Norbert Lammert: Wehmut ist noch nicht da / Interview mit der Zeitung „Das Parlament“
Der nach zwölf Jahren aus dem Amt scheidende Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) wünscht dem neuen Parlament, das am 24. September gewählt wird, die im Bundestag bemerkenswert ausgeprägte Streitkultur zu bewahren. Lammert sagte der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag 24. Juli), diese Kultur habe sich „nach den traumatischen Erfahrungen des Scheiterns der ersten deutschen Demokratie und den noch entsetzlicheren Folgewirkungen glücklicherweise entwickelt“. Er sehe in keinem anderen Parlament „ein besser balanciertes Verhältnis von Konkurrenz und Konsens, von Konfliktfähigkeit und Kompromissbereitschaft als im Deutschen Bundestag“.
Der 68-jährige Lammert sagte, er verlasse das
Parlament nach 37 Jahren ohne Wehmut. Er habe seine Entscheidung, nicht
wieder für den Bundestag zu kandidieren, keineswegs spontan im Lichte
anstehender Kandidatenaufstellungen getroffen. Vielmehr sei er vor vier
Jahren in die jetzt zu Ende gehende Legislaturperiode „mit der festen
Absicht gegangen, dass es meine letzte sein wird“.
Lammert betonte, er hoffe sehr, dass die verpasste Wahlrechtsreform nicht zu einem personell übermäßig aufgeblähten 19. Bundestag führen wird. „Wenn es doch so kommt“, sagte Lammert mit Blick auf die nächste Legislaturperiode, „wird die notwendige Veränderung noch schwieriger.“ Der aus Bochum stammende Bundestagspräsident hatte immer wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen, das Wahlrecht so zu reformieren, dass nicht wesentlich mehr als die dort eigentlich vorgesehenen 598 Sitze erlangt werden können. Derzeit hat der Deutsche Bundestag 630 Abgeordnete.
Das Interview im Wortlaut:
Herr Präsident, zu Beginn der zu Ende gehenden Legislaturperiode haben Sie angemahnt, die Rechte der parlamentarischen Minderheit zu wahren; es gab dann Veränderungen in der Geschäftsordnung des Bundestages. Hat im Rückblick das Wechselspiel von Regierungskoalition und Opposition bei einem Kräfteverhältnis von vier zu eins funktioniert?
Norbert Lammert: Die Mehrheitsverhältnisse sind, wie sie sind, auch wenn sich daraus gelegentlich schwierige Konstellationen ergeben. Was die Vereinbarungen zum Umgang mit Minderheitenrechten angeht, hat der Bundestag ein beachtliches Beispiel für die parlamentarische Kultur unseres Landes abgeliefert, wenn die Opposition die dafür vorgesehenen Quoren nicht erreicht. Ich glaube nicht, dass es viele Parlamente in Europa und noch weniger außerhalb Europas gibt, die zu so einer Vereinbarung bereit und in der Lage gewesen wären. Und dass wir das offenkundig auch mit dem nötigen Augenmaß getan haben, bestätigen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu noch weitergehenden Ansprüchen.
Der Bundestag soll die Regierung kontrollieren. Zugleich wird die Regierung von der Mehrheit des Parlaments getragen, die sie ja auch gewählt hat. Ist das ein Widerspruch?
Norbert Lammert: Das ist das Wesen der parlamentarischen Demokratie und sicher keine Innovation der 18. Legislaturperiode. Parlamentarische Demokratien unterscheiden sich von Präsidialdemokratien durch nichts mehr als genau diesen Umstand, dass die Regierung nicht aus einem eigenständigen Wahlakt hervorgeht, sondern durch eine Entscheidung des gewählten Parlaments. Dass sich daraus ein Spannungsverhältnis ergibt zwischen der Unterstützung einer selbst ins Amt gehobenen Regierung auf der einen Seite und der verfassungsrechtlichen Kontrollfunktion des Parlaments auf der anderen Seite, trifft zweifellos zu. Ich habe ja gelegentlich vorgetragen, dass mir bei allen bisher praktizierten Koalitionen der Betreuungsreflex der Fraktionen gegenüber der jeweiligen Regierung ausgeprägter erscheint als die Kontrollbegeisterung.
Ist der Bundestag gegenüber der Bundesregierung selbstbewusst genug?
Norbert Lammert: Im Allgemeinen ja, im Einzelnen nicht immer.
