Menschen können einer Studie der Freien Universität zufolge in zunehmendem Alter nur dann neue Erinnerungen bilden, wenn ein zelluläres Reinigungsprogramm im Gehirn funktionstüchtig bleibt. Das Programm – die sogenannte Autophagie – muss reibungslos in denjenigen Neuronen im Gehirn ablaufen, die die Erinnerungen speichern, wie ein Team um Prof. Dr. Stephan Sigrist von der Freien Universität Berlin sowie dem Exzellenzcluster NeuroCure herausfand. Dies sei die Voraussetzung dafür, dass das gesamte Gehirn in einem geschützten und funktionstüchtigen Zustand gehalten werden kann.
Die Studie wurde in der jüngsten Ausgabe der renommierten Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht. NeuroCure ist ein an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, des gemeinsamen medizinischen Fachbereichs von Freier Universität Berlin und Humboldt-Universität zu Berlin, angesiedelter Forschungscluster, der seit 2007 im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder gefördert wird; im September 2018 war der Cluster auch im Wettbewerb Exzellenzstrategie erfolgreich. Stephan Sigrist ist seit 2014 Einstein-Professor; die Professur wird aus Mitteln der EinsteinStiftung gefördert.Menschen sind nicht nur in der Lage, neue Erinnerungen zu bilden, sondern können diese in der Regel auch viele Jahre später wieder abrufen. Mit zunehmendem Alter jedoch entwickeln viele Menschen Schwierigkeiten, neue Erinnerungen zu bilden; dies wird als altersbedingte Gedächtnisstörung bezeichnet. Ein umfassendes Verständnis dieses komplexen Prozesses ist Voraussetzung, um altersbedingten Erkrankungen auf der Ebene der Nervenzellen effektiv begegnen zu können. In der aktuellen Publikation zeigt das Team von Stephan Sigrist von der Freien Universität Berlin, welche Rolle das zelluläre Reinigungsprogramm namens Autophagie spielt.
Erinnerungen werden durch strukturelle und funktionelle Veränderungen an Neuron-zu-Neuron-Verbindungen (Synapsen) im Gehirn gespeichert; diese Fähigkeit, Veränderungen einzugehen, wird als synaptische Plastizität bezeichnet. Bei der synaptischen Signalübertragung stehen die Präsynapsen den Postsynapsen gegenüber, wobei letztere die freigesetzten chemischen Signale erkennen und weiterleiten. Eine Zunahme der Größe dieser präsynaptischen Strukturen war von der Arbeitsgruppe von Stephan Sigrist zuvor als Ursache für eine altersbedingte Gedächtnisstörung in der Fruchtfliege Drosophila gefunden worden. Die Fruchtfliege gilt als etabliertes genetisches Modell für eine altersbedingte Gedächtnisstörung. Die vergrößerten präsynaptischen Strukturen verstärken die synaptischen Signale und erschwerten damit gleichzeitig nach der Vermutung der Forscherinnen und Forscher die Fähigkeit, plastische Veränderungen einzugehen. Damit aber werden Lernprozesse beeinträchtigt bis hin zur Ineffizienz. Die genetische Nachahmung einer solchen Vergrößerung war tatsächlich hinreichend, um Gedächtnisstörungen schon bei jungen Drosophila-Tieren auszulösen, wie die Mitglieder der Arbeitsgruppe herausfanden. Ein Mittel, diesen altersbedingten Gedächtnisstörungen entgegenzuwirken, ist den Ergebnissen zufolge das körpereigene Kleinmolekül Spermidin, dessen Konzentration im Körper mit zunehmendem Alter abnimmt. Die Forscherinnen und Forscher konnten zeigen, dass die Fütterung der Fliegen mit Spermidin die Größe der präsynaptischen Strukturen und damit die Gedächtnisleistungen auf dem Niveau jugendlicher Tiere stabilisieren konnte. Spermidin führte zur Belebung des zellulären Reinigungsprogramms Autophagie, wie in mehreren Tiermodellen und in menschlichen Zellen gezeigt werden konnte. Tatsächlich deuten neueste Studien darauf hin, dass die Verabreichung von Spermidin auch ältere Menschen vor Demenz schützen könnte.
Wie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weiter herausfanden, ist die Fähigkeit der Fruchtfliege, etwas zu erinnern, abhängig davon, wie gut das Reinigungsprogramm Autophagie in einem spezifischen Lern- und Gedächtniszentrums in ihrem Gehirn funktioniert. „Eine genetische Blockade der Autophagie in diesem Lern- und Gedächtniszentrum verursachte eine frühzeitige Gedächtnisstörung, die junge Tiere bereits ,alt‘ aussehen ließ“, erläutert Biologie-Professor Stephan Sigrist. Überraschenderweise führte die Blockade der Autophagie in diesen Regionen im gesamten Gehirn zu einer Zunahme dieser präsynaptischen Struktur. Diese Synapsen ähnelten denen älterer Tiere.
Normalerweise unterdrücke die Freisetzung schützender Neuropeptide eines bestimmten Typus aus den Lernzentren die synaptische Alterung im Gehirn. Wird die autophagische Reinigung in den Lernzentren allerdings ineffizient, würden auch weniger solcher Neuropeptide freigesetzt, und die Synapsen alterten im gesamten Gehirn. Genau solche Neuropeptide wiederum würden als mögliche Anti-Aging-Faktoren auch für Menschen angesehen und untersucht, sodass direkte Bezüge zur menschlichen Situation wahrscheinlich seien.
Veröffentlichung
Bhukel A*, Beuschel CB*, Maglione M, Lehmann M, Juhasz G, Madeo F, Sigrist SJ. (2019) Autophagy within the mushroom body protects from synapse aging in a non cell autonomous manner. Nature Communications, 21.3.2019; DOI: 10.1038/s41467-019-09262-2.
Carsten Wette Stabsstelle für Presse und Kommunikation
Freie Universität Berlin
Mitteilung des idw – Informationsdienst Wissenschaft am 21.03.2019
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