Pressemitteilung
„Wir geben nicht auf“
Der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“
Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag 7. März 2022)
- bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung -
Der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, spricht sich für noch schärfere Sanktionen gegen Russland und weitere Waffenlieferungen der Bundesregierung an sein Land aus. „Wir brauchen eine Jahrhundert-Kraftanstrengung zusammen mit EU und Nato“, sagte der Diplomat im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag 7. März 2022). Bei den Strafmaßnahmen dürfe es keine Schlupflöcher geben, und auch die Bundeswehr könne „mehr leisten, als das, was uns bereits geliefert und zugesagt wurde“. Es gehe um das Überleben der Ukraine.
Der Botschafter bezeichnete die Lage als „sehr schwierig“, aber „nicht aussichtslos“. Je länger der Krieg dauere, desto mehr Chancen habe die ukrainische Armee gegenüber der militärischen Übermacht Russlands. „Wir geben nicht auf, wir kämpfen weiter.“ In seinen Gesprächen mit der Bundesregierung stelle er allerdings „eine ungeheure Resignation“ fest. „Es scheint, man hat uns aufgegeben. Wenn wir gegen Putins Armee ohnehin nicht bestehen können, warum soll man uns dann noch mehr Waffen liefern? Das ist eine traurige und sehr zynische Sichtweise“, urteilte Melnyk.
Das Interview im Wortlaut:
Das
Parlament: Herr Botschafter, gestatten Sie mir zu Beginn eine
persönliche Frage? Wie geht es Ihnen und Ihren Angehörigen und Freunden
in der Ukraine in diesen dramatischen Tagen?
Andrij Melnyk:
Wir arbeiten hier in Berlin nahezu 24 Stunden am Tag, sieben Tage die
Woche, fast ohne Schlaf und ohne Essen. Bis zuletzt wollten wir alle
nicht daran glauben, dass das schrecklichste der anzunehmenden Szenarien
tatsächlich eintritt. In meinen schlimmsten Albträumen hätte ich mir
dieses Inferno nicht vorstellen können, auch in Bezug auf das Schicksal
meiner Familie. Militärische Objekte spielen eine zweitrangige Rolle in
diesem Angriffskrieg. Putin will die Menschen verjagen und töten. Auf
Todeslisten steht unser Präsident Wolodymyr Selenskyj ganz oben.
Das Parlament: Wo ist Ihre Familie jetzt?
Andrij
Melnyk: Nach wie vor in Kiew und Lwiw. Auch fast alle meine Freunde
sind in Kiew geblieben. Sie sind bereit, unsere Hauptstadt zu
verteidigen, für das Überleben unserer Heimat, unseres Staates zu
kämpfen. Dazu gibt es auch keine Alternative. Wer glaubt, dass es jetzt
besser wäre zu kapitulieren oder die Bedingungen von Wladimir Putin
anzunehmen, verkennt, was dann auf die Menschen zukommt.
Das
Parlament: Der große Mut und der Kampfgeist der Zivilbevölkerung sorgen
weltweit für Bewunderung. Kann der erbitterte Widerstand der Menschen
einen Unterschied machen im Kampf gegen die militärische Übermacht
Russland?
Andrij Melnyk: Das eine unserer größten
Hoffnungen. Wir haben gesehen, wie Menschen sich vor die russischen
Panzer gestellt und dabei ihr Leben riskiert haben. Das ist eine starke
Botschaft. Der Blitzkrieg, den Putin wollte, ist heute schon
größtenteils gescheitert. Es haben sich außerdem mehr als 100.000
Freiwillige gemeldet, die jetzt die Armee unterstützen. Die ersten
Waffenlieferungen aus dem Ausland kommen an. Die Lage bleibt sehr
schwierig, aber sie ist nicht aussichtslos. Je länger der Krieg dauert,
desto mehr Chancen haben wir.
Das Parlament: Hätte diese Eskalation Ihrer Ansicht nach verhindert werden können?
