„Der Kampf für Freiheit und Solidarität hört nie auf“
Kardinal Marx hält Rede am Europäischen Solidarność-Zentrum
in Danzig
Der
Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx,
hat während seines Polenbesuchs gestern Abend (30. August 2018) zu einem
verstärkten Einsatz
für ein Leben in Freiheit und Solidarität aufgerufen. Bei einer Rede im
Europäischen Solidarność-Zentrum (ECS) in Danzig, die unter dem
Leitwort „Ethik der Solidarität“ stand, sagte er mit Blick auf die
bewegende polnische Geschichte, dass es immer Augenblicke
gebe, in denen der Mensch Stellung beziehen müsse: „Wir müssen solche
Momente nutzen, wir müssen tun, was der politische Moment der Geschichte
von uns fordert. Das hat Polen in den 80er Jahren in beeindruckender
Weise gezeigt. Solche Momente des Handelns,
auch des politischen Handelns, gibt es immer wieder, auch in der
Kirche“, so Kardinal Marx. Er warnte davor, sich in Krisenzeiten
zurückzuziehen und nicht zu Wort zu melden. Die polnische Geschichte
habe eine Wende erfahren, weil das Volk mit der Solidarność-Bewegung
im richtigen Moment aufgestanden sei. Solches Engagement bleibe auch in
Zukunft notwendig: „Der Kampf für Freiheit und Solidarität hört nie
auf. Das gilt auch heute!“
Kardinal
Marx war vom Danziger Erzbischof Sławoj Leszek Głódź und dem dortigen
Stadtpräsidenten Paweł Adamowicz eingeladen worden, am Vorabend des 31.
August in Danzig
zu sprechen. Er setzte damit eine Tradition fort, die in den
zurückliegenden Jahren prominente Vertreter des internationalen
geistigen Lebens nach Danzig geführt hat, um am „Geburtsort der
Solidarność“ grundlegende Fragen der Gesellschaft zu erörtern. Am 31.
August 1980 wurde hier das historische Abkommen zwischen den Arbeitern
der Lenin-Werft und der kommunistischen Regierung unterzeichnet, durch
das der Staat erstmals eine freie Gewerkschaft anerkannte.
Kardinal
Marx mahnte in Danzig, dass die Gesellschaft und die politisch
Verantwortlichen, aber auch die Kirche einen bleibenden Auftrag hätten,
durch Versöhnung Freundschaft
zu fördern. „Dieser Prozess ist nie abgeschlossen, gerade zwischen
Polen und Deutschland nicht. Dafür müssen wir uns einsetzen, gerade in
unserer Verantwortung für künftige Generationen.“ Danzig sei dabei ein
besonderer Ort der Hoffnung, der den Aufbruch eines
ganzen Landes markiere. „Das spürt man bis heute hier in dieser Stadt,
auf den Straßen, bei den Menschen.“
Kardinal
Marx erinnerte in seiner Rede vor mehreren hundert Zuhörern an den
Begriff der Freiheit, deren Verwirklichung eine bleibende Aufgabe auch
der Kirche sei. Freiheit
bedeute immer auch solidarisches Handeln. „Der Mensch lebt in
Beziehung. Es gibt keine Identität ohne eine Beziehung zum anderen.
Solidarität, Identität und Personalität gehören untrennbar zusammen. Das
meint der Begriff der einen Menschheitsfamilie, die aufeinander
bezogen ist. Wir haben eine Verantwortung, ja die Verpflichtung,
füreinander einzutreten“, unterstrich Kardinal Marx. Das meine auch
Papst Franziskus, wenn er vom „gemeinsamen Haus“ spreche: Die eine
Menschheitsfamilie mit all ihren Unterschiedlichkeiten bedürfe
der Verantwortung aller.
Kardinal
Marx betonte, dass gelebte Solidarität die Anerkennung der
Verschiedenheit des anderen voraussetze. „Der Respekt gegenüber der
Verschiedenheit ist das Ja zum
Nächsten. Die andere Person anzuerkennen, ist der einzige Weg für ein
friedliches Zusammenleben zwischen Menschen, Kulturen, Kontinenten. In
solidarischer Überzeugung muss ich Verantwortung für den anderen
übernehmen. Das gilt auch in der europäischen Flüchtlingsdebatte.“
Kardinal Marx erläuterte, dass gerade das christliche Menschenbild von
der Idee verantwortlicher Freiheit bestimmt sei. Spannungen, die um
diesen Begriff von Freiheit und Verantwortung kreisen, erlebten im
Moment viele Nationen in Europa, auch in der Kirche.