Immer wieder haben Sie beklagt, dass vor allem die öffentlich-rechtlichen Medien nicht ausreichend über die Sitzungen des Bundestages berichten. Ist das noch immer so?
Norbert Lammert: Nachdem ich mich in früheren Legislaturperioden ein paar Mal lautstark zu der unzureichenden Berichterstattung geäußert habe, ist eine Vereinbarung gefunden worden, die zwar nicht der Traum meiner schlaflosen Nächte ist, aber die ich für vertretbar halte und die auch im Großen und Ganzen funktioniert. Demnach sind alle Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages grundsätzlich bei Phoenix zu sehen. Besonders wichtige Debatten und parlamentarische Ereignisse werden darüber hinaus in einem der öffentlich-rechtlichen Hauptprogramme gesendet. Hinzu kommt natürlich der Internet-Auftritt des Bundestages, der ebenfalls live berichtet. Jeder kann die Debatten also ohne zusätzliche Kosten verfolgen.
Ihr Ärger ist also verflogen?
Norbert Lammert: Manche kritischen Einwände, die ich vor dem Hintergrund der Entwicklung des öffentlich-rechtlichen und mithin gebührenfinanzierten Systems im Vergleich zu privaten Anbietern gemacht habe, halte ich ausdrücklich aufrecht. Aber was die Praxis der Berichterstattung aus dem Bundestag angeht, kann ich mit Blick auf die jetzt zu Ende gehende Legislaturperiode keinen zusätzlichen Grund zur Klage entdecken.
Nun sind aber auch nicht alle Sitzungen des Parlamentes so spannend, dass sie automatisch das Interesse der Zuschauer wecken würden. Immer wieder ist deshalb über Reformen gesprochen worden, beispielsweise hinsichtlich der Fragestunde an die Regierung. Sind veränderte Abläufe nötig?
Norbert Lammert: Der Bundestag darf seine Arbeit nicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der medialen Verwertbarkeit organisieren. Deswegen akzeptiere ich ja auch ausdrücklich, dass nicht jede Plenardebatte an Stelle solch bedeutender Angebote wie die Serie „Rote Rosen“ oder die Komödie „Schaumküsse“ im Vormittagsprogramm von ARD und ZDF live und in Farbe zu sehen ist. Dass es aber Möglichkeiten der Optimierung unserer parlamentarischen Debatten und damit auch ihrer Attraktivität gibt, habe ich häufig vorgetragen, nicht immer mit Erfolg. Allerdings hat es ja auch Veränderungen gegeben. Die Fragestunde etwa ist ein bisschen besser geworden, sie ist aber immer noch nicht gut. Und das wird sich auch nicht ändern, so lange das Parlament nicht darauf besteht, den Gegenstand der Regierungsbefragung selbst festzulegen.
Ihren wiederholten Anregungen, noch vor der Bundestagswahl das Wahlrecht zu ändern, um ein immerhin mögliches Aufblähen des Parlaments auf 700 Abgeordnete oder mehr zu verhindern, sind die Fraktionen nicht gefolgt. Muss nun um die Arbeitsfähigkeit des neuen Parlaments gebangt werden?
Norbert Lammert: Zunächst: Die 598 Abgeordneten, die im deutschen Wahlrecht vorgesehen sind, halte ich für maßvoll, auch im internationalen Vergleich. Das britische Parlament etwa ist mit 650 Sitzen deutlich größer und das bei einer Bevölkerung, die etwa 20 Millionen weniger zählt als die in Deutschland. Immerhin ist nicht zu vergessen, dass die rund 600 Mitglieder des Parlamentes es bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben mit einer um ein Vielfaches höheren Zahl von Mitarbeitern in den Ministerien und nachgeordneten Bundesbehörden zu tun haben. Mit einem kleineren Bundestag wäre ganz sicher keine Verbesserung der Leistungsfähigkeit zu erreichen, schon gar nicht bei der Kontrollaufgabe des Parlaments.
Und mit einem größeren?
Norbert Lammert: Umgekehrt wird niemand ernsthaft behaupten wollen, dass die Leistungsfähigkeit des Bundestages parallel zur ansteigenden Mitgliederzahl wächst. Umso dringender wäre es gewesen, das rechtzeitig vor der Bundestagswahl zu korrigieren. Das ist leider nicht geschehen.
Wie geht es jetzt weiter? Sehen Sie da noch Bewegungsspielraum?