Andrij
Melnyk: Uns war seit Jahren klar, dass Putin die Ukraine von der Karte
löschen will. Daher war der Krieg vielleicht nicht zu verhindern. Aber
der Westen hätte den Preis erhöhen können. Die Sanktionen, die er nach
der Krim-Annexion 2014 und dem Beginn des Krieges in der Ostukraine
gegen Russland verhängt hat, waren viel zu milde, um Putin von weiteren,
schweren Völkerrechtverletzungen abzuhalten. Auch unsere Freunde in
Deutschland haben übersehen, dass man diese Völkerrechtsbrüche nicht
einerseits verurteilen und andererseits die Normalität in den
Beziehungen zu Russland weitgehend aufrechterhalten kann.
Das
Parlament: Die Bundesregierung hat es zudem lange abgelehnt, Waffen an
die Ukraine zu liefern. Sie haben ihr deshalb „Versagen“ und „Heuchelei“
vorgeworfen. Das sind für einen Botschafter ungewöhnlich scharfe Töne
gegenüber der Regierung des Gastlandes.
Andrij Melnyk: Ganz
bestimmt, aber ich war überzeugt, dass die Deutschen irgendwann
einlenken würden. Unser Wunsch war und ist rechtlich legitim und
moralisch geboten. Wir haben schon seit der Krim-Annexion darauf
gedrängt, uns Defensivwaffen zur Verfügung zu stellen, um eine
abschreckende Wirkung zu erzeugen. Es macht mich fassungslos, dass das
so lange nicht geschehen ist. Uns wurde unterstellt, den Donbass oder
die Krim zurückerobern zu wollen. Mir warf man Alarmismus vor und die
Absicht, den Ruf Deutschlands als Friedensmacht beschädigen zu wollen.
Die Folge dieser jahrelangen Verweigerungspolitik ist, dass unsere
Städte jetzt nahezu ungeschützt den Angriffen der Russen ausgesetzt sind
und viele Zivilisten sterben müssen.
Das Parlament:
Bundeskanzler Olaf Scholz hat am 27. Februar im Bundestag einen
radikalen Kurswechsel verkündet. Die Bundesregierung unterstützt jetzt
die harten Sanktionen gegen Russland und hat auch schon erste Waffen in
die Ukraine geliefert. Trotzdem wirken Sie noch sehr wütend. Warum?
Andrij
Melnyk: Deutschland hat seit der Maidan-Revolution in der Ukraine
2013/14 viel getan für die Stärkung der Zivilgesellschaft und unsere
Wirtschaft. Das kann man nicht hoch genug bewerten. Aber was bedeutet
die „Zeitenwende“ konkret für uns? Was unternimmt die Bundesregierung,
um die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine zu stärken? Darüber herrscht
nach wie vor keine Klarheit und es bleibt schwer, über diese Fragen im
politischen Berlin zu sprechen. Wir haben der Bundesregierung vor fast
einem Monat eine Auflistung geschickt, welche Waffen wir brauchen. Diese
Liste aktualisieren wir gerade. Die Reaktionen darauf sind verhalten.
Die Bundeswehr kann aber mehr leisten, als das, was uns bereits
geliefert und zugesagt wurde.
Das Parlament: Wie erklären Sie sich diese anhaltende Zurückhaltung?
Andrij
Melnyk: Leider zeigen mir alle Gespräche, die ich hier in Berlin führe,
dass eine ungeheure Resignation herrscht. Überall wird uns Solidarität
zugesichert, die Anteilnahme ist groß. Aber es scheint, man hat uns
aufgegeben. Wenn wir gegen Putins Armee ohnehin nicht bestehen können,
warum soll man uns dann noch mehr Waffen liefern? Das ist eine traurige
und sehr zynische Sichtweise.
Das Parlament: Sie sind auch unzufrieden mit den Sanktionen gegen Russland. Welche Strafmaßnahmen fordern Sie noch?
