Neue Studie
Überzogene Zahlen, riskante Schlussfolgerungen: Wie die Fachkräftesituation dramatisiert wirdUnternehmerverbände und Beratungsfirmen machen Schlagzeilen mit Berichten über einen angeblich weit reichenden Fachkräftemangel, oft in siebenstelliger Größenordnung. Dagegen sieht die Bundesagentur für Arbeit, die über den besten Datenzugang zum Arbeitsmarkt verfügt, keinen flächendeckenden Fachkräftemangel, sondern einen Mangel an Fachkräften in einzelnen technischen Berufsfeldern, in Bauberufen sowie in Gesundheits- und Pflegeberufen.
Diese Sichtweise ist weitaus überzeugender, zeigt eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, die beispielhaft die Unternehmensumfragen des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) zum Thema durchleuchtet.* Denn solche Krisenszenarien zum Arbeitskräfteangebot zeigen methodische Schwächen und Widersprüche, die im untersuchten Fall zu deutlich überhöhten Zahlen führen. Außerdem enthalten sie Forderungen, die auf Kosten von Arbeitnehmern gehen – und längerfristig sogar selbst zu Fachkräfteengpässen beitragen könnten.
Vor wenigen Monaten war es der DIHK, der für Furore sorgte: Fast jedes zweite Unternehmen in Deutschland, 48 Prozent, habe aktuell offene Stellen, die es „längerfristig – im Zweifel gar nicht – besetzen“ könne, schrieb der Arbeitgeberverband in seinem Arbeitsmarktreport. Insgesamt gebe es 1,6 Millionen Jobs, die mangels geeigneter Bewerber nicht besetzt werden könnten. Erstaunlich an der Darstellung: Besonders weit verbreitet sei der Fachkräftemangel laut DIHK in diversen Branchen, die im Mittel keine hohen Qualifikationsansprüche stellen, etwa in der Leiharbeit oder dem Bewachungsgewerbe. In der gesamten Wirtschaft, so der Verband, sei Fachkräftemangel schon heute das größte Geschäftsrisiko für Unternehmen. Deshalb, so der DIHK, solle die Einwanderung von Arbeitskräften aus Ländern außerhalb der EU erleichtert werden.
Dr. Eric Seils, Sozialwissenschaftler am WSI hat die DIHK-Auswertung exemplarisch untersucht. Seine Kernergebnisse: Auf der Basis amtlicher Daten und bei genauer Analyse der Methode lasse sich zeigen, dass die Behauptungen des DIHK zur Verbreitung des Fachkräftemangels deutlich überzogen sind, so Seils. Es existiere auch kein Fachkräftemangel in Niedriglohnbranchen mit geringen Qualifikationsanforderungen, sondern nur eine hohe Personalfluktuation. Die Klagen vieler Unternehmer in diesem Bereich über ein angebliches Geschäftsrisiko Fachkräftemangel dienten nur dem Ziel, den Anstieg der Arbeitskosten im deutschen Niedriglohnsektor zu dämpfen, vermutet der Forscher.
Die Ergebnisse im Detail:
Bleibt wirklich fast jede zweite Stellen längerfristig unbesetzt? An der DIHK-Befragung haben sich zwar knapp 24.000 Unternehmen beteiligt. Allerdings kommen kleine Unternehmen, die auch laut DIHK weitaus seltener auf Personalsuche gehen und deshalb auch seltener auf Schwierigkeiten stoßen, in der Befragung weitaus seltener vor als in Wirklichkeit. Deshalb sei die Stichprobe nicht repräsentativ und die angebliche Quote von 48 Prozent Unternehmen mit Besetzungsproblemen deutlich zu hoch, analysiert WSI-Experte Seils. Korrigiert man die Verzerrung in der DIHK-Umfrage – wie der DIHK es normalerweise selbst macht – durch eine Gewichtung mit der Unternehmensgröße, dann liegt der Anteil der Unternehmen, die seit mindestens zwei Monaten eine Stelle nicht besetzen können, bei 33 Prozent. „Ein weiteres Problem mit dieser Zahl ist die Definition von ‚längerfristig‘“, sagt Seils. Er verweist auf die amtlichen Daten der Bundesagentur für Arbeit, wonach die durchschnittliche Stellenbesetzung (abgeschlossene Vakanzdauer) schon vor einem Jahrzehnt mehr als zwei Monate dauerte. „Das heißt nicht, dass die Wiederbesetzung in einzelnen Engpassberufen heute nicht deutlich länger dauert als früher. Aber als Indiz für einen weit verbreiteten Fachkräftemangel ist die in der DIHK-Umfrage gewählte Zeitgrenze schlicht wenig aussagekräftig.“
Gibt es wirklich 1,6 Millionen offene Stellen? Die vom DIHK angegebene Zahl von 1,6 Millionen Stellen, die mangels Fachkräften nicht besetzt werden könnten, liegt gleich um 60 Prozent über den knapp 984.000 sofort zu besetzenden offenen Stellen in Deutschland, die das wissenschaftliche Institut der Bundesagentur für Arbeit (IAB) auf Basis seiner repräsentativen Befragung meldet. Und das, obwohl das IAB dabei auch Vakanzen erfasst, die schnell wieder besetzt werden können und zudem den öffentlichen Dienst, das Handwerk und die Landwirtschaft abdeckt, die im DIHK-Bericht außen vor bleiben. Außerdem behauptet der DIHK, dass 1,6 Millionen Fachkräfte fehlen, während in der Zahl des IAB selbst einfache Helferstellen enthalten sind. Dass der Wirtschaftsverband mit seiner viel höheren Zahl richtiger liegen könnte als das IAB, ist für Seils schon aus einem simplen Grund ausgeschlossen: Im DIHK-Fragebogen wird gar nicht erhoben, wie viele Stellen pro antwortendem Unternehmen unbesetzt geblieben sind. „Es bleibt somit unklar, wie der DIHK auf die Zahl von 1,6 Millionen offenen Stellen kommt“, schreibt der Wissenschaftler.