Norbert Lammert: Ich hoffe ja sehr, dass die von allen gemeinsam gesehenen Risiken bei den nächsten Bundestagswahlen gar nicht eintreten, die ich gerne durch eine rechtzeitige Korrektur des Wahlrechtes abwenden wollte. Wenn es doch so kommt, wird die notwendige Veränderung noch schwieriger.
Zu den besonderen Momenten im Bundestag zählen die vielen Gedenkveranstaltungen, insbesondere die zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Dabei sprachen meist Zeitzeugen, von denen aber immer weniger leben. Wie kann sich die Gedenkkultur des Parlamentes darauf einstellen?
Norbert Lammert: Dass dieses Parlament inzwischen eine starke Tradition zur Erinnerungskultur unseres Landes entwickelt hat, gehört zum bemerkenswerten Selbstverständnis des Hauses. Selbstverständlich reduziert sich die Erinnerungskultur nicht auf das jährliche Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus. Deswegen habe ich in den vergangenen Jahren immer wieder bedeutende Jahrestage herausragender historischer Ereignisse wie Beginn oder Ende der beiden Weltkriege, den 65. Geburtstag des Grundgesetzes und andere genutzt, um sie im Plenarsaal des Bundestages zum Gegenstand eines gemeinsamen Reflektierens zu machen: Was hat damals stattgefunden? Was bedeutet das für uns heute und für unser Verhältnis zu unseren Nachbarn? Und wir haben dazu immer wieder eindrucksvolle und in vielen Fällen auch nachhaltige Beiträge deutscher wie internationaler Gäste gehört.
Auch zur Gedenkstunde anlässlich des 27. Januar.
Norbert Lammert: Die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus anlässlich des Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz ist eine besondere Herausforderung, seit der damalige Bundespräsident Roman Herzog dieses Datum 1996 als nationalen Gedenktag festgelegt hat. Es war absehbar, dass wir irgendwann keine Zeitzeugen mehr haben würden, die mit ihrer eigenen Biografie von dem berichten können, was im Nationalsozialismus geschehen ist, und die daraus ihre persönlichen Schlussfolgerungen für die Gegenwart und die Zukunft herleiten können. Aber wir hatten aus unterschiedlichen Gründen auch bisher schon Redner, die keine Zeitzeugen waren, aber mit ihrer Darstellung einen ebenso großen Eindruck hinterlassen haben.
In den zwölf Jahren Ihrer Parlamentspräsidentschaft gab es sicher eine Fülle von herausragenden Ereignissen. Was war für Sie etwas ganz Besonderes?
Norbert Lammert: Zum Beispiel der Besuch von Papst Benedikt XVI. und seine Rede im Bundestag: zum ersten Mal ein deutscher Papst vor einem deutschen Parlament. Zu den großen Erfahrungen, die für mich so nicht erwartbar waren, gehört mein erster Besuch in Israel im Amt des Bundestagspräsidenten vor mehr als zehn Jahren. Dass dort ein deutscher Parlamentspräsident mit militärischen Ehren in der Knesset unter Abspielen der deutschen Nationalhymne empfangen würde, hatte ich mir nicht vorstellen können. Es war beeindruckend zu beobachten, wie sich israelische Kolleginnen und Kollegen mit ihrer eigenen Biografie, ihrer politischen Rolle und ihrer Vorstellung von Deutschland auseinandergesetzt haben. Und wie ausschlaggebend auch dabei persönliche Kontakte für die Beziehungen zwischen Ländern und Institutionen sind.
Sie sind seit 37 Jahren im Bundestag. Ist das Parlament ein Ort, an dem Freundschaften entstehen können?
Norbert Lammert: Durchaus, obwohl die allermeisten Freundschaften nicht im Beruf, nicht nach dem 50. oder 60. Lebensjahr, sondern in der Schulzeit, im Studium, in der Ausbildung entstehen. Das gilt gewiss auch für Abgeordnete, was aber nicht ausschließt, dass sich sehr enge Beziehungen und im Einzelfall auch dauerhafte Freundschaften entwickeln können, die dann übrigens regelmäßig mit der Fraktionszugehörigkeit fast nichts zu tun haben.
Sie kandidieren nicht mehr für den Bundestag. Was überwiegt jetzt? Ein Gefühl der Befreiung, ein Gefühl der Erleichterung oder doch eher Wehmut?
