Pressemitteilung
Der Behindertenbeauftragte Jürgen Dusel fordert den konsequenten Abbau von Alltagsbarrieren
Vorabmeldung zu einem Interview in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 12. Juli 2021)
-bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung-
Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, fordert einen konsequenten Abbau von Alltagsbarrieren. Barrierefreiheit sei der Schlüssel zur Teilhabe und ein Qualitätsstandard für ein modernes Land, sagte Dusel der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Montagausgabe). Im öffentlichen Bereich habe sich das Angebot zwar verbessert. Im privaten Sektor hinke Deutschland gegenüber anderen europäischen Ländern jedoch hinterher.
Dusel forderte auch eine durchgängige Barrierefreiheit im Internet. Sämtliche Internetseiten und Apps müssten von Anfang an barrierefrei sein. Sonst würden Menschen mit Behinderungen abgehängt. „Menschen mit Sehbeeinträchtigungen brauchen eine Vorlesefunktion, Menschen mit Hörbeeinträchtigungen brauchen bei Videoformaten Untertitelung und Gebärdensprachdolmetschung, und Menschen mit Lernschwierigkeiten benötigen Texte in leichter Sprache“, sagte Dusel der Zeitung.
Das Interview im Wortlaut:
Herr Dusel, wie mühsam lebt es sich als Mensch mit Behinderung in Deutschland?
Das
lässt sich nicht verallgemeinern. In Deutschland leben rund 13
Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen, darunter 8,5 Millionen
Schwerbehinderte. Aber nur 900.000 Menschen mit Behinderung bekommen
Leistungen nach dem Bundesteilhaberecht. Die Gruppe der Betroffenen ist
sehr heterogen. Nur rund drei Prozent werden mit Behinderungen geboren,
der Rest erwirbt die Behinderung im Laufe des Lebens. Deswegen sind die
Lebenslagen sehr unterschiedlich.
Wenn Sie die Wahl hätten, was würden Sie sofort ändern?
Ich
würde dafür sorgen, dass die Barrierefreiheit nicht nur im öffentlichen
Sektor umgesetzt wird, sondern auch private Anbieter von Produkten und
Dienstleistungen, die für die Allgemeinheit bestimmt sind, dazu
verpflichten. Barrierefreiheit ist der Schlüssel zur Teilhabe, das hat
eine tiefe soziale Dimension und ist ein Qualitätsstandard für ein
modernes Land.
Haben Sie ein praktisches Beispiel für Alltagsbarrieren?
Machen
Sie mal die Augen zu und versuchen Sie, an einem Bankautomaten an Geld
zu kommen. Dann können Sie sich vorstellen, wie es Menschen mit
Sehbeeinträchtigungen geht. Die Menüführung ist nicht einheitlich,
manchmal gibt es einen Touchscreen, da können Sie nichts erfühlen. Ich
kann ohne Hilfe kein Geld holen, das ist frustrierend. Im öffentlichen
Bereich hat sich das Angebot verbessert. Blinde können in Rathäusern
Bescheide in Brailleschrift bekommen, Hörbehinderte können bei
Verwaltungsverfahren in Gebärdensprache kommunizieren. Aber im privaten
Sektor hinken wir gegenüber anderen europäischen Ländern hinterher, von
den USA ganz zu schweigen. In Deutschland ist die Angst groß, private
Anbieter zu Auflagen zu verpflichten.
Sie fordern Barrierefreiheit auch in der digitalen Welt. Was heißt das?
Sämtliche
Internetseiten und Apps müssen von Anfang an barrierefrei sein. Sonst
werden Menschen mit Behinderungen abgehängt. Menschen mit
Sehbeeinträchtigungen brauchen eine Vorlesefunktion, Menschen mit
Hörbeeinträchtigungen brauchen bei Videoformaten Untertitelung und
Gebärdensprachdolmetschung, und Menschen mit Lernschwierigkeiten
benötigen Texte in leichter Sprache. Geld- und Ticketautomaten könnten
digitalisiert werden mit Schnittstellen zum Smartphone mit
Vorlesefunktion. In anderen Ländern ist das bereits gang und gäbe. In
Deutschland brauchten wir erst eine europäische Richtlinie, um die
Barrierefreiheit für private Produkte in nationales Recht verpflichtend
umzusetzen.
Die Erwartungen an das Bundesteilhabegesetz sind groß. Ist die Reform gelungen?
Das
Gesetz ist ein wichtiger Schritt, es muss aber klar sein, dass Menschen
mit Behinderungen in allen Lebensbereichen berücksichtigt werden, das
ist eine Querschnittsaufgabe. Es geht nicht nur um Sozialpolitik,
sondern auch um Themen wie Gesundheit, Bildung, Sicherheit, Bauen oder
Finanzen. Ein Beispiel: Nach 45 Jahren ist in dieser Legislaturperiode
der Pauschbetrag im Einkommensteuerrecht verdoppelt worden. Menschen mit
Behinderung können ihre Mehrbelastungen nun steuerlich besser geltend
machen, das ist ein großer Erfolg.
Hilfen für behinderte
Menschen werden bisweilen von Behörden verweigert. Ist die
Gesundheitsbürokratie zu weit weg von der Lebenswirklichkeit?
Ja,
ich habe den Eindruck, dass die zuständigen Stellen häufig eher ihre
Unzuständigkeit prüfen und die Leute von einer Stelle zur nächsten
schicken. Bei Kindern ist es besonders schwierig, weil für sie
unterschiedliche Kosten- und Leistungsträger gelten. Ich kann die
Frustration bei Eltern verstehen, wenn der Anspruch eigentlich klar ist,
aber das Recht bei den Menschen nicht ankommt.
Verbände beklagen, dass Mehrfachbehinderungen in der Versorgung nicht gut abgebildet werden. Stimmt das?
In
diesen Fällen sind die Bedarfe viel weitgehender. Das betrifft
beispielsweise Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen, die ins
Krankenhaus müssen. Im Alltag können diese Menschen auf Assistenten
zurückgreifen, im Krankenhaus war bisher nicht geklärt, wer die Kosten
dafür übernimmt. Das ist unwürdig. Ich bin froh, dass der Bundestag auf
den letzten Drücker nun eine Kostenregelung beschlossen hat.
In
der Coronakrise wird viel über den Schutz vulnerabler Gruppen geredet,
aber selten explizit über Menschen mit Behinderung. Wie sehen Sie das?
Am
Anfang hatte ich den Eindruck auch. Wir hatten zunächst kaum
behindertengerechte Informationen, es gab zu wenig Gebärdendolmetschung.
Auch Informationen in leichter Sprache waren nicht ausreichend
verfügbar. Das ist besser geworden. Auch bin ich froh, dass es gelungen
ist, Menschen mit Behinderungen nach anfänglichen Startschwierigkeiten
bei der Impfpriorisierung zu berücksichtigen.
Wie ausgeprägt ist denn das Wissen über Behinderungen in der Gesellschaft?
Das
hängt davon ab, ob es Kontakte gibt zu Menschen mit Behinderung, viele
Bürger haben solche Kontakte nicht und wissen auch relativ wenig. So
entstehen Vorurteile, dann werden Menschen mit Behinderung eher als
defizitäre Wesen wahrgenommen. Deswegen ist es so wichtig, dass Kinder
mit und ohne Behinderung gemeinsam groß werden und gemeinsam zur Schule
gehen. Das ist vor allem wichtig für Kinder ohne Behinderung. Die
lernen, dass es Kinder gibt, die im Rollstuhl sitzen, aber in Mathematik
gut sind. Das strahlt am Ende in die Gesellschaft aus und hat positive
Folgen auch für den Arbeitsmarkt. Manche Arbeitgeber können sich ja gar
nicht vorstellen, dass Menschen mit Einschränkungen einen guten Job
machen. Wer in der Schule behinderte Mitschüler hatte und später
Personalverantwortung trägt, entscheidet sich eher für Menschen mit
Behinderung, weil es keine Berührungsängste gibt.
Kürzlich ist wieder ein Fall von Gewalt gegen Behinderte bekannt geworden. Wie verbreitet ist das Problem?
Das
ist leider sehr verbreitet. Studien zufolge werden insbesondere Frauen
mit Behinderung häufig Opfer sexualisierter Gewalt. Hier sind bessere
Schutzkonzepte nötig. Gewalt beginnt aber nicht erst bei tätlichen
Angriffen. Wichtig ist der Gewaltschutz in Einrichtungen. Wir brauchen
konkrete Maßgaben, um institutionelle Abhängigkeiten und strukturelle
Gewalt in Einrichtungen zu verhindern. Durch das Teilhabestärkungsgesetz
wurde der Gewaltschutz in Einrichtungen erstmals gesetzlich verankert.
Für nachhaltige Vorkehrungen ist es unabdingbar, dass Menschen mit
Behinderungen, die in Einrichtungen leben, an der Erarbeitung der
Konzepte beteiligt werden.
Herr Dusel, Sie sind von Geburt an sehbehindert und haben Karriere gemacht, was hat Ihnen geholfen?
Die
Regelschule war ein Segen für mich, weil ich mit anderen Kindern etwas
unternehmen konnte. Als Zwölfjähriger war ich Pfadfinder. Das klingt
skurril, wenn man schlecht sieht und Pfade finden soll. Aber darum ging
es nicht. Ich war als Nachtwache gut, weil ich viel besser hören konnte
als die anderen. Die gemeinsamen Erfahrungen in der Schule haben
letztlich geholfen, dass ich später durch das Studium gekommen bin und
in das Berufsleben. Ich kann mir ein demokratisches Land nicht gut
vorstellen, das nicht inklusiv denkt und handelt. Behinderte haben die
gleichen Rechte wie andere. Es ist Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen,
dass diese Rechte bei den Bürgern auch ankommen. Es ist eine Frage der
Demokratie, ob Menschen in ihrer Vielfalt willkommen sind.
Das Gespräch führte Claus Peter Kosfeld
Jürgen Dusel (56) ist seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.
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