Zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten hat sich bei einer
Bundestagswahl die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung spürbar
verringert. Gleichzeitig verlieren die etablierten Parteien in der
bürgerlichen Mitte Wähler und erreichen im sozial prekären Milieu
kaum noch Menschen. Das Wahlergebnis zeigt auch eine neue
Konfliktlinie der Demokratie zwischen Modernisierungsskeptikern und
-befürwortern. Diese Spaltung könnte auch in Zukunft die
politischen Auseinandersetzungen und Wahlergebnisse prägen.
Die
gestiegene Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl hat zu einer
spürbaren Verringerung ihrer sozialen Spaltung geführt. Die soziale
Spaltung der Wahlbeteiligung beschreibt, wie stark die
Wahlbeteiligung vom sozialen Profil eines Stimmbezirks abhängt. Ist
die Wahlbeteiligung in wirtschaftlich und sozial starken Wohnvierteln
sehr hoch und gleichzeitig in wirtschaftlich schwachen Vierteln sehr
niedrig, ist dies Ausdruck einer hohen sozialen Spaltung der
Wahlbeteiligung. Diese Spaltung hat sich 2017 gegenüber der
vergangenen Bundestagswahl auf 26,7 Prozentpunkte verringert (2013:
29,5 Prozentpunkte). "Eine derartige Verringerung der sozialen
Spaltung haben wir zuletzt 1998 beim Wahlsieg der SPD beobachtet.
2017 ist es vor allem der AfD gelungen, Nichtwähler und Wähler aus
sozial prekären Stimmbezirken in großem Stil zu mobilisieren",
erläutert Robert Vehrkamp, Demokratieexperte der Bertelsmann
Stiftung und Autor der Studie.
Kampf um die bürgerliche
Mitte
Im Kampf um das Milieu der bürgerlichen Mitte macht die
AfD vor allem der CDU/CSU Konkurrenz. In diesem Milieu erreichte die
AfD ein Ergebnis in Höhe von 20 Prozent aller Wählerstimmen, ein
Zuwachs gegenüber 2013 um 14,6 Prozentpunkte. Gleichzeitig hat die
CDU/CSU hier den höchsten Verlust aller Parteien in einem
Einzelmilieu erlitten (-15 Prozentpunkte). Bei einem geschätzten
Nichtwähleranteil in Höhe von etwa 24 Prozent haben bei der
Bundestagswahl 2017 damit etwa 40 Prozent aller Wahlberechtigten aus
der bürgerlichen Mitte entweder gar nicht oder die AfD gewählt. Das
wirkt sich auch auf die rechnerischen Koalitionsmehrheiten aus: Eine
Große Koalition würde nur noch etwa 42 und eine Jamaika-Koalition
nur noch 39 Prozent aller Wahlberechtigten aus der bürgerlichen
Mitte repräsentieren. "Die etablierten Parteien verlieren in
der bürgerlichen Mitte deutlich an Terrain. Der Kampf um die Mitte
hat sich massiv verschärft", so Vehrkamp.
Erosion der
etablierten Parteien im sozial prekären Milieu
Im sogenannten
Milieu der Prekären, einem Milieu der sozialen Unterschicht,
verläuft der demokratische Erosionsprozess der etablierten Parteien
inzwischen rasant. In diesem Milieu lag die geschätzte
Wahlbeteiligung bei nur etwa 58 Prozent aller Wahlberechtigten und
damit fast 20 Prozentpunkte unter dem Durchschnitt der
Gesamtwahlbeteiligung. Gleichzeitig kam die AfD im prekären Milieu
auf ihr stärkstes Ergebnis in Höhe von 28 Prozent aller
Wählerstimmen. Damit haben in diesem Milieu gut 63 Prozent aller
Wahlberechtigten entweder gar nicht, eine sonstige Partei oder die
AfD gewählt. "In keinem anderen Milieu ist der Erosionsprozess
der etablierten Parteien und die Dominanz der Nicht- und
Protestwähler so weit fortgeschritten wie im prekären Milieu",
kommentiert Klaudia Wegschaider, Demokratieexpertin der Bertelsmann
Stiftung und Mitautorin der Studie.
Neue Konfliktlinie der
Demokratie
Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse eine neue
Konfliktlinie der Demokratie: Die Spaltung der Wählerschaft verläuft
mittlerweile zwischen den Skeptikern und Befürwortern der
Modernisierung und hat auch das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl
entscheidend geprägt. In modernisierungsskeptischen Milieus
identifizieren sich die Menschen mit Begriffen wie "Tradition"
oder "Besitzstandswahrung". Für modernisierungsoffene
Milieus sind dagegen "Grenzüberwindungen" und
"Beschleunigung" prägende Begriffe. Knapp zwei Drittel
aller AfD-Wähler (65 Prozent) kommen aus Milieus, die eher
modernisierungsskeptisch sind: "Die AfD wurde ganz überwiegend
von Menschen gewählt, die der sozialen und kulturellen
Modernisierung zumindest skeptisch gegenüberstehen", so
Vehrkamp. Damit hat die AfD im Parteienspektrum ein
Alleinstellungsmerkmal. Denn die Wähler aller anderen im Bundestag
vertretenen Parteien gehören mehrheitlich einem der Milieus der
Modernisierungsbefürworter an: knapp 52 Prozent der Wähler der
CDU/CSU, gut 56 Prozent bei der SPD und 59 Prozent bei der FDP. Bei
den Linken sind es bereits 62 Prozent und bei den Grünen 72 Prozent.
Die Wähler der Grünen weisen damit den höchsten Anteil aus den
Milieus aus, die der sozialen und kulturellen Modernisierung der
Gesellschaft eher positiv gegenüber stehen.
Nach diesen
Ergebnissen würden bei einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD
53 Prozent ihrer Wähler aus den Milieus der
Modernisierungsbefürworter stammen, und 47 Prozent aus den Milieus
der Modernisierungsskeptiker. Bei einer Jamaika-Koalition würde
dieses Verhältnis mit 57 zu 43 Prozent deutlicher zugunsten der
modernisierungsfreundlichen Milieus ausfallen. Ob und wie sehr daraus
ein Konflikt der AfD gegen das etablierte Parteiensystem entstehe,
sei noch völlig offen. Viele der anstehenden politischen
Kontroversen könnten allerdings entlang dieser Konfliktlinie
verlaufen und ausgetragen werden, so
Vehrkamp.
Zusatzinformationen
Die vorliegende Studie
untersucht die Wahlbeteiligung und das Wahlverhalten der
Sinus-Milieus bei der Bundestagswahl 2017. Dafür kombiniert sie
eine Aggregatanalyse auf Basis klein räumiger Stimmbezirke mit den
Ergebnissen einer repräsentativen Nachwahlumfrage. Die
Aggregatanalyse basiert auf einer Stichprobe der 621 bundesweit
repräsentativen Stimmbezirke von infratest dimap. Für die
Nachwahlbefragung wurden in der Woche nach der Bundestagswahl über
das YouGov-Online-Panel 10.271 Personen zu ihrem Wahlverhalten bei
der Bundestagswahl 2017 befragt. Die in der Studie beschriebenen
Milieus bezeichnen die sogenannten "Sinus-Milieus", die vom
Sinus Institut definiert sind. Alle in der Studie verwendeten
Befragungsergebnisse sind repräsentativ.
Weitere Informationen:
http://E-Mail:
robert.vehrkamp@bertelsmann-stiftung.de
http://Klaudia
Wegschaider, Telefon: 05241 8181 322
http://E-Mail:
klaudia.wegschaider@bertelsmann-stiftung.de
Benjamin Stappenbeck Pressestelle,
Bertelsmann
Stiftung
Gütersloh, 6. Oktober 2017. Die soziale Spaltung der
Wahlbeteiligung ist 2017 zum ersten Mal seit 1998 wieder spürbar
gesunken. Der Grund dafür sind vor allem Mobilisierungserfolge der
AfD in den sozial prekären Nichtwählerhochburgen. Durch diesen
"AfD-Effekt" ist die Wahlbeteiligung in den sozial prekären
Stimmbezirken mit der geringsten Wahlbeteiligung überdurchschnittlich
angestiegen. Parallel zeigt sich eine neue Konfliktlinie der
Demokratie, die quer durch die Wählerschaft zwischen
Modernisierungsskeptikern und -befürwortern verläuft. Diese
Entwicklungen bleiben nicht ohne Nebeneffekte: Etablierte Parteien
verlieren im Milieu der bürgerlichen Mitte Wähler und erreichen im
sozial prekären Milieu kaum noch Menschen. Das sind die Ergebnisse
einer Studie der Bertelsmann Stiftung, die erstmals das Wahlverhalten
der sozialen Milieus bei einer Bundestagswahl analysiert hat.
http://Dr. Robert Vehrkamp, Telefon: 05241 8181 526
Mitteilung des idw – Informationsdienst Wissenschaft am 06. Okt.
2017
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