Thüringer Schulen vor dem Kollaps: 21 Thesen für eine bessere Thüringer Schule
Anlässlich des heutigen Aktionstages
gegen Unterrichtsausfall und Lehrermangel vor dem Thüringer Landtag
haben die Landeselternvertretung (LEV), die Landesschülervertretung
(LSV), der thüringer lehrerverband (tlv) und die Gewerkschaft
Erziehung und Wissenschaft (GEW) Thüringen 21 Thesen für eine
bessere Thüringer Schule mit einem symbolischen Thesenanschlag
öffentlich gemacht.
Circa 500 Schülerinnen und Schüler,
Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen protestierten mit dieser Aktion
gegen den zunehmenden Unterrichtsausfall und Lehrermangel. Sie waren
dabei, als der kommissarische Leiter des Thüringer Ministerium für
Bildung, Jugend und Sport (TMBJS), Prof. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff
und die Staatssekretärin im TMBJS, Gabi Ohler, von den Schülerinnen
und Schülern Kreativarbeiten zum Thema Unterrichtsausfall sowie
Unterschriften für eine bessere Finanzierung des Bildungsbereiches
von Thüringer Pädagoginnen und Pädagogen entgegennahmen.
An der zuvor verlesenen
Regierungserklärung zur Bildungspolitik können LEV, LSV, GEW
Thüringen und tlv zumindest ablesen, dass das TMBJS eine Reihe
vieler kleiner wie großer Missstände endlich auch öffentlich
anerkennt und die schrittweise Behebung gelobt. Dennoch muss
festgestellt werden, dass diese Regierung bereits einen
Doppelhaushalt (2016/17) hat verstreichen lassen. Substantielle
Verbesserungen durch eine entsprechend Ausfinanzierung im
Landeshaushalt wären bereits zwei Jahre zuvor möglich gewesen. Nun
ist die Situation hinsichtlich Unterrichtsausfall und Lehrermangel
noch verschärfter, aber besser eine späte Einsicht (und
nachfolgende Handlungen) als keine.
Hier nun die gemeinsame Erklärung
von LEV, LSV, GEW Thüringen und tlv im Wortlaut:
Am 31.10.1517 veröffentlichte Martin
Luther seine 95 Thesen, um gegen die Ungerechtigkeiten beim
Ablasshandel der Katholischen Kirche zu protestieren. Er wollte die
Kirche reformieren, um sie für alle Menschen gleichermaßen
verständlich zu machen. 500 Jahre später möchten wir nun unsere
Thesen veröffentlichen, um gegen die Mängel im Thüringer
Bildungssystem zu protestieren.
Gewerkschaften und Verbände sind
bereit, das Schulsystem so mitzugestalten, um allen Kindern
gleichermaßen eine qualitativ hochwertige Schulbildung zu
ermöglichen. Unsere Kinder sind unsere Zukunft und wir sollten alles
erdenklich Mögliche tun, um diese Zukunft bestmöglich abzusichern.
Deshalb fordern wir:
1. Die Weiterentwicklung der
Thüringer Schulstrukturen ist gemeinsam mit allen Beteiligten
ernsthaft und ergebnisoffen zu diskutieren.
2. Thüringen braucht keinen
Stellenabbau, sondern attraktive Einstellungs- und
Beschäftigungsbedingungen, um damit den Personalmangel und den damit
verbundenen Stundenausfall zu reduzieren. Dazu zählen die Umsetzung
der bereits beschlossenen Wiederaufnahme der Verbeamtung als auch die
Novellierung des Thüringer Beamtengesetzes mit dem Ziel des
Eingangsamtes A 13 für alle Regelschullehrerinnen und -lehrer.
Tarifbeschäftigte Regelschullehrerinnen und –lehrer sind
entsprechend in die Entgeltgruppe E 13 einzugruppieren. Im Interesse
der Absicherung des Unterrichts ist das Ministerium gefordert, u. a.
die Abordnungspraxis an das Ministerium, an die Staatlichen
Schulämter oder an das ThIILM grundlegend zu überdenken. Des
Weiteren sollte Beschäftigten vertraglich die Möglichkeit
eingeräumt werden, die geleistete Mehrarbeit zeitnah finanziell
abgegolten zu bekommen.
3. Thüringer Schulen müssen sofort
in die Lage versetzt werden, ihre Aufgaben erfüllen zu können.
Hierzu ist als Sofortprogramm die Einstellung von 2.500 zusätzlichen
Lehrern und Lehrerinnen vorzunehmen.
4. Die Schaffung einer
Vertretungsreserve als eine Ausfallreserve durch „Überplanung“
des Bedarfs an den Schulen in Höhe von mindestens 6 Prozent.
5. Die Studienberatung an den
Hochschulen ist dahingehend zu stärken, dass sie Lehramtsstudierende
in Mangelfächer lenkt bzw. ihnen während des Studiums die Aufnahme
des Studiums in einem dritten Fach bedarfsorientiert nahelegt.
6. Die Personalgewinnung hat aktiv
und vorausschauend nach Bedarf und nicht nach Kassenlage zu erfolgen
und die bundesweite Arbeitsmarktlage zu berücksichtigen. Sie hat
verbindliche Lehrer-Schüler-Relationen gemäß pädagogischen
festzulegenden Richtgrößen zugrunde zu legen. Den Lehrkräften ist
ausreichend Zeit für die Bewältigung der unterrichtlichen und
außerunterrichtlichen Anforderungen einzuräumen.
7. Das Einstellungsverfahren in den
Thüringer Schuldienst muss deutlich früher beginnen. Bewerbungen
mit Zwischenzeugnissen sind zu ermöglichen.
8. Über Bewerbungen ist innerhalb
von 8 Wochen zu entscheiden. Die Bewerber und Schulleitungen sind
unverzüglich über das Ergebnis zu informieren.
9. Das Prinzip der schulscharfen
Ausschreibung ist flächendeckend umzusetzen. In das
Einstellungsverfahren sind Bewerber und Zielschulen von Anfang
einzubinden.
10. Lehramtsstudierenden, die eine
Fächerkombinationen mit einem Mangelfach für ihre Schularten
studieren, ist nach erfolgreichen zweiten Staatsexamen eine
Einstellungsgarantie zu gegeben.
11. Quer- und Seiteneinsteigern ist
möglichst vor Einstellung ein Qualifizierungsangebot zu
unterbreiten. Sollte dies nicht möglich sein, müssen Quer- und
Seiteneinsteiger berufsbegleitend auf Kosten des Arbeitgebers
qualifiziert werden.
12. Im Rahmen der Umsetzung der
Inklusion durch gemeinsamen Unterricht sind ausreichende
Sonderpädagogen und sonderpädagogische Fachkräfte den
allgemeinbildenden Schulen zur Verfügung zu stellen. Hierzu bedarf
es jetzt der Einstellung von 600 zusätzlichen Sonderpädagogen und
–pädagoginnen. Jede Schule erhält eine allgemeine und eine
bedarfsorientierte Zuweisung. Es ist im gemeinsamen Unterricht die
gleiche sonderpädagogische Betreuung wie an Förderschulen zu
gewährleisten. Klassenbildung und Lehrerzuweisungen erfolgen unter
Beachtung des individuellen Förderanspruchs aller Schüler und
Schülerinnen im gemeinsamen Unterricht.
13. Eine behindertengerechte
Ausstattung der Schulen ist in Zusammenarbeit zwischen
Landesregierung und Schulträger zu erreichen. Die Schülerzahl pro
Klasse ist abhängig von der Anzahl der im Rahmen der Inklusion zu
betreuenden Schülerinnen und Schüler. Eine konsequente
Doppelbesetzung mit zwei Pädagogen und die Schaffung
multiprofessioneller Betreuungsteams ist zwingend erforderlich.
14. Betroffenen Eltern und Schülern
ist die Möglichkeit einzuräumen, zwischen Förderschule und
gemeinsamen Unterricht zu wählen. Hierzu sind ausreichende Plätze
in den Förderschulen vorzuhalten.
15. Die Richtlinien für Schulbau und
Raumprogramme sind den Erfordernissen an zeitgemäße
Bildungsanforderungen und den gemeinsamen Unterricht zügig
anzupassen und mit einem hohen Grad an Verbindlichkeit zu versehen.
16. Schulträger sind in die Lage zu
versetzen und zu verpflichten, die Beschulungskapazitäten in ihrem
Verantwortungsbereich im erforderlichen Umfang bereitzustellen, zu
unterhalten und gemäß den Erfordernissen an moderne Bildung
auszustatten.
17. Hinsichtlich des weiteren Ausbaus
der Ganztagsschule sind Qualitätskriterien für die Schulverpflegung
verbindlich zu gestalten und die Kostenbeteiligung der Eltern zu
begrenzen. Beispielhaft sei das Berliner Modell genannt.
18. Schulsozialarbeit ist personell
abzusichern und als Landesaufgabe im Schulgesetz zu verankern.
19. Es ist ein flächendeckendes
Angebot an Ganztagsschulen zu schaffen.
20. Für die Sicherung der
Hortbetreuung und die Weiterentwicklung der Ganztagsangebote sind
mindestens 1.000 weitere Erzieherinnen und Erzieher einzustellen. Die
Begrenzung des Beschäftigungsumfangs auf 50%-Stellen ist aufzuheben.
21. Die Entfristung der Verträge für
die DaZ-Lehrerinnen und Lehrer gilt es im Interesse einer
schnellstmöglichen Eingliederung der Flüchtlingskinder
fortzusetzen.
Die Reihenfolge der Thesen bestimmt
nicht ihre Wertigkeit!
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