Freitag, 4. März 2022

 

Pressemitteilung
„Wir geben nicht auf“
Der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“

Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag 7. März 2022)
- bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung -

Der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, spricht sich für noch schärfere Sanktionen gegen Russland und weitere Waffenlieferungen der Bundesregierung an sein Land aus. „Wir brauchen eine Jahrhundert-Kraftanstrengung zusammen mit EU und Nato“, sagte der Diplomat im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag 7. März 2022). Bei den Strafmaßnahmen dürfe es keine Schlupflöcher geben, und auch die Bundeswehr könne „mehr leisten, als das, was uns bereits geliefert und zugesagt wurde“. Es gehe um das Überleben der Ukraine. 

Der Botschafter bezeichnete die Lage als „sehr schwierig“, aber „nicht aussichtslos“. Je länger der Krieg dauere, desto mehr Chancen habe die ukrainische Armee gegenüber der militärischen Übermacht Russlands. „Wir geben nicht auf, wir kämpfen weiter.“ In seinen Gesprächen mit der Bundesregierung stelle er allerdings „eine ungeheure Resignation“ fest. „Es scheint, man hat uns aufgegeben. Wenn wir gegen Putins Armee ohnehin nicht bestehen können, warum soll man uns dann noch mehr Waffen liefern? Das ist eine traurige und sehr zynische Sichtweise“, urteilte Melnyk.


Das Interview im Wortlaut:

 
Das Parlament: Herr Botschafter, gestatten Sie mir zu Beginn eine persönliche Frage? Wie geht es Ihnen und Ihren Angehörigen und Freunden in der Ukraine in diesen dramatischen Tagen? 

Andrij Melnyk: Wir arbeiten hier in Berlin nahezu 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, fast ohne Schlaf und ohne Essen. Bis zuletzt wollten wir alle nicht daran glauben, dass das schrecklichste der anzunehmenden Szenarien tatsächlich eintritt. In meinen schlimmsten Albträumen hätte ich mir dieses Inferno nicht vorstellen können, auch in Bezug auf das Schicksal meiner Familie. Militärische Objekte spielen eine zweitrangige Rolle in diesem Angriffskrieg. Putin will die Menschen verjagen und töten. Auf Todeslisten steht unser Präsident Wolodymyr Selenskyj ganz oben. 

Das Parlament: Wo ist Ihre Familie jetzt?
Andrij Melnyk: Nach wie vor in Kiew und Lwiw. Auch fast alle meine Freunde sind in Kiew geblieben. Sie sind bereit, unsere Hauptstadt zu verteidigen, für das Überleben unserer Heimat, unseres Staates zu kämpfen. Dazu gibt es auch keine Alternative. Wer glaubt, dass es jetzt besser wäre zu kapitulieren oder die Bedingungen von Wladimir Putin anzunehmen, verkennt, was dann auf die Menschen zukommt. 

Das Parlament: Der große Mut und der Kampfgeist der Zivilbevölkerung sorgen weltweit für Bewunderung. Kann der erbitterte Widerstand der Menschen einen Unterschied machen im Kampf gegen die militärische Übermacht Russland? 
Andrij Melnyk: Das eine unserer größten Hoffnungen. Wir haben gesehen, wie Menschen sich vor die russischen Panzer gestellt und dabei ihr Leben riskiert haben. Das ist eine starke Botschaft. Der Blitzkrieg, den Putin wollte, ist heute schon größtenteils gescheitert. Es haben sich außerdem mehr als 100.000 Freiwillige gemeldet, die jetzt die Armee unterstützen. Die ersten Waffenlieferungen aus dem Ausland kommen an. Die Lage bleibt sehr schwierig, aber sie ist nicht aussichtslos. Je länger der Krieg dauert, desto mehr Chancen haben wir. 