Kardinal Marx rief zu einem größeren Einsatz für die Akzeptanz des
anderen in seiner Verschiedenheit auf. „Eine freie Gesellschaft kann und
muss Unterschiede ertragen. Freiheit meint daher immer auch eine
Freiheit zur Entscheidung für oder gegen etwas. Diese
Entscheidungsfreiheit muss aber immer den anderen akzeptieren und
respektieren.“
In
Danzig ermutigte Kardinal Marx außerdem zu einem neuen Bewusstsein für
Europa, dem großen Projekt des Friedens. Der europäische Gedanke
bedeute, freiwillig auf Souveränität
zu verzichten, jedoch nicht auf einen recht verstandenen Patriotismus.
Dies hätten auch die polnischen Bischöfe in ihrer Erklärung
„Patriotismus in christlicher Gestalt“ vom März 2017 eindrucksvoll
beschrieben, sagte Kardinal Marx. „Wir alle dürfen und sollen
im guten Sinn des Wortes Patrioten sein. Aber wir müssen auch über den
eigenen Tellerrand hinausschauen, um unserer Verantwortung für das
gemeinsame Haus gerecht zu werden.“ Solidarität vollziehe sich in
abgestufter Form – beginnend mit Ehe und Familie bis
hin zur internationalen Verantwortung. Aber auch die entfernteren
„Verantwortungskreise“ dürften nicht negiert werden. „Wir als Kirche
stehen auf der Seite der Freiheit und der einen Menschheitsfamilie,
nicht auf der Seite extremer Nationalismen. Das kann
nicht sein! Die Kirche hat einen Dienst zu leisten in der Welt“,
betonte der Kardinal. Das sei ein Dienst an und für jeden Menschen, egal
ob er zur Kirche gehöre oder nicht, ob er gläubig sei oder nicht, ob
Christ oder Muslim. „Hier geht es um die Menschenwürde,
und für die setzen wir uns als Kirche ohne Grenzziehung ein.“ Deshalb
liege gerade jetzt vor der Kirche eine große Aufgabe in einer Welt, die
in Einzelinteressen auseinanderbreche, wo sich Hass und Polarisierung
steigerten. „Die Welt, davon bin ich überzeugt,
ist offen für das, was die Kirche zu sagen hat. Wir wollen unseren
Beitrag in solidarischer Verantwortung in der Gesellschaft leisten und
Zeugen des Glaubens sein. Durch das Zeugnis der Kirche in Polen während
der 80er Jahre durften wir lernen, was Solidarität
und das Überwinden von Einzelinteressen bedeutet. Die Kirche wurde als
Raum der Solidarität, der Freiheit, des Dialogs erlebt. Das sollte uns
Ansporn für heute sein“, so Kardinal Marx. Eine Institution, die nur
zurückschaue und zu verteidigen versuche, was
einmal war, habe keine Zukunft. „Richten wir den Blick mit der
Erfahrung der Geschichte nach vorne, um Verantwortung in dieser Welt aus
ethischer und christlicher Überzeugung zu übernehmen. So ist die Kirche
kein Museum, sondern sichtbares und wirksames Werkzeug
Gottes in dieser Welt.“
Bereits
gestern Vormittag hatte sich Kardinal Marx mit dem früheren polnischen
Staatspräsidenten und Solidarność-Führer Lech Wałęsa getroffen. In dem
Gespräch ging
es um das Anwachsen populistischer und antieuropäischer Bewegungen in
Europa und anderen Teilen der Welt und um die Frage, wie die geistigen
Grundlagen Europas erneuert und das Wirtschafts- und Sozialmodell
weiterentwickelt werden könnten.
Beim
Besuch der Dauerausstellung im ECS informierte sich Kardinal Marx über
den Freiheitskampf der Solidarność-Bewegung und diskutierte die aktuelle
politische und
gesellschaftliche Situation in Polen. Er würdigte die historische
Bedeutung der Solidarność: „Dieses Engagement für die Freiheit hat mein
Leben sehr inspiriert. Auch heute – in Erinnerung an die Kämpfer von
damals – müssen wir uns alle für die Freiheit einsetzen“,
so Kardinal Marx. In Erinnerung an die Opfer der Auseinandersetzungen
in Danzig (1970 und 1979/1980) legte Kardinal Marx einen Kranz mit der
Aufschrift „Für eure und unsere Freiheit“ am Denkmal für die gefallenen
Arbeiter der Lenin-Werft nieder. Er griff damit
einen Slogan des Hambacher Festes (1832) auf, das die deutsche und die
polnische Nationalbewegung zusammenführte. „Wir dürfen die Geschichte
nicht vergessen. Niemals, und schon gar nicht an diesen Orten“, sagte
Kardinal Marx im Beisein des Stadtpräsidenten
von Danzig, Paweł Adamowicz.
Seit vergangenem Mittwoch hält sich Kardinal Marx in Danzig auf. Heute setzt er seine Reise mit Gesprächen in Posen fort.
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