Kein Mangel an Fachkräften, sondern an Zahlungsbereitschaft. Noch zweifelhafter sind nach Seils´ Analyse die Schlussfolgerungen des DIHK zu vermeintlich besonders von Fachkräftemangel betroffenen Branchen. Neben den Gesundheits- und Sozialdienstleistungen, für die auch die Arbeitsagentur zumeist flächendeckende Engpässe ausweist, stellt der Wirtschaftsverband auf Basis seiner Befragung eine überraschende Spitzengruppe zusammen: So könnten 83 Prozent der Unternehmen in der Leiharbeit Stellen mangels qualifizierter Bewerber längerfristig nicht besetzen. In der Sicherheitswirtschaft hätten 78 Prozent dieses Problem, im Straßengüterverkehr 63 Prozent und im Gastgewerbe 62 Prozent. Damit, so Seils, wären vor allem Niedriglohnbranchen betroffen, in denen „weit unterdurchschnittliche Anforderungen an die Qualifikation gestellt werden“. Abzulesen daran, dass der Anteil an- und ungelernter Beschäftigter relativ hoch und der Verdienstvorteil von Beschäftigten mit einschlägiger Ausbildung vergleichsweise klein ist.
Dass ausgerechnet in solchen Branchen die Fachkräfte – zu denen die DIHK-Untersuchung im Übrigen bereits „Doormen“ in Supermärkten zählt – etwa aus demografischen Gründen knapp werden sollten, ist nach Analyse des Wissenschaftlers nicht plausibel. Vielmehr sei in Niedriglohnbereichen typischerweise eine hohe Personalfluktuation zu beobachten, betont Seils. Am stärksten zeige sich das bei der Leiharbeit: Auf die entfielen im Herbst 2017 laut Arbeitsagentur knapp drei Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten, aber 34 Prozent aller gemeldeten Stellen. Hintergrund: Arbeitgeber betrieben im Niedriglohnsegment oft eine Personalpolitik des „hire and fire“, um an möglichst kostengünstiges Personal zu kommen. Dies führe zu vielen offenen Stellen, erklärt Seils.
Arbeitgeber hätten aber einen starken Anreiz, Vakanzen eher mit Fachkräfteproblemen zu erklären, vermutet der Wissenschaftler: Wenn sie sich an der Umfrage des DIHK beteiligten und sich über „Fachkräftemangel“ beklagten, könnten sie hoffen, dass sich der DIHK politisch für günstiges Personal aus dem Ausland einsetze. Was der Verband in seinen Schlussfolgerungen ja auch tue – „durch politische Forderungen, die geeignet sind, die Einwanderung zu nutzen, um die Entwicklung der Arbeitskosten im deutschen Niedriglohnsektor zu dämpfen.“
Einwanderung von Fachkräften nicht diskreditieren. Eine überzogene Dramatisierung von Arbeitskräfteengpässen gehe dann aber nicht nur zu Lasten der in Niedriglohnbranchen Arbeitenden, deren Löhne weiter unter Druck gerieten. Auch für die Wirtschaft insgesamt sei sie riskant, warnt der Forscher. Denn erstens setzten künstlich niedrige Löhne falsche Preissignale, durch die produktivitätssteigernde Innovationen nicht oder nur verspätet eingeführt würden. Zweitens könnten Übertreibungen gesellschaftlich „die in den kommenden Jahrzehnten wünschenswerte Einwanderung von Fachkräften in den Augen der Menschen diskreditieren.“
Seils empfiehlt daher, ein modernes Einwanderungsgesetz zu schaffen, das nicht zum Lohndumping genutzt werden kann. Dafür sollte die Arbeitsmigration aus Nicht-EU-Staaten weiterhin an eine konkrete Stellenzusage geknüpft sein. Zudem empfiehlt der WSI-Experte, die Gehaltsschwellen für Hochqualifizierte aus Drittstaaten nicht zu senken. Das deutsche Mindestgehalt für Ärzte, Ingenieure oder Naturwissenschaftler von gut 40.000 Euro brutto im Jahr sei im internationalen Vergleich bereits sehr niedrig.
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