Das Parlament: Hätte diese Eskalation Ihrer Ansicht nach verhindert werden können? 
Andrij Melnyk: Uns war seit Jahren klar, dass Putin die Ukraine von der Karte löschen will. Daher war der Krieg vielleicht nicht zu verhindern. Aber der Westen hätte den Preis erhöhen können. Die Sanktionen, die er nach der Krim-Annexion 2014 und dem Beginn des Krieges in der Ostukraine gegen Russland verhängt hat, waren viel zu milde, um Putin von weiteren, schweren Völkerrechtverletzungen abzuhalten. Auch unsere Freunde in Deutschland haben übersehen, dass man diese Völkerrechtsbrüche nicht einerseits verurteilen und andererseits die Normalität in den Beziehungen zu Russland weitgehend aufrechterhalten kann. 

Das Parlament: Die Bundesregierung hat es zudem lange abgelehnt, Waffen an die Ukraine zu liefern. Sie haben ihr deshalb „Versagen“ und „Heuchelei“ vorgeworfen. Das sind für einen Botschafter ungewöhnlich scharfe Töne gegenüber der Regierung des Gastlandes.
Andrij Melnyk: Ganz bestimmt, aber ich war überzeugt, dass die Deutschen irgendwann einlenken würden. Unser Wunsch war und ist rechtlich legitim und moralisch geboten. Wir haben schon seit der Krim-Annexion darauf gedrängt, uns Defensivwaffen zur Verfügung zu stellen, um eine abschreckende Wirkung zu erzeugen. Es macht mich fassungslos, dass das so lange nicht geschehen ist. Uns wurde unterstellt, den Donbass oder die Krim zurückerobern zu wollen. Mir warf man Alarmismus vor und die Absicht, den Ruf Deutschlands als Friedensmacht beschädigen zu wollen. Die Folge dieser jahrelangen Verweigerungspolitik ist, dass unsere Städte jetzt nahezu ungeschützt den Angriffen der Russen ausgesetzt sind und viele Zivilisten sterben müssen. 

Das Parlament: Bundeskanzler Olaf Scholz hat am 27. Februar im Bundestag einen radikalen Kurswechsel verkündet. Die Bundesregierung unterstützt jetzt die harten Sanktionen gegen Russland und hat auch schon erste Waffen in die Ukraine geliefert. Trotzdem wirken Sie noch sehr wütend. Warum?
Andrij Melnyk: Deutschland hat seit der Maidan-Revolution in der Ukraine 2013/14 viel getan für die Stärkung der Zivilgesellschaft und unsere Wirtschaft. Das kann man nicht hoch genug bewerten. Aber was bedeutet die „Zeitenwende“ konkret für uns? Was unternimmt die Bundesregierung, um die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine zu stärken? Darüber herrscht nach wie vor keine Klarheit und es bleibt schwer, über diese Fragen im politischen Berlin zu sprechen. Wir haben der Bundesregierung vor fast einem Monat eine Auflistung geschickt, welche Waffen wir brauchen. Diese Liste aktualisieren wir gerade. Die Reaktionen darauf sind verhalten. Die Bundeswehr kann aber mehr leisten, als das, was uns bereits geliefert und zugesagt wurde. 

Das Parlament: Wie erklären Sie sich diese anhaltende Zurückhaltung?
Andrij Melnyk: Leider zeigen mir alle Gespräche, die ich hier in Berlin führe, dass eine ungeheure Resignation herrscht. Überall wird uns Solidarität zugesichert, die Anteilnahme ist groß. Aber es scheint, man hat uns aufgegeben. Wenn wir gegen Putins Armee ohnehin nicht bestehen können, warum soll man uns dann noch mehr Waffen liefern? Das ist eine traurige und sehr zynische Sichtweise. 