Andrij
Melnyk: Beim Ausschluss Russlands aus dem Zahlungssystem Swift werden
die größten Institute wie die Sberbank oder Gazprom-Bank bisher
verschont. Die Gründe können wir nicht nachvollziehen. Wenn der Westen
endlich mit harten Bandagen reagiert, darf er keine Schlupflöcher
zulassen! Alle Möglichkeiten müssen ausgeschöpft werden, alle
Finanzströme, vor allem im Energiebereich, gestoppt werden. Wenn wir die
Finanzierung der russischen Kriegsmaschinerie bremsen, gewinnen wir
Zeit. Deshalb fordern wir auch einen Importstopp für russische Rohstoffe
und wollen, dass deutsche Unternehmen ihre Geschäftsbeziehungen mit
Russland zumindest einfrieren. Einige haben das schon getan, aber die
einflussreichen Wirtschaftsverbände, mit denen ich Gespräche geführt
habe, reagieren bisher sehr verhalten.
Das Parlament: Ein
Argument gegen noch härtere Sanktionen ist, dass die russische
Zivilbevölkerung nicht über die Maße getroffen werden soll. Außerdem
sollen im Falle einer weiteren Eskalation noch Druckmittel übrig
bleiben. Warum sollte der Westen jetzt alle Trümpfe aus der Hand geben?
Andrij
Melnyk: Es heißt immer, wir wollen die russische Bevölkerung nicht
treffen. Wie aber soll sie ohne Meinungsfreiheit, ohne unabhängigen
Medien, erfahren, dass etwas schief läuft? Dass in ihrer Nachbarschaft
Städte platt gemacht werden? Das spüren die Menschen nur, wenn sie ihren
Arbeitsplatz verlieren oder kein Gehalt mehr abheben können. Wir müssen
jetzt alle Mittel einsetzen, denn was soll noch Schlimmeres passieren?
Hier wird mit zum Teil scheinheiligen Argumenten genau die Politik
fortgesetzt, die zu diesem Inferno geführt hat. Da hilft die bloße
Ankündigung einer Zeitenwende wenig.
Das Parlament:
Präsident Selenskyi hat in seiner Videoansprache vor dem Europäischen
Parlament die Bitte wiederholt, sein Land schnell in die EU aufzunehmen.
Was soll das in der aktuellen Situation bringen? Laut den Europäischen
Verträgen dauern Beitrittsverhandlungen Jahre.
Andrij
Melnyk: Es geht um ein Signal der Hoffnung und Zuversicht für die
Menschen in unserem Land und für die Hunderttausenden, die fliehen
mussten. Die EU kann so ein Zeichen setzen, dass sie die Ukraine nicht
aufgibt, selbst wenn es Putin gelingen sollte, Teile des Landes zu
erobern. Gerade jetzt ist es wichtig, den Kampf der Ukrainer für ihre
Freiheit und die europäischen Werte zu unterstützen.
Das
Parlament: Sehen Sie nicht die Gefahr, dass eine Beitrittsdebatte zu
diesem Zeitpunkt die Aufnahme von Friedensgesprächen zwischen beiden
Seiten gefährden kann?
Andrij Melnyk: Putin braucht keine
Provokationen, um zu eskalieren. Er will diesen Krieg, die Vernichtung
der Ukrainer, so oder so. Die EU ist für uns schon seit Jahren der
wichtigste Handelspartner, wir sind eng verbunden. Der Beitritt steht in
unserer Verfassung, ich selbst habe 2014 einen Masterplan mit auf den
Weg gebracht, in dem es um die Angleichung der Rechtsvorschriften, um
Justizreformen und vieles mehr geht. Wir wissen, dass wir nach den
Kopenhagener Kriterien streng beurteilt werden. Aber wir haben unsere
Hausaufgaben gemacht.
Das Parlament: Viele Menschen in
Europa haben Angst, dass Putin seine Drohung einer nuklearen Eskalation
wahr machen könnte und der Konflikt auf andere europäische Staaten oder
gar die ganze Welt übergreift. Russland ist die größte Atommacht der
Welt. Womit müssen wir noch rechnen?
