Freitag, 9. Juli 2021

 


Pressemitteilung
Der Behindertenbeauftragte Jürgen Dusel fordert den konsequenten Abbau von Alltagsbarrieren

Vorabmeldung zu einem Interview in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 12. Juli 2021)
-bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung-

Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, fordert einen konsequenten Abbau von Alltagsbarrieren. Barrierefreiheit sei der Schlüssel zur Teilhabe und ein Qualitätsstandard für ein modernes Land, sagte Dusel der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Montagausgabe). Im öffentlichen Bereich habe sich das Angebot zwar verbessert. Im privaten Sektor hinke Deutschland gegenüber anderen europäischen Ländern jedoch hinterher.

Dusel forderte auch eine durchgängige Barrierefreiheit im Internet. Sämtliche Internetseiten und Apps müssten von Anfang an barrierefrei sein. Sonst würden Menschen mit Behinderungen abgehängt. „Menschen mit Sehbeeinträchtigungen brauchen eine Vorlesefunktion, Menschen mit Hörbeeinträchtigungen brauchen bei Videoformaten Untertitelung und Gebärdensprachdolmetschung, und Menschen mit Lernschwierigkeiten benötigen Texte in leichter Sprache“, sagte Dusel der Zeitung.

Das Interview im Wortlaut:

Herr Dusel, wie mühsam lebt es sich als Mensch mit Behinderung in Deutschland?
Das lässt sich nicht verallgemeinern. In Deutschland leben rund 13 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen, darunter 8,5 Millionen Schwerbehinderte. Aber nur 900.000 Menschen mit Behinderung bekommen Leistungen nach dem Bundesteilhaberecht. Die Gruppe der Betroffenen ist sehr heterogen. Nur rund drei Prozent werden mit Behinderungen geboren, der Rest erwirbt die Behinderung im Laufe des Lebens. Deswegen sind die Lebenslagen sehr unterschiedlich.

Wenn Sie die Wahl hätten, was würden Sie sofort ändern?
Ich würde dafür sorgen, dass die Barrierefreiheit nicht nur im öffentlichen Sektor umgesetzt wird, sondern auch private Anbieter von Produkten und Dienstleistungen, die für die Allgemeinheit bestimmt sind, dazu verpflichten. Barrierefreiheit ist der Schlüssel zur Teilhabe, das hat eine tiefe soziale Dimension und ist ein Qualitätsstandard für ein modernes Land.

Haben Sie ein praktisches Beispiel für Alltagsbarrieren?
Machen Sie mal die Augen zu und versuchen Sie, an einem Bankautomaten an Geld zu kommen. Dann können Sie sich vorstellen, wie es Menschen mit Sehbeeinträchtigungen geht. Die Menüführung ist nicht einheitlich, manchmal gibt es einen Touchscreen, da können Sie nichts erfühlen. Ich kann ohne Hilfe kein Geld holen, das ist frustrierend. Im öffentlichen Bereich hat sich das Angebot verbessert. Blinde können in Rathäusern Bescheide in Brailleschrift bekommen, Hörbehinderte können bei Verwaltungsverfahren in Gebärdensprache kommunizieren. Aber im privaten Sektor hinken wir gegenüber anderen europäischen Ländern hinterher, von den USA ganz zu schweigen. In Deutschland ist die Angst groß, private Anbieter zu Auflagen zu verpflichten.

Sie fordern Barrierefreiheit auch in der digitalen Welt. Was heißt das?
Sämtliche Internetseiten und Apps müssen von Anfang an barrierefrei sein. Sonst werden Menschen mit Behinderungen abgehängt. Menschen mit Sehbeeinträchtigungen brauchen eine Vorlesefunktion, Menschen mit Hörbeeinträchtigungen brauchen bei Videoformaten Untertitelung und Gebärdensprachdolmetschung, und Menschen mit Lernschwierigkeiten benötigen Texte in leichter Sprache. Geld- und Ticketautomaten könnten digitalisiert werden mit Schnittstellen zum Smartphone mit Vorlesefunktion. In anderen Ländern ist das bereits gang und gäbe. In Deutschland brauchten wir erst eine europäische Richtlinie, um die Barrierefreiheit für private Produkte in nationales Recht verpflichtend umzusetzen.

Die Erwartungen an das Bundesteilhabegesetz sind groß. Ist die Reform gelungen?
Das Gesetz ist ein wichtiger Schritt, es muss aber klar sein, dass Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen berücksichtigt werden, das ist eine Querschnittsaufgabe. Es geht nicht nur um Sozialpolitik, sondern auch um Themen wie Gesundheit, Bildung, Sicherheit, Bauen oder Finanzen. Ein Beispiel: Nach 45 Jahren ist in dieser Legislaturperiode der Pauschbetrag im Einkommensteuerrecht verdoppelt worden. Menschen mit Behinderung können ihre Mehrbelastungen nun steuerlich besser geltend machen, das ist ein großer Erfolg.

Hilfen für behinderte Menschen werden bisweilen von Behörden verweigert. Ist die Gesundheitsbürokratie zu weit weg von der Lebenswirklichkeit?
Ja, ich habe den Eindruck, dass die zuständigen Stellen häufig eher ihre Unzuständigkeit prüfen und die Leute von einer Stelle zur nächsten schicken. Bei Kindern ist es besonders schwierig, weil für sie unterschiedliche Kosten- und Leistungsträger gelten. Ich kann die Frustration bei Eltern verstehen, wenn der Anspruch eigentlich klar ist, aber das Recht bei den Menschen nicht ankommt.

Verbände beklagen, dass Mehrfachbehinderungen in der Versorgung nicht gut abgebildet werden. Stimmt das?
In diesen Fällen sind die Bedarfe viel weitgehender. Das betrifft beispielsweise Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen, die ins Krankenhaus müssen. Im Alltag können diese Menschen auf Assistenten zurückgreifen, im Krankenhaus war bisher nicht geklärt, wer die Kosten dafür übernimmt. Das ist unwürdig. Ich bin froh, dass der Bundestag  auf den letzten Drücker nun eine Kostenregelung beschlossen hat.

In der Coronakrise wird viel über den Schutz vulnerabler Gruppen geredet, aber selten explizit über Menschen mit Behinderung. Wie sehen Sie das?
Am Anfang hatte ich den Eindruck auch. Wir hatten zunächst kaum behindertengerechte Informationen, es gab zu wenig Gebärdendolmetschung. Auch Informationen in leichter Sprache waren nicht ausreichend verfügbar. Das ist besser geworden. Auch bin ich froh, dass es gelungen ist, Menschen mit Behinderungen nach anfänglichen Startschwierigkeiten bei der Impfpriorisierung zu berücksichtigen.

Wie ausgeprägt ist denn das Wissen über Behinderungen in der Gesellschaft?
Das hängt davon ab, ob es Kontakte gibt zu Menschen mit Behinderung, viele Bürger haben solche Kontakte nicht und wissen auch relativ wenig. So entstehen Vorurteile, dann werden Menschen mit Behinderung eher als defizitäre Wesen wahrgenommen. Deswegen ist es so wichtig, dass Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam groß werden und gemeinsam zur Schule gehen. Das ist vor allem wichtig für Kinder ohne Behinderung. Die lernen, dass es Kinder gibt, die im Rollstuhl sitzen, aber in Mathematik gut sind. Das strahlt am Ende in die Gesellschaft aus und hat positive Folgen auch für den Arbeitsmarkt. Manche Arbeitgeber können sich ja gar nicht vorstellen, dass Menschen mit Einschränkungen einen guten Job machen. Wer in der Schule behinderte Mitschüler hatte und später Personalverantwortung trägt, entscheidet sich eher für Menschen mit Behinderung, weil es keine Berührungsängste gibt.

Kürzlich ist wieder ein Fall von Gewalt gegen Behinderte bekannt geworden. Wie verbreitet ist das Problem?
Das ist leider sehr verbreitet. Studien zufolge werden insbesondere Frauen mit Behinderung häufig Opfer sexualisierter Gewalt. Hier sind bessere Schutzkonzepte nötig. Gewalt beginnt aber nicht erst bei tätlichen Angriffen. Wichtig ist der Gewaltschutz in Einrichtungen. Wir brauchen konkrete Maßgaben,  um institutionelle Abhängigkeiten und strukturelle Gewalt in Einrichtungen zu verhindern. Durch das Teilhabestärkungsgesetz wurde der Gewaltschutz in Einrichtungen  erstmals gesetzlich verankert. Für nachhaltige Vorkehrungen ist es  unabdingbar, dass Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen leben, an der Erarbeitung der Konzepte beteiligt werden.

Herr Dusel, Sie sind von Geburt an sehbehindert und haben Karriere gemacht, was hat Ihnen geholfen?
Die Regelschule war ein Segen für mich, weil ich mit anderen Kindern etwas unternehmen konnte. Als Zwölfjähriger war ich Pfadfinder. Das klingt skurril, wenn man schlecht sieht und Pfade finden soll. Aber darum ging es nicht. Ich war als Nachtwache gut, weil ich viel besser hören konnte als die anderen. Die gemeinsamen Erfahrungen in der Schule haben letztlich geholfen, dass ich später durch das Studium gekommen bin und in das Berufsleben. Ich kann mir ein demokratisches Land nicht gut vorstellen, das nicht inklusiv denkt und handelt. Behinderte haben die gleichen Rechte wie andere. Es ist Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass diese Rechte bei den Bürgern auch ankommen. Es ist eine Frage der Demokratie, ob Menschen in ihrer Vielfalt willkommen sind.

Das Gespräch führte Claus Peter Kosfeld

Jürgen Dusel (56) ist seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.


Deutscher Bundestag

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