Das Parlament: Sie sind auch unzufrieden mit den Sanktionen gegen Russland. Welche Strafmaßnahmen fordern Sie noch?
Andrij Melnyk: Beim Ausschluss Russlands aus dem Zahlungssystem Swift werden die größten Institute wie die Sberbank oder Gazprom-Bank bisher verschont. Die Gründe können wir nicht nachvollziehen. Wenn der Westen endlich mit harten Bandagen reagiert, darf er keine Schlupflöcher zulassen! Alle Möglichkeiten müssen ausgeschöpft werden, alle Finanzströme, vor allem im Energiebereich, gestoppt werden. Wenn wir die Finanzierung der russischen Kriegsmaschinerie bremsen, gewinnen wir Zeit. Deshalb fordern wir auch einen Importstopp für russische Rohstoffe und wollen, dass deutsche Unternehmen ihre Geschäftsbeziehungen mit Russland zumindest einfrieren. Einige haben das schon getan, aber die einflussreichen Wirtschaftsverbände, mit denen ich Gespräche geführt habe, reagieren bisher sehr verhalten. 

Das Parlament: Ein Argument gegen noch härtere Sanktionen ist, dass die russische Zivilbevölkerung nicht über die Maße getroffen werden soll. Außerdem sollen im Falle einer weiteren Eskalation noch Druckmittel übrig bleiben. Warum sollte der Westen jetzt alle Trümpfe aus der Hand geben?
Andrij Melnyk: Es heißt immer, wir wollen die russische Bevölkerung nicht treffen. Wie aber soll sie ohne Meinungsfreiheit, ohne unabhängigen Medien, erfahren, dass etwas schief läuft? Dass in ihrer Nachbarschaft Städte platt gemacht werden? Das spüren die Menschen nur, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren oder kein Gehalt mehr abheben können. Wir müssen jetzt alle Mittel einsetzen, denn was soll noch Schlimmeres passieren? Hier wird mit zum Teil scheinheiligen Argumenten genau die Politik fortgesetzt, die zu diesem Inferno geführt hat. Da hilft die bloße Ankündigung einer Zeitenwende wenig. 

Das Parlament: Präsident Selenskyi hat in seiner Videoansprache vor dem Europäischen Parlament die Bitte wiederholt, sein Land schnell in die EU aufzunehmen. Was soll das in der aktuellen Situation bringen? Laut den Europäischen Verträgen dauern Beitrittsverhandlungen Jahre.
Andrij Melnyk: Es geht um ein Signal der Hoffnung und Zuversicht für die Menschen in unserem Land und für die Hunderttausenden, die fliehen mussten. Die EU kann so ein Zeichen setzen, dass sie die Ukraine nicht aufgibt, selbst wenn es Putin gelingen sollte, Teile des Landes zu erobern. Gerade jetzt ist es wichtig, den Kampf der Ukrainer für ihre Freiheit und die europäischen Werte zu unterstützen. 

Das Parlament: Sehen Sie nicht die Gefahr, dass eine Beitrittsdebatte zu diesem Zeitpunkt die Aufnahme von Friedensgesprächen zwischen beiden Seiten gefährden kann? 
Andrij Melnyk: Putin braucht keine Provokationen, um zu eskalieren. Er will diesen Krieg, die Vernichtung der Ukrainer, so oder so. Die EU ist für uns schon seit Jahren der wichtigste Handelspartner, wir sind eng verbunden. Der Beitritt steht in unserer Verfassung, ich selbst habe 2014 einen Masterplan mit auf den Weg gebracht, in dem es um die Angleichung der Rechtsvorschriften, um Justizreformen und vieles mehr geht. Wir wissen, dass wir nach den Kopenhagener Kriterien streng beurteilt werden. Aber wir haben unsere Hausaufgaben gemacht.

