Freitag, 4. November 2016

Am 9. November in der Stadtbibliothek:

Vortrag: Die Nordhäuser jüdische Gemeinde im 19. Jahrhundert - im Spiegel des Pogroms 1938

Nordhausen (psv) Anlässlich des Gedenkens der jüdischen Opfer der Pogromnacht 1938 bietet die Stadtbibliothek Nordhausen allen Kultur- und Geschichtsinteressierten am 9. November 2016 um 17.30 Uhr einen Vortrag an. Das Thema lautet:  „Die Nordhäuser jüdische Gemeinde im 19. Jahrhundert - im Spiegel des Pogroms 1938“

Alle Interessierten sind herzlich eingeladen, mit der Historikerin Marie-Luis Zahradnik in die Geschichte des jüdischen Lebens in Nordhausen in seiner Blütezeit vor der nationalsozialistischen Machtergreifung einzutauchen.

In Ergänzung zum Vortrag werden auch vergangene und aktuelle Aktivitäten zur Gedenkkultur vorgestellt.

Hier einige Ausführungen von Marie-Luis Zahradnik:

Die Nordhäuser jüdische Gemeinde im 19. Jahrhundert – im Spiegel des Pogroms 1938“
Als der jüdische Reformer und Aufklärer Moses Mendelssohn an Marquis d’Argens zu Beginn des Jahres 1763 schrieb: „Es thut mir weh, daß ich um das Recht der Existenz erst bitten soll, welches das Recht eines jeden Menschen ist […]“ sprach er unzähligen seiner Glaubensgenossen aus der Seele. Es war eine Zeit, in der die jüdische Minderheit territorial unterschiedlich mit einer restriktiven Judenpolitik an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurde. Neben den Niederlassungsbeschränkungen war das Leben und Arbeiten oft zusätzlich mit dem Zahlen von Leib- und Geleitzoll und weiteren besonderen Abgaben verbunden. Die feudale Gesellschaftsordnung und das Zunftwesen ließen die Juden nicht in ihre Kreise, sodass sie oft durch eine Tätigkeit im Geldwesen und Trödel ihren Lebensunterhalt bestritten. Der Bildungszugang beschränkte sich oft auf jüdische Schulen, sodass lange Zeit das Jiddische und das Hebräische ihre einzigen Kommunikationsmittel waren, die auf die restliche Gesellschaft befremdlich wirkten. In manchen Reichsstädten, wie in Nordhausen, war es den Juden gar nicht möglich, sich dort niederzulassen, wenn dann nur tageweise, um Kleinhandel zu betreiben. Die Angst vor wirtschaftlicher Konkurrenz, der Nahrungsschutz und die für Christen oft fremdwirkende Religion und Lebensweise ließen einen Eintritt in das städtische Leben und in die bürgerlichen Kreise nicht zu. Zwar hatten Ideen und Schriften von den Aufklärern wie Moses Mendelssohn und Christian Konrad Wilhelm von Dohm die Landesherren für eine Verbesserung der Verhältnisse der Juden schrittweise gewinnen können, doch erst in Folge der Napoleonischen Gebietseroberungen in Europa kam es zu einem radikalen Umbruch der alten Gesellschaftsordnung, in dem nun von König Jérôme Bonaparte, dem jüngsten Bruder Napoleon Bonapartes, regierten Gebiet.

Dieser Herrschaftswechsel bedeutete für die seit 1808 nach Nordhausen gezogenen Juden die völlige Gleichstellung. Zwar büßten sie mit der Wiederinbesitznahme durch Preußen 1815 einen Teil ihrer Rechte wieder ein, bei der Niederlassungs-, Handels- und Gewerbefreiheit sowie den städtischen Bürgerrechten blieb es aber. Damit waren sie deutlich besser gestellt als die Juden in den anderen, nicht vormals westphälischen Landesteilen Preußens.

Anhand von Seelenlisten und Daten amtlicher Statistiken wird ersichtlich, dass sie Gemeinde zunächst durch Zuzug und dann durch Familiengründungen zügig anwuchs, sodass die Synagogengemeinde in Nordhausen zur größten im preußischen Regierungsbezirk Erfurt wurde. Trotz der Konfrontation mit manifestierten Ansichten der christlichen Umwelt erfuhren die Juden in Nordhausen einen sozialen Aufstieg. So etablierten sich im Laufe des Jahrhunderts rund ein Fünftel der jüdischen Geschäftsleute als Fabrikanten. Im Übrigen verblieben sie jedoch im Wesentlichen in den traditionell jüdischen Berufen, betrieben also Handel und Geldgeschäfte. Da der Handel in Nordhausen schon immer bedeutsam war und sich die Stadt wirtschaftlich sehr gut entwickelte, konnten sich die Juden hier wirtschaftlich gut einfinden.

Die Lockerung der religiösen Tradition war mit einer Assimilation an das christliche Umfeld verbunden. Weitere Hinweise wie z. B. der Kauf eines Harmonium zur Unterstützung des gegründeten Synagogenchors und die unbenannte Durchführung der Bar Mitzwa in Konfirmation lassen darauf schließen, dass es sich um eine Reformgemeinde handelte. Nicht nur die Gemeinde wies ein reformorientiertes, liberales und modernes Verhalten in der Glaubensausübung auf, sondern auch die Aktivitäten der einzelnen Mitglieder. So gab es überkonfessionelle Kontakte die zunächst vornehmlich auf wirtschaftlicher Zusammenarbeit beruhten und dann auch von caritativen Vereinsaktivitäten ergänzt wurden. Das überkonfessionelle Miteinander und Zusammenwachsen wurde bestärkt u. a. durch den wirtschaftlichen und sozialen Erfolg auf jüdischer Seite und durch die liberalen und demokratischen Strömungen in der Nordhäuser Gesellschaft um die 1840er und 1850er Jahre. Die zunehmend auch politisch aktiv werdenden Juden wie Jakob Plaut und Nathan Cohn schlossen sich dem Kampf der 1848/1849er Revolution um Freiheit und Gleichheit der breiten Bevölkerung an. Denn allein sie wussten einmal mehr, was es heißt, auf gleiche Rechte zu hoffen, die bis zur vollkommenen Gleichberechtigung der Konfessionen im Norddeutschen Bund 1869 noch territorial unterschiedlich geregelt waren oder gar den Juden versagt blieben. Die lang erkämpften und erhofften Errungenschaften der bürgerlichen und rechtlichen Gleichstellung, Entfaltung des jüdischen Lebens und das Miteinander nahm mit der nationalsozialistischen Machtergreifung ein jähes Ende. Die jüdische Minderheit erfuhr durch die antisemitischen Rassengesetze mehr als zuvor Diskriminierung und Ausgrenzung, bis hin zur systematischen Zerstörung.

Die mitgliederstarke Gemeinde nutzte für die Ausübung der Religiosität und als Gemeindetreffpunkte zunächst ein Betlokal in der Ritterstraße, später ein Badehaus am Hagen. In den 1820er Jahren kaufte sie Land auf dem Töpferfelde und nutzte es ab 1828 als Friedhof. Ihre Kinder wurden in der jüdischen Religion und Geschichte, in Hebräisch und in der Heiligen Schrift in der eigenen Religionsschule beschult. 1845 war der Höhepunkt des jüdischen Lebens durch die Einweihung der Synagoge am Pferdemarkt gekennzeichnet. „Das Gotteshaus steht allen offen, die darin beten wollen“, so sagte es der damalige Prediger der Gemeinde Abraham Jacob Cohn zur Einweihungsfeier im September 1845. Damit setzte er ein Zeichen, nämlich, dass die Gemeinde aufgeschlossen war und auch der Umwelt vertraute, ihr Gotteshaus für Gebete jedem öffnete. Ab 1887 folgte die Sanierung die Synagoge, da ein Bautechnisches Gutachten zum Ergebnis kam, dass die Synagoge besonders an den Wetterseiten, an denen die Wände den meisten Niederschlägen ausgesetzt waren, baufällig war. Der Gutachter gab Sanierungsvorschläge und empfahl u. a., die westliche Giebelwand, die nur noch durch die Mauerblende gehalten wurde, mit wetterfestem Ziegelmaterial komplett zu erneuern. Mit den Renovierungs- und Sanierungsarbeiten der Synagoge wurden auch gleich bauliche Veränderungen vorgenommen und die Gemeinde entschloss sich zur Errichtung eines Vorbaus mit Kuppeldach. Die Kostenvoranschläge beliefen sich für das Bauvorhaben und die Sanierung auf 12.000 bis 15.000 Mark, die mit vorheriger Genehmigung von der Regierung in Erfurt durch die Aufnahme eines Darlehens bezahlt wurden. Bereits ein Jahr später erfolgte im August 1888 die feierliche Einweihung, zu der auch viele christliche Gäste kamen.


Anlässlich des Gedenkens der jüdischen Opfer der Pogromnacht 1938 bietet die Stadtbibliothek in Nordhausen im Lesesaal allen Kultur- und Geschichtsinteressierten am 9. November 2016 um 17.30 Uhr den Vortrag an. Sie sind herzlich eingeladen, mit der Historikerin Marie-Luis Zahradnik, die bereits auch gut besuchte Führungen über den jüdischen Friedhof unternahm und in den Nordhäuser Nachrichten sowie in der „Gelben Reihe“ des Nordhäuser Geschichts- und Altertumsvereins themenbezogene Beiträge veröffentlichte, in die Geschichte des jüdischen Lebens in Nordhausen in seiner Blütezeit vor der nationalsozialistischen Machtergreifung einzutauchen. Denn um den Verlust der unwiderruflichen Zerstörung des jüdischen Lebens in der Stadt Nordhausen begreifen zu können, ist es wichtig zu erkennen, was und wieviel durch den nationalsozialistischen Terror verloren gegangen ist. In Ergänzung zum Vortrag werden auch vergangene und aktuelle Aktivitäten zur Gedenkkultur vorgestellt.

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