Norbert Lammert: Eigentlich kann ich in diesem Zusammenhang mit allen drei Begriffen nichts anfangen. Ich fühle mich weder befreit noch erleichtert, weil mir etwa Verpflichtungen von der Schulter genommen würden, die mir zunehmend lästig geworden wären. Und was die Wehmut angeht: Ich bin selbst verblüfft, dass sich dieses von vielen vorausgesagte Gefühl bei mir nicht einstellen will. Aber ich schließe nicht aus, dass das noch kommt. Allerdings habe ich meine Entscheidung ja nicht spontan irgendwann im Frühjahr dieses Jahres unter Berücksichtigung der Aufstellung von Kandidaten im Wahlkreis und in der Landespartei getroffen, sondern ich bin in diese Legislaturperiode mit der festen Absicht gegangen, dass es meine letzte sein wird. So hatte ich drei Jahre Zeit, mich in ganz unterschiedlichen Situationen immer wieder zu fragen: Meinst du das wirklich so? Zum Zeitpunkt der öffentlichen Verkündung war das also eine seit langem gereifte und immer wieder bestätigte Entscheidung, die bis jetzt keine Verunsicherung erfahren hat.
Was werden Sie an Ihrer Arbeit im Bundestag vermissen?
Norbert Lammert: Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Aber dass sich vieles ändern wird, ist ja absehbar. Zu den faszinierenden Aspekten eines solchen Amtes gehört, dass man mit vielen ungewöhnlichen Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen zusammenkommt. Ein politisches Spitzenamt bietet regelmäßig Begegnungen mit herausragenden Wissenschaftlern, Künstlern, Sportlern, Kirchenführern. Das habe ich immer als inspirierend und motivierend empfunden. Das wird es so nicht mehr geben. Ob mir das wirklich fehlen wird, weiß ich nicht.
Was wünschen Sie dem neuen, dem 19. Bundestag und dessen Präsidenten?
Norbert Lammert: Dass wir die bemerkenswerte Streitkultur, die wir nach den traumatischen Erfahrungen des Scheiterns der ersten deutschen Demokratie und den noch entsetzlicheren Folgewirkungen glücklicherweise entwickelt haben, mit beiden Händen festhalten. Ich sehe nirgendwo ein besser balanciertes Verhältnis von Konkurrenz und Konsens, von Konfliktfähigkeit und Kompromissbereitschaft als im Deutschen Bundestag. Als einfacher Staatsbürger wünsche ich mir sehr, dass das so bleibt. Und jedem, der von diesem Parlament zum Präsidenten gewählt wird, kann man nur wünschen, dass er die Autorität mitbringt oder gewinnt, die man braucht, um zu dieser Balance beizutragen. Sowohl nach innen wie vor allen Dingen auch im Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen, zu den Medien, zur Öffentlichkeit. Es gibt keine schönere und nur wenige auch nur annähernd vergleichbar anspruchsvolle Aufgaben.
Lammert betonte, er hoffe sehr, dass die verpasste Wahlrechtsreform nicht zu einem personell übermäßig aufgeblähten 19. Bundestag führen wird. „Wenn es doch so kommt“, sagte Lammert mit Blick auf die nächste Legislaturperiode, „wird die notwendige Veränderung noch schwieriger.“ Der aus Bochum stammende Bundestagspräsident hatte immer wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen, das Wahlrecht so zu reformieren, dass nicht wesentlich mehr als die dort eigentlich vorgesehenen 598 Sitze erlangt werden können. Derzeit hat der Deutsche Bundestag 630 Abgeordnete.
Das Interview im Wortlaut:
Herr Präsident, zu Beginn der zu Ende gehenden Legislaturperiode haben Sie angemahnt, die Rechte der parlamentarischen Minderheit zu wahren; es gab dann Veränderungen in der Geschäftsordnung des Bundestages. Hat im Rückblick das Wechselspiel von Regierungskoalition und Opposition bei einem Kräfteverhältnis von vier zu eins funktioniert?
Norbert Lammert: Die Mehrheitsverhältnisse sind, wie sie sind, auch wenn sich daraus gelegentlich schwierige Konstellationen ergeben. Was die Vereinbarungen zum Umgang mit Minderheitenrechten angeht, hat der Bundestag ein beachtliches Beispiel für die parlamentarische Kultur unseres Landes abgeliefert, wenn die Opposition die dafür vorgesehenen Quoren nicht erreicht. Ich glaube nicht, dass es viele Parlamente in Europa und noch weniger außerhalb Europas gibt, die zu so einer Vereinbarung bereit und in der Lage gewesen wären. Und dass wir das offenkundig auch mit dem nötigen Augenmaß getan haben, bestätigen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu noch weitergehenden Ansprüchen.
Der Bundestag soll die Regierung kontrollieren. Zugleich wird die Regierung von der Mehrheit des Parlaments getragen, die sie ja auch gewählt hat. Ist das ein Widerspruch?
Norbert Lammert: Das ist das Wesen der parlamentarischen Demokratie und sicher keine Innovation der 18. Legislaturperiode. Parlamentarische Demokratien unterscheiden sich von Präsidialdemokratien durch nichts mehr als genau diesen Umstand, dass die Regierung nicht aus einem eigenständigen Wahlakt hervorgeht, sondern durch eine Entscheidung des gewählten Parlaments. Dass sich daraus ein Spannungsverhältnis ergibt zwischen der Unterstützung einer selbst ins Amt gehobenen Regierung auf der einen Seite und der verfassungsrechtlichen Kontrollfunktion des Parlaments auf der anderen Seite, trifft zweifellos zu. Ich habe ja gelegentlich vorgetragen, dass mir bei allen bisher praktizierten Koalitionen der Betreuungsreflex der Fraktionen gegenüber der jeweiligen Regierung ausgeprägter erscheint als die Kontrollbegeisterung.
Ist der Bundestag gegenüber der Bundesregierung selbstbewusst genug?
Norbert Lammert: Im Allgemeinen ja, im Einzelnen nicht immer.
Immer wieder haben Sie beklagt, dass vor allem die öffentlich-rechtlichen Medien nicht ausreichend über die Sitzungen des Bundestages berichten. Ist das noch immer so?
Norbert Lammert: Nachdem ich mich in früheren Legislaturperioden ein paar Mal lautstark zu der unzureichenden Berichterstattung geäußert habe, ist eine Vereinbarung gefunden worden, die zwar nicht der Traum meiner schlaflosen Nächte ist, aber die ich für vertretbar halte und die auch im Großen und Ganzen funktioniert. Demnach sind alle Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages grundsätzlich bei Phoenix zu sehen. Besonders wichtige Debatten und parlamentarische Ereignisse werden darüber hinaus in einem der öffentlich-rechtlichen Hauptprogramme gesendet. Hinzu kommt natürlich der Internet-Auftritt des Bundestages, der ebenfalls live berichtet. Jeder kann die Debatten also ohne zusätzliche Kosten verfolgen.
Ihr Ärger ist also verflogen?
Norbert Lammert: Manche kritischen Einwände, die ich vor dem Hintergrund der Entwicklung des öffentlich-rechtlichen und mithin gebührenfinanzierten Systems im Vergleich zu privaten Anbietern gemacht habe, halte ich ausdrücklich aufrecht. Aber was die Praxis der Berichterstattung aus dem Bundestag angeht, kann ich mit Blick auf die jetzt zu Ende gehende Legislaturperiode keinen zusätzlichen Grund zur Klage entdecken.
Nun sind aber auch nicht alle Sitzungen des Parlamentes so spannend, dass sie automatisch das Interesse der Zuschauer wecken würden. Immer wieder ist deshalb über Reformen gesprochen worden, beispielsweise hinsichtlich der Fragestunde an die Regierung. Sind veränderte Abläufe nötig?
Norbert Lammert: Der Bundestag darf seine Arbeit nicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der medialen Verwertbarkeit organisieren. Deswegen akzeptiere ich ja auch ausdrücklich, dass nicht jede Plenardebatte an Stelle solch bedeutender Angebote wie die Serie „Rote Rosen“ oder die Komödie „Schaumküsse“ im Vormittagsprogramm von ARD und ZDF live und in Farbe zu sehen ist. Dass es aber Möglichkeiten der Optimierung unserer parlamentarischen Debatten und damit auch ihrer Attraktivität gibt, habe ich häufig vorgetragen, nicht immer mit Erfolg. Allerdings hat es ja auch Veränderungen gegeben. Die Fragestunde etwa ist ein bisschen besser geworden, sie ist aber immer noch nicht gut. Und das wird sich auch nicht ändern, so lange das Parlament nicht darauf besteht, den Gegenstand der Regierungsbefragung selbst festzulegen.
Ihren wiederholten Anregungen, noch vor der Bundestagswahl das Wahlrecht zu ändern, um ein immerhin mögliches Aufblähen des Parlaments auf 700 Abgeordnete oder mehr zu verhindern, sind die Fraktionen nicht gefolgt. Muss nun um die Arbeitsfähigkeit des neuen Parlaments gebangt werden?
Norbert Lammert: Zunächst: Die 598 Abgeordneten, die im deutschen Wahlrecht vorgesehen sind, halte ich für maßvoll, auch im internationalen Vergleich. Das britische Parlament etwa ist mit 650 Sitzen deutlich größer und das bei einer Bevölkerung, die etwa 20 Millionen weniger zählt als die in Deutschland. Immerhin ist nicht zu vergessen, dass die rund 600 Mitglieder des Parlamentes es bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben mit einer um ein Vielfaches höheren Zahl von Mitarbeitern in den Ministerien und nachgeordneten Bundesbehörden zu tun haben. Mit einem kleineren Bundestag wäre ganz sicher keine Verbesserung der Leistungsfähigkeit zu erreichen, schon gar nicht bei der Kontrollaufgabe des Parlaments.
Und mit einem größeren?
Norbert Lammert: Umgekehrt wird niemand ernsthaft behaupten wollen, dass die Leistungsfähigkeit des Bundestages parallel zur ansteigenden Mitgliederzahl wächst. Umso dringender wäre es gewesen, das rechtzeitig vor der Bundestagswahl zu korrigieren. Das ist leider nicht geschehen.
Wie geht es jetzt weiter? Sehen Sie da noch Bewegungsspielraum?
Norbert Lammert: Ich hoffe ja sehr, dass die von allen gemeinsam gesehenen Risiken bei den nächsten Bundestagswahlen gar nicht eintreten, die ich gerne durch eine rechtzeitige Korrektur des Wahlrechtes abwenden wollte. Wenn es doch so kommt, wird die notwendige Veränderung noch schwieriger.
Zu den besonderen Momenten im Bundestag zählen die vielen Gedenkveranstaltungen, insbesondere die zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Dabei sprachen meist Zeitzeugen, von denen aber immer weniger leben. Wie kann sich die Gedenkkultur des Parlamentes darauf einstellen?
Norbert Lammert: Dass dieses Parlament inzwischen eine starke Tradition zur Erinnerungskultur unseres Landes entwickelt hat, gehört zum bemerkenswerten Selbstverständnis des Hauses. Selbstverständlich reduziert sich die Erinnerungskultur nicht auf das jährliche Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus. Deswegen habe ich in den vergangenen Jahren immer wieder bedeutende Jahrestage herausragender historischer Ereignisse wie Beginn oder Ende der beiden Weltkriege, den 65. Geburtstag des Grundgesetzes und andere genutzt, um sie im Plenarsaal des Bundestages zum Gegenstand eines gemeinsamen Reflektierens zu machen: Was hat damals stattgefunden? Was bedeutet das für uns heute und für unser Verhältnis zu unseren Nachbarn? Und wir haben dazu immer wieder eindrucksvolle und in vielen Fällen auch nachhaltige Beiträge deutscher wie internationaler Gäste gehört.
Auch zur Gedenkstunde anlässlich des 27. Januar.
Norbert Lammert: Die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus anlässlich des Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz ist eine besondere Herausforderung, seit der damalige Bundespräsident Roman Herzog dieses Datum 1996 als nationalen Gedenktag festgelegt hat. Es war absehbar, dass wir irgendwann keine Zeitzeugen mehr haben würden, die mit ihrer eigenen Biografie von dem berichten können, was im Nationalsozialismus geschehen ist, und die daraus ihre persönlichen Schlussfolgerungen für die Gegenwart und die Zukunft herleiten können. Aber wir hatten aus unterschiedlichen Gründen auch bisher schon Redner, die keine Zeitzeugen waren, aber mit ihrer Darstellung einen ebenso großen Eindruck hinterlassen haben.
In den zwölf Jahren Ihrer Parlamentspräsidentschaft gab es sicher eine Fülle von herausragenden Ereignissen. Was war für Sie etwas ganz Besonderes?