Das Parlament: Viele Menschen in Europa haben Angst, dass Putin seine Drohung einer nuklearen Eskalation wahr machen könnte und der Konflikt auf andere europäische Staaten oder gar die ganze Welt übergreift. Russland ist die größte Atommacht der Welt. Womit müssen wir noch rechnen?
Andrij Melnyk: Wir müssen alle Drohungen ernst nehmen. Putin ist in der Lage, sie umzusetzen. Mich wundert es daher, dass es praktisch keine  Vermittlungsversuche seitens des Westens mehr gibt. Eine Ausnahme ist Frankreichs Präsident Macron, der bisher aber keinen Erfolg hatte. Doch das darf nicht dazu führen, in den Bemühungen nachzulassen. Wir Ukrainer haben keinen Draht zu Putin, aber Deutsche wie Schröder und andere schon. Wo sind die jetzt?

Das Parlament: Sie meinen unseren Ex-Kanzler Gerd Schröder, der jetzt Aufsichtsratschef mehrerer russischer Staatskonzerne und bekennender Putin-Freund ist.
Andrij Melnyk: Ja, Schröder und all die anderen, die immer gesagt haben, wie wichtig ein enges, vertrauensvollen Verhältnis zu Russland ist. Was hat denn diese Russlandpolitik, was hat „Wandel durch Handel“ gebracht, wenn nun eine solche Sprachlosigkeit herrscht? Wo sind all die Leute, die sich wegen ihrer guten Beziehungen zu Russland und zu Putin selbst gerühmt haben? Die sind plötzlich sehr still geworden. 

Das Parlament: Wie könnte denn aus Ihrer Sicht eine Verhandlungslösung zur Beilegung des Konflikts aussehen? Sehen Sie einen Weg, der aus diesem Krieg herausführen kann? 
Andrij Melnyk: Zuallererst muss es eine Waffenpause geben. Die Toten müssen geborgen und die Verletzten versorgt werden, wir brauchen einen Gefangenenaustausch. Während wir reden, werden weiter Städte bombardiert und Zivilisten getötet. Da fällt es mir wirklich schwer, darüber nachzudenken, was Putin abhalten könnte. 

Das Parlament: Putin verlangt unter anderem eine „Entnazifizierung“. Immer wieder behauptet er, dass in der ukrainischen Regierung Nazis sitzen, die das Volk unterdrücken und den russischen Teil der Bevölkerung ermorden.
Andrij Melnyk: Tja, wie sollen wir damit umgehen? Ich weiß nicht, was er damit meint. Wir haben eine große jüdische Gemeinde, unser Präsident ist jüdisch und spricht zu Hause Russisch. Putin stellt unerfüllbare Forderungen, die lediglich einen Vorwand für diesen Krieg liefern sollen und nichts mit der Realität zu tun haben. Mir scheint, deshalb weiß auch niemand so recht, was jetzt zu tun ist. Deshalb gibt es auch keine neuen Vermittlungsinitiativen. Wir haben die Bundesregierung gefragt, ob sie vorhat, einen neuen Versuch als Vermittler im Normandie-Format zu starten. Die Antwort war: Nein. Die Ratlosigkeit ist groß.

Das Parlament: Auf welche Szenarien stellt sich die Regierung in Kiew nun in den kommenden Wochen und Monaten ein? 
Andrij Melnyk: Putin wird nicht nachlassen in seinem Bestreben, die gesamte Ukraine kurzfristig zu besetzen oder zumindest zu zerstören. Das ist ein sehr wahrscheinliches Szenario, wenn wir nicht endlich mehr Hilfe bekommen. Wir brauchen eine Jahrhundert-Kraftanstrengung zusammen mit EU und Nato. Dabei schätzen wir die große Hilfsbereitschaft in Deutschland und Polen gegenüber den Flüchtenden sehr. Aber genauso wichtig ist es, der überwiegenden Mehrheit der Menschen, die in der Ukraine bleiben, eine Lebenschance zu geben. Nur wenige halten es für möglich, dass wir gegen das übermächtige Militär von Putin bestehen. Aber wir geben nicht auf, wir kämpfen weiter.

Das Gespräch führte Johanna Metz.
 


Deutscher Bundestag

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen