Mittwoch, 20. März 2019

Bürgerbeteiligung als Antwort auf die Krise der Demokratie

Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in demokratische Institutionen oder sogar gegenüber der Demokratie als Staatsform ist in den letzten Jahren gesunken. Diese Krise der Demokratie ist auch eine Krise der öffentlichen Kommunikation, erklärt André Bächtiger in seiner jüngst in der US-amerikanischen Fachzeitschrift Science erschienenen Veröffentlichung.

Der Sozialwissenschaftler der Universität Stuttgart untersucht gemeinsam mit einem internationalen Team den Zusammenhang zwischen Deliberation und dem Vertrauen der Bürger in die Demokratie. Einen Ausweg aus der Krise sieht er in mehr Deliberation unter den Bürgern. Deliberation lässt sich als kommunikativen Austausch definieren, bei dem nicht Macht und Manipulation, sondern Argumentieren und respektvolles Zuhören im Vordergrund stehen.

„Befeuert durch die politische Polarisierung sind wir mit abnehmendem Respekt und sinkender argumentativer Komplexität konfrontiert. Abnehmender Respekt führt zu einem Vertrauensverlust in demokratische Institutionen“, ist Bächtiger überzeugt und führt weiter aus: „Zunehmende politische Polarisierung hat zur Folge, dass Bürger nicht mehr auf gute Argumente, sondern nur noch auf Parteibotschaften hören, oder sich ganz von der Politik zurückziehen.“ Sinkende argumentative Komplexität – in Kombination mit „fake news“ und „gefühlter Wahrheit“ – wiederum führe zu einer Diskrepanz zwischen scheinbar einfachen Lösungen und realen komplexen Problemen.

Differenzierteres Nachdenken über gesellschaftliche Probleme

Die empirische Forschung zeigt, dass sich Menschen kompetent in Deliberationsverfahren einbringen, wenn ihnen die Möglichkeit von wirksamer dialogischer Beteiligung angeboten wird. In den letzten zwanzig Jahren sind weltweit Tausende von Bürgerdeliberations-Formate initiiert worden, mit dem Ziel, Bürgerinnen und Bürger auf neue Art in Politik zu involvieren und eine neue Beteiligungskultur zu schaffen.

Wie die Forschung nachweist, kann Deliberation helfen, dass sich die Bevölkerung der Komplexität gesellschaftlicher und politischer Probleme bewusst wird und differenzierter darüber nachdenkt. Sie kann auch dazu beitragen, dass Bürgerinnen und Bürger ein neues Gefühl für zivilgesellschaftlichen Gemeinsinn entwickeln sowie einen respektvollen Umgang mit Andersdenkenden erleben und erlernen. Auf diese Weise könne Bürgerdeliberation Elitemanipulation, Polarisierung und Populismus entgegenwirken, folgert Bächtiger.

Als zentrale Frage wirft er in dem Artikel auf, wann politische Eliten überhaupt Interesse haben, Bürger in Dialogverfahren einzubeziehen. Die Erfahrung zeige, dass dies insbesondere dann der Fall sei, wenn Eliten einen starken Vertrauensverlust erlitten haben. Als Beispiel dafür führt Bächtiger die Proteste zu Stuttgart 21 an, die in Baden-Württemberg heute zu einer Institutionalisierung von dialogorientierten Bürgerbeteiligungsverfahren bei Infrastruktur-Großprojekten geführt haben.

Als weiteres prominentes Beispiel nennt der Artikel Irland, wo nach der Finanzkrise 2008 Verfassungsänderungen wie gleichgeschlechtliche Ehe oder Liberalisierung von Abtreibung in Bürgerversammlungen vorberaten wurden. Deren Vorschläge wurden nicht nur von der repräsentativen Politik konstruktiv aufgegriffen, sondern auch in zwei Referendumsabstimmungen von der Bevölkerung mit deutlicher Mehrheit angenommen. „Die aktuelle Politik ist noch weit entfernt von einer deliberativen Wende. Doch erfolgreiche Beispiele weltweit zeigen, dass einem Vertrauensverlust in die Demokratie durch mehr Bürgerdeliberation konstruktiv begegnet werden kann“, ist André Bächtiger überzeugt.

Andrea Mayer-Grenu Abteilung Hochschulkommunikation Universität Stuttgart

Mitteilung des idw – Informationsdienst Wissenschaft am 19.März 2019


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