Norbert Lammert: Zum Beispiel der Besuch von Papst Benedikt XVI. und seine Rede im Bundestag: zum ersten Mal ein deutscher Papst vor einem deutschen Parlament. Zu den großen Erfahrungen, die für mich so nicht erwartbar waren, gehört mein erster Besuch in Israel im Amt des Bundestagspräsidenten vor mehr als zehn Jahren. Dass dort ein deutscher Parlamentspräsident mit militärischen Ehren in der Knesset unter Abspielen der deutschen Nationalhymne empfangen würde, hatte ich mir nicht vorstellen können. Es war beeindruckend zu beobachten, wie sich israelische Kolleginnen und Kollegen mit ihrer eigenen Biografie, ihrer politischen Rolle und ihrer Vorstellung von Deutschland auseinandergesetzt haben. Und wie ausschlaggebend auch dabei persönliche Kontakte für die Beziehungen zwischen Ländern und Institutionen sind.
Sie sind seit 37 Jahren im Bundestag. Ist das Parlament ein Ort, an dem Freundschaften entstehen können?
Norbert Lammert: Durchaus, obwohl die allermeisten Freundschaften nicht im Beruf, nicht nach dem 50. oder 60. Lebensjahr, sondern in der Schulzeit, im Studium, in der Ausbildung entstehen. Das gilt gewiss auch für Abgeordnete, was aber nicht ausschließt, dass sich sehr enge Beziehungen und im Einzelfall auch dauerhafte Freundschaften entwickeln können, die dann übrigens regelmäßig mit der Fraktionszugehörigkeit fast nichts zu tun haben.
Sie kandidieren nicht mehr für den Bundestag. Was überwiegt jetzt? Ein Gefühl der Befreiung, ein Gefühl der Erleichterung oder doch eher Wehmut?
Norbert Lammert: Eigentlich kann ich in diesem Zusammenhang mit allen drei Begriffen nichts anfangen. Ich fühle mich weder befreit noch erleichtert, weil mir etwa Verpflichtungen von der Schulter genommen würden, die mir zunehmend lästig geworden wären. Und was die Wehmut angeht: Ich bin selbst verblüfft, dass sich dieses von vielen vorausgesagte Gefühl bei mir nicht einstellen will. Aber ich schließe nicht aus, dass das noch kommt. Allerdings habe ich meine Entscheidung ja nicht spontan irgendwann im Frühjahr dieses Jahres unter Berücksichtigung der Aufstellung von Kandidaten im Wahlkreis und in der Landespartei getroffen, sondern ich bin in diese Legislaturperiode mit der festen Absicht gegangen, dass es meine letzte sein wird. So hatte ich drei Jahre Zeit, mich in ganz unterschiedlichen Situationen immer wieder zu fragen: Meinst du das wirklich so? Zum Zeitpunkt der öffentlichen Verkündung war das also eine seit langem gereifte und immer wieder bestätigte Entscheidung, die bis jetzt keine Verunsicherung erfahren hat.
Was werden Sie an Ihrer Arbeit im Bundestag vermissen?
Norbert Lammert: Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Aber dass sich vieles ändern wird, ist ja absehbar. Zu den faszinierenden Aspekten eines solchen Amtes gehört, dass man mit vielen ungewöhnlichen Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen zusammenkommt. Ein politisches Spitzenamt bietet regelmäßig Begegnungen mit herausragenden Wissenschaftlern, Künstlern, Sportlern, Kirchenführern. Das habe ich immer als inspirierend und motivierend empfunden. Das wird es so nicht mehr geben. Ob mir das wirklich fehlen wird, weiß ich nicht.
Was wünschen Sie dem neuen, dem 19. Bundestag und dessen Präsidenten?
Norbert Lammert: Dass wir die bemerkenswerte Streitkultur, die wir nach den traumatischen Erfahrungen des Scheiterns der ersten deutschen Demokratie und den noch entsetzlicheren Folgewirkungen glücklicherweise entwickelt haben, mit beiden Händen festhalten. Ich sehe nirgendwo ein besser balanciertes Verhältnis von Konkurrenz und Konsens, von Konfliktfähigkeit und Kompromissbereitschaft als im Deutschen Bundestag. Als einfacher Staatsbürger wünsche ich mir sehr, dass das so bleibt. Und jedem, der von diesem Parlament zum Präsidenten gewählt wird, kann man nur wünschen, dass er die Autorität mitbringt oder gewinnt, die man braucht, um zu dieser Balance beizutragen. Sowohl nach innen wie vor allen Dingen auch im Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen, zu den Medien, zur Öffentlichkeit. Es gibt keine schönere und nur wenige auch nur annähernd vergleichbar anspruchsvolle Aufgaben.
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