Andrij Melnyk: Wir
müssen alle Drohungen ernst nehmen. Putin ist in der Lage, sie
umzusetzen. Mich wundert es daher, dass es praktisch keine
Vermittlungsversuche seitens des Westens mehr gibt. Eine Ausnahme ist
Frankreichs Präsident Macron, der bisher aber keinen Erfolg hatte. Doch
das darf nicht dazu führen, in den Bemühungen nachzulassen. Wir Ukrainer
haben keinen Draht zu Putin, aber Deutsche wie Schröder und andere
schon. Wo sind die jetzt?
Das Parlament: Sie meinen
unseren Ex-Kanzler Gerd Schröder, der jetzt Aufsichtsratschef mehrerer
russischer Staatskonzerne und bekennender Putin-Freund ist.
Andrij
Melnyk: Ja, Schröder und all die anderen, die immer gesagt haben, wie
wichtig ein enges, vertrauensvollen Verhältnis zu Russland ist. Was hat
denn diese Russlandpolitik, was hat „Wandel durch Handel“ gebracht, wenn
nun eine solche Sprachlosigkeit herrscht? Wo sind all die Leute, die
sich wegen ihrer guten Beziehungen zu Russland und zu Putin selbst
gerühmt haben? Die sind plötzlich sehr still geworden.
Das
Parlament: Wie könnte denn aus Ihrer Sicht eine Verhandlungslösung zur
Beilegung des Konflikts aussehen? Sehen Sie einen Weg, der aus diesem
Krieg herausführen kann?
Andrij Melnyk: Zuallererst muss es
eine Waffenpause geben. Die Toten müssen geborgen und die Verletzten
versorgt werden, wir brauchen einen Gefangenenaustausch. Während wir
reden, werden weiter Städte bombardiert und Zivilisten getötet. Da fällt
es mir wirklich schwer, darüber nachzudenken, was Putin abhalten
könnte.
Das Parlament: Putin verlangt unter anderem eine
„Entnazifizierung“. Immer wieder behauptet er, dass in der ukrainischen
Regierung Nazis sitzen, die das Volk unterdrücken und den russischen
Teil der Bevölkerung ermorden.
Andrij Melnyk: Tja, wie
sollen wir damit umgehen? Ich weiß nicht, was er damit meint. Wir haben
eine große jüdische Gemeinde, unser Präsident ist jüdisch und spricht zu
Hause Russisch. Putin stellt unerfüllbare Forderungen, die lediglich
einen Vorwand für diesen Krieg liefern sollen und nichts mit der
Realität zu tun haben. Mir scheint, deshalb weiß auch niemand so recht,
was jetzt zu tun ist. Deshalb gibt es auch keine neuen
Vermittlungsinitiativen. Wir haben die Bundesregierung gefragt, ob sie
vorhat, einen neuen Versuch als Vermittler im Normandie-Format zu
starten. Die Antwort war: Nein. Die Ratlosigkeit ist groß.
Das Parlament: Auf welche Szenarien stellt sich die Regierung in Kiew nun in den kommenden Wochen und Monaten ein?
Andrij
Melnyk: Putin wird nicht nachlassen in seinem Bestreben, die gesamte
Ukraine kurzfristig zu besetzen oder zumindest zu zerstören. Das ist ein
sehr wahrscheinliches Szenario, wenn wir nicht endlich mehr Hilfe
bekommen. Wir brauchen eine Jahrhundert-Kraftanstrengung zusammen mit EU
und Nato. Dabei schätzen wir die große Hilfsbereitschaft in Deutschland
und Polen gegenüber den Flüchtenden sehr. Aber genauso wichtig ist es,
der überwiegenden Mehrheit der Menschen, die in der Ukraine bleiben,
eine Lebenschance zu geben. Nur wenige halten es für möglich, dass wir
gegen das übermächtige Militär von Putin bestehen. Aber wir geben nicht
auf, wir kämpfen weiter.
Das Gespräch führte Johanna Metz.
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