabilität und Belastbarkeit geht. Solche Erfahrungen glückender Beziehungen eröffnen meist auch einen Zugang zur Gotteswirklichkeit. 14

So gilt es zu lernen, den „Nächsten“ als Anruf Gottes zu entdecken und meine Beziehung zu ihm als „Rohmaterial“ meiner Gottesbeziehung zu verstehen. Dort, wo die Sozialwissenschaften von Wertebeziehungen und Wertbindung reden, sprechen wir Christen von Nächstenliebe, von Treue, von Dienstbereitschaft, von Sinnerfüllung im Vergessen des „egoistischen“ Adam in uns. Die großen institutionellen Werke der Nächstenliebe werden sicher auch in Zukunft wichtig bleiben. „Sprechender“ aber wird sein die Zuwendung von Mensch zu Mensch – um der Liebe Christi willen, der durch seine „Armut“ uns reich ge-macht hat, wie Paulus einmal sagt (vgl. 2 Kor 8,9). Das schrieb er übrigens, um für eine Kollekte zu werben!
In Thüringen hatten wir im Jahr 2007 die Freude, den 800. Geburtstag der heiligen Elisabeth zu feiern. Für mich erstaunlich war die Anteilnahme der nichtchristlichen Bevölkerung an diesem Gedenken. Für manche der marxistisch indoktrinierten Thüringer war es offensichtlich eine Entdeckung zu sehen, wie ein Leben, das sich vom Himmel her versteht, sich nicht der Erde entfremdet. Es ist wohl doch nicht so, dass Religion und Himmel nur etwas ist für „Engel und die Spatzen“, wie einst Heine gespottet hat. Es ist wohl eher anders: Wer keinen Himmel kennt, bekommt mit der Erde Probleme. Und wer Gott ausblendet, versteht sich selbst nicht mehr. Als Bischof war ich dankbar: Elisabeth hatte in diesem Jahr besser gepredigt als ich.
Unsere Zeitgenossen wollen nicht von Kanzeln angepredigt werden. Sie suchen vielmehr Menschen, die mit ihrem Leben vom Evangelium sprechen und die zum „Dienst der Fußwaschung“ am Nächsten bereit sind. Und das ist auch ein Sakrament, freilich eines, das – wie der Theologe Hans Urs von Balthasar einmal gesagt hat – „vor den Kirchentüren gespendet wird“.
Soweit meine vier Anregungen für eine Nachhilfe in religiöser Sprachkompetenz, und ich meine, diese gelten nicht nur für den kirchenfernen Osten:
In der Frage nach Gott unruhig bleiben; lernen, von Gott größer denken;
die Bereitschaft und den Willen in den Herzen wecken, eine religiöse All-tagssprache zu entwickeln und so in Glaubensdingen für Zeitgenossen auskunftsfähig zu werden;
persönliche und gemeinschaftliche kulturelle Zeichen für die Gegenwart Gottes und die Einladungen des Evangeliums zu setzen und schließlich:
den Mitmenschen immer neu als einen Weckruf Gottes entdecken, der mich und die Kirche insgesamt zum „Dienst der Fußwaschung“ am Nächsten bereit macht.
15

Eine Nachbemerkung sei noch erlaubt:

Was ich gern meinen Pfarrern sage, gilt sicher auch allen Christen, besonders jenen, die manchmal am derzeitigen Zustand der Kirche leiden. Die Grundbefindlichkeit unseres Christseins darf von einer in sich ruhenden Gewissheit getragen sein: Wir bezeugen einen Gott, der nicht auf unseren Dienst angewiesen ist. Eine lebendige und auf die Menschen zugehende Pastoral greift nicht einem hilflosen Gott unter die Arme, sondern sie dient vor allem uns selbst: Wir bleiben in der Osterwirklichkeit, wenn wir zusammen mit dem österlich präsenten Christus auf andere zugehen. Als Seelsorger schaue ich letztlich zu bei dem, was Gottes Geist selbst in den Herzen der Menschen bewirkt. Die kritische, aber von Grundsympathie getragene Begleitung der Menschen, so wie sie sind, nicht, wie wir Bischöfe sie haben möchten – das ist der Weg einer Kirche, die ihrer Rede von Gott Zukunft eröffnet. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen