Vortrag: Die Nordhäuser jüdische Gemeinde im 19. Jahrhundert - im Spiegel des Pogroms 1938
Nordhausen (psv)
Anlässlich des Gedenkens der jüdischen Opfer der Pogromnacht 1938
bietet die Stadtbibliothek Nordhausen allen Kultur- und
Geschichtsinteressierten am 9. November 2016 um 17.30 Uhr einen Vortrag
an. Das Thema lautet:
„Die Nordhäuser jüdische Gemeinde im 19. Jahrhundert - im Spiegel des Pogroms 1938“
Alle
Interessierten sind herzlich eingeladen, mit der Historikerin
Marie-Luis Zahradnik in die Geschichte des jüdischen Lebens in
Nordhausen in
seiner Blütezeit vor der nationalsozialistischen Machtergreifung
einzutauchen.
In Ergänzung zum Vortrag werden auch vergangene und aktuelle Aktivitäten zur Gedenkkultur vorgestellt.
Hier einige Ausführungen von Marie-Luis Zahradnik:
„Die Nordhäuser jüdische Gemeinde im 19. Jahrhundert – im Spiegel des Pogroms 1938“
Als
der jüdische Reformer und Aufklärer Moses Mendelssohn an Marquis
d’Argens zu Beginn des Jahres 1763 schrieb: „Es thut mir weh, daß ich um
das Recht der Existenz erst bitten soll, welches das Recht eines jeden
Menschen ist […]“ sprach er unzähligen seiner Glaubensgenossen aus der
Seele. Es war eine Zeit, in der die jüdische Minderheit territorial
unterschiedlich mit einer restriktiven Judenpolitik
an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurde. Neben den
Niederlassungsbeschränkungen war das Leben und Arbeiten oft zusätzlich
mit dem Zahlen von Leib- und Geleitzoll und weiteren besonderen Abgaben
verbunden. Die feudale Gesellschaftsordnung und das Zunftwesen
ließen die Juden nicht in ihre Kreise, sodass sie oft durch eine
Tätigkeit im Geldwesen und Trödel ihren Lebensunterhalt bestritten. Der
Bildungszugang beschränkte sich oft auf jüdische Schulen, sodass lange
Zeit das Jiddische und das Hebräische ihre einzigen
Kommunikationsmittel waren, die auf die restliche Gesellschaft
befremdlich wirkten. In manchen Reichsstädten, wie in Nordhausen, war es
den Juden gar nicht möglich, sich dort niederzulassen, wenn dann nur
tageweise, um Kleinhandel zu betreiben. Die Angst vor
wirtschaftlicher Konkurrenz, der Nahrungsschutz und die für Christen
oft fremdwirkende Religion und Lebensweise ließen einen Eintritt in das
städtische Leben und in die bürgerlichen Kreise nicht zu. Zwar hatten
Ideen und Schriften von den Aufklärern wie Moses
Mendelssohn und Christian Konrad Wilhelm von Dohm die
Landesherren für eine Verbesserung der Verhältnisse der Juden
schrittweise gewinnen können, doch erst in Folge der Napoleonischen
Gebietseroberungen
in Europa kam es zu einem radikalen Umbruch der alten
Gesellschaftsordnung, in dem nun von König Jérôme Bonaparte, dem
jüngsten Bruder
Napoleon Bonapartes, regierten Gebiet.
Dieser
Herrschaftswechsel bedeutete für die seit 1808 nach Nordhausen
gezogenen Juden die völlige Gleichstellung. Zwar büßten sie mit der
Wiederinbesitznahme
durch Preußen 1815 einen Teil ihrer Rechte wieder ein, bei der
Niederlassungs-, Handels- und Gewerbefreiheit sowie den städtischen
Bürgerrechten blieb es aber. Damit waren sie deutlich besser gestellt
als die Juden in den anderen, nicht vormals westphälischen
Landesteilen Preußens.
Anhand
von Seelenlisten und Daten amtlicher Statistiken wird ersichtlich, dass
sie Gemeinde zunächst durch Zuzug und dann durch Familiengründungen
zügig anwuchs, sodass die Synagogengemeinde in Nordhausen zur größten
im preußischen Regierungsbezirk Erfurt wurde. Trotz der Konfrontation
mit manifestierten Ansichten der christlichen Umwelt erfuhren die Juden
in Nordhausen einen sozialen Aufstieg. So etablierten
sich im Laufe des Jahrhunderts rund ein Fünftel der jüdischen
Geschäftsleute als Fabrikanten. Im Übrigen verblieben sie jedoch im
Wesentlichen in den traditionell jüdischen Berufen, betrieben also
Handel und Geldgeschäfte. Da der Handel in Nordhausen schon
immer bedeutsam war und sich die Stadt wirtschaftlich sehr gut
entwickelte, konnten sich die Juden hier wirtschaftlich gut einfinden.
