Über Würde und Wahlen
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Das wichtigste Buch, das ich in diesem Jahr über Ostdeutschland gelesen habe, stammt von einem amerikanischen Politikwissenschaftler. Sein Name ist Francis Fukuyama, ein brillanter Denker. Das Buch heißt „Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“. Obwohl Sachsen, Thüringen und Brandenburg in
dem schmalen Band nicht vorkommen, helfen Fukuyamas Thesen zu
begreifen, welche politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen sich
dort gerade
abspielen.
Vor ein paar Jahren warfen ein paar junge Ostdeutsche die Frage auf, ob
sich in 40 Jahren DDR so etwas wie eine „ostdeutsche Ethnizität“
herausgebildet hätte, also, polemisch zugespitzt, ein SED-Gen. Ich habe
das seinerzeit für Blödsinn gehalten und sehe das heute nicht anders.
Aber dass sich in den neuen Bundesländern ein spezifisch ostdeutsches Identitätsgefühl entwickelt hat, ist keine steile These, sondern wissenschaftlich erwiesen.
Laut einer von der FAZ in Auftrag gegebenen Studie des Allensbach-Instituts identifizieren sich 47 Prozent der Ostdeutschen mit ihrem früheren Staatsgebiet.
Diese Gruppe neigt politisch vor allem der AfD und der Linken zu. Nur
44 Prozent identifizieren sich in erster Linie mit der deutschen Nation,
sie sind überwiegend Anhänger der anderen Parteien. Im Westen sehen
sich dagegen 71 Prozent der Befragten in erster Linie als Deutsche und
nicht als Westdeutsche. Dieses ostdeutsche Identitätsgefühl verfestige
sich immer mehr, heißt es in der Studie weiter.
Ich bin nicht in der DDR, aber mit der DDR groß geworden. Meine Eltern
flüchteten vor dem Mauerbau in den Westen, lernten sich beim Studium in
Göttingen kennen. Da wurde ich geboren. Die ostdeutsche Hälfte meiner
Familie lebte in Mecklenburg und dem südlichen Sachsen-Anhalt. Seit
Ende der 60er-Jahre fuhren wir jährlich mindestens zweimal im Jahr nach
Bützow oder Hohenmölsen. Ich weiß, wie Leipzig, Halle oder Rostock in
den 70er-Jahren ausgesehen haben. Wenn ich daran denke, steigt mir
plötzlich wieder dieser scharfe Geruch von Kohle in die Nase.
Bei unseren Familientreffen wurde viel gelacht (über die SED), auch mal
geweint (auch über die SED). Eines ist mir dort nie begegnet, auch nicht
in den Achtzigern, als ich meine ostdeutschen Verwandten alleine
besuchte: DDR-Identität. Meine Verwandten sahen sich
nicht als „Ossis“, sondern als Sachsen oder Mecklenburger; vor allem
sahen sie sich als Deutsche. Eine „ostdeutsche Identität“ scheint sich
vor allem nach dem Mauerfall entwickelt zu haben. Das nennt man dann
wohl Dialektik.
Was ich vor dem Mauerfall und der Wiedereinigung in vielen Gesprächen
registriert habe, war nicht nur die Sehnsucht nach Freiheit – sondern
auch die Sehnsucht nach Würde und Anerkennung. Freiheit und Demokratie
wurden 1989 und 1990 erkämpft. In materieller Hinsicht ging es den
Ostdeutschen noch nie so gut wie heute. Dennoch ist die Stimmung
aufgeheizt, die AfD steht im Osten vor ihren größten Triumphen. Warum eigentlich?
Der Hauptslogan der AfD in Brandenburg, Thüringen und Sachsen lautet:
Vollende die Wende. Das bedeutet: Dieses Deutschland, das wir am 3.
Oktober 1990 bekommen haben, wollten wir nicht. Wie die Vollendung der
Wende aussehen soll, kann man bei der AfD und in ihren Echokammern des
Internets nachlesen. Das politisch und ethnisch bereinigte Deutschland,
das dort mitunter gezeichnet wird, finde ich gruselig. Aber ich
verstehe, warum die Masche funktioniert.
Die AfD sagt: Die Zeit der ostdeutschen Passivität, die Zeit des Duldens
und der Kränkungen, ist vorbei. Wer AfD wählt, macht sich (wieder) zum Subjekt der Geschichte.
Das trifft einen Nerv. Es geht um verletzten Stolz und Anerkennung. Die
PDS hat in den Neunzigern das Jammern verstärkt. Die AfD jammert nicht,
sie brüllt – und findet dabei großen Widerhall. Fukuyama schreibt in
seinem Buch über „Identität“: „Eine erniedrigte Gruppe, die ihre Würde
wiederherstellen will, verfügt über weit mehr emotionales Gewicht als
eine, die nur ihren wirtschaftlichen
Vorteil verfolgt“. Und sie verfügt über politisches Gewicht, wie man sieht.
Im politischen Diskurs der Bundesrepublik wird Identität immer mehr zu einer Erzählung des Selbst, der nicht widersprochen werden darf.
Das ist gefährlich. Unsere Lebenswelten fallen auseinander, nicht nur
in Ost und West. Auch im Osten selbst zerfasert die politische
Landschaft, die so genannten Volksparteien schrumpfen unaufhörlich.
Mittendrin, im Regierungsviertel von Berlin, schauen die Eliten hilflos
zu.
Ich behaupte: Die AfD wird erfolgreich sein, solange die Probleme, auf
denen sie herumreitet, nicht gelöst worden sind. Die Probleme der
unkontrollierten Masseneinwanderung sind ihre politische Basis. Diese Probleme sind auch im Osten sehr konkret.
Im politischen Überbau aber liefert die AfD Zerrbilder von Heimat, Stolz, Identität. Früher hat all das die SPD im Sortiment gehabt, aber rational sortiert. Heute ist die deutsche Sozialdemokratie politisch blank. Am kommenden Freitag feiert die SPD in Eisenach übrigens
ihr 150-jähriges Bestehen, sie wurde dort im August 1869 unter dem
Vorsitz von August Bebel und Wilhelm Liebknecht in der Gaststätte „Zum
Goldenen Löwen“ gegründet.
Ich fürchte, es wird am Freitag in Eisenach eine traurige Veranstaltung werden. Das schreibe ich ohne Häme.
In den kommenden Wochen und Monaten möchte ich Ihnen in diesem
Newsletter gern berichten, was mir auffällt, wenn ich in Potsdam,
Dresden, Görlitz, Erfurt, Weimar, Magdeburg, Halle oder anderen Orten
unterwegs bin. Ich bin kein Prophet, aber ich habe seit längerer Zeit
das Gefühl, dass die Republik vom Osten her ins Rutschen gekommen ist.
Vor 30 Jahren hat sich das ähnlich angefühlt. Damals habe ich in
Berlin-Neukölln an der Mauer gewohnt; mein Balkon lag quasi in der
Hauptstadt der DDR, mein Wohnzimmer in West-Berlin. Aber davon erzähle
ich das nächste
Mal.
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