Die
Lockerung der religiösen Tradition war mit einer Assimilation an das
christliche Umfeld verbunden. Weitere Hinweise wie z. B. der Kauf eines
Harmonium zur Unterstützung des gegründeten Synagogenchors und die
unbenannte Durchführung der Bar Mitzwa in Konfirmation lassen darauf
schließen, dass es sich um eine Reformgemeinde handelte. Nicht nur die
Gemeinde wies ein reformorientiertes, liberales und
modernes Verhalten in der Glaubensausübung auf, sondern auch die
Aktivitäten der einzelnen Mitglieder. So gab es überkonfessionelle
Kontakte die zunächst vornehmlich auf wirtschaftlicher Zusammenarbeit
beruhten und dann auch von caritativen Vereinsaktivitäten
ergänzt wurden. Das überkonfessionelle Miteinander und Zusammenwachsen
wurde bestärkt u. a. durch den wirtschaftlichen und sozialen Erfolg auf
jüdischer Seite und durch die liberalen und demokratischen Strömungen in
der Nordhäuser Gesellschaft um die 1840er
und 1850er Jahre. Die zunehmend auch politisch aktiv werdenden Juden
wie Jakob Plaut und Nathan Cohn schlossen sich dem Kampf der 1848/1849er
Revolution um Freiheit und Gleichheit der breiten Bevölkerung an. Denn
allein sie wussten einmal mehr, was es heißt,
auf gleiche Rechte zu hoffen, die bis zur vollkommenen
Gleichberechtigung der Konfessionen im
Norddeutschen Bund
1869 noch territorial unterschiedlich
geregelt waren oder gar den Juden versagt blieben. Die lang erkämpften
und erhofften Errungenschaften der bürgerlichen und rechtlichen
Gleichstellung, Entfaltung des jüdischen Lebens und das Miteinander nahm
mit der nationalsozialistischen Machtergreifung
ein jähes Ende. Die jüdische Minderheit erfuhr durch die
antisemitischen Rassengesetze mehr als zuvor Diskriminierung und
Ausgrenzung, bis hin zur systematischen Zerstörung.
Die
mitgliederstarke Gemeinde nutzte für die Ausübung der Religiosität und
als Gemeindetreffpunkte zunächst ein Betlokal in der Ritterstraße,
später ein Badehaus am Hagen. In den 1820er Jahren kaufte sie Land auf
dem Töpferfelde und nutzte es ab 1828 als Friedhof. Ihre Kinder wurden
in der jüdischen Religion und Geschichte, in Hebräisch und in der
Heiligen Schrift in der eigenen Religionsschule
beschult. 1845 war der Höhepunkt des jüdischen Lebens durch die
Einweihung der Synagoge am Pferdemarkt gekennzeichnet. „Das Gotteshaus
steht allen offen, die darin beten wollen“, so sagte es der damalige
Prediger der Gemeinde Abraham Jacob Cohn zur Einweihungsfeier
im September 1845. Damit setzte er ein Zeichen, nämlich, dass die
Gemeinde aufgeschlossen war und auch der Umwelt vertraute, ihr
Gotteshaus für Gebete jedem öffnete. Ab 1887 folgte die Sanierung die
Synagoge, da ein Bautechnisches Gutachten zum Ergebnis kam,
dass die Synagoge besonders an den Wetterseiten, an denen die Wände den
meisten Niederschlägen ausgesetzt waren, baufällig war. Der Gutachter
gab Sanierungsvorschläge und empfahl u. a., die westliche Giebelwand,
die nur noch durch die Mauerblende gehalten
wurde, mit wetterfestem Ziegelmaterial komplett zu erneuern. Mit den
Renovierungs- und Sanierungsarbeiten der Synagoge wurden auch gleich
bauliche Veränderungen vorgenommen und die Gemeinde entschloss sich zur
Errichtung eines Vorbaus mit Kuppeldach. Die Kostenvoranschläge
beliefen sich für das Bauvorhaben und die Sanierung auf 12.000 bis
15.000 Mark, die mit vorheriger Genehmigung von der Regierung in Erfurt
durch die Aufnahme eines Darlehens bezahlt wurden. Bereits ein Jahr
später erfolgte im August 1888 die feierliche Einweihung,
zu der auch viele christliche Gäste kamen.
Anlässlich
des Gedenkens der jüdischen Opfer der Pogromnacht 1938 bietet die
Stadtbibliothek in Nordhausen im Lesesaal allen Kultur- und
Geschichtsinteressierten
am 9. November 2016 um 17.30 Uhr den Vortrag an. Sie sind herzlich
eingeladen, mit der Historikerin Marie-Luis Zahradnik, die bereits auch
gut besuchte Führungen über den jüdischen Friedhof unternahm und in den
Nordhäuser Nachrichten sowie in der „Gelben Reihe“
des Nordhäuser Geschichts- und Altertumsvereins themenbezogene Beiträge
veröffentlichte, in die Geschichte des jüdischen Lebens in Nordhausen
in seiner Blütezeit vor der nationalsozialistischen Machtergreifung
einzutauchen. Denn um den Verlust der unwiderruflichen
Zerstörung des jüdischen Lebens in der Stadt Nordhausen begreifen zu
können, ist es wichtig zu erkennen, was und wieviel durch den
nationalsozialistischen Terror verloren gegangen ist. In Ergänzung zum
Vortrag werden auch vergangene und aktuelle
Aktivitäten zur Gedenkkultur vorgestellt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen