Fünf Jahre nach Merkels „Wir schaffen das“: Forschungen der Uni Osnabrück zur Wirkung von Unterstützungsprojekte
Universität Osnabrück
Am Forschungszentrum Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück gehen unter der Leitung von Prof. Dr. Helen Schwenken derzeit drei Forschungsprojekte ihrem Ende entgegen, die sich mit den Entwicklungen zu Flucht und der Unterstützung von Geflüchteten seit 2015 befassen. Was sagt die Forschung – ‚haben wir es geschafft‘?
„Die Ergebnisse unserer Forschung zur Unterstützung Geflüchteter deuten alle auf Gleichzeitigkeiten und Ambivalenzen hin. Dabei wird schon die Frage, was ‚geschafft‘ wurde, von politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren sehr unterschiedlich beantwortet. Auch beim ‚wir‘ gibt es Uneinigkeit“, so Prof. Dr. Helen Schwenken. „Unsere Forschung zeigt das immense Maß an zivilgesellschaftlichem Engagement auf. Ohne dieses wäre es zu weitaus größeren gesellschaftlichen Verwerfungen gekommen, weil die in 2015 unzureichende staatliche Aufnahmeinfrastruktur noch viel offensichtlicher geworden wäre. Aus dieser Situation heraus politisierten sich auch viele Ehrenamtliche.“ Personen, die vielleicht zunächst ‚nur‘ einem geflüchteten Kind beim Deutschlernen halfen, sahen die Auswirkungen geschlossener Grenzen und versagtem Familiennachzugs und begannen sich für Fragen des Zugangs zu Schutz zu interessieren. Initiativen wie die „Seebrücke“ oder der Zusammenschluss von Kommunen „Sichere Häfen“ gründeten sich.“ Zugleich wurden die Stimmen immer lauter und manifestierten sich in restriktiveren Politiken, die die Zahl der Geflüchteten reduzieren wollten. Was geschafft war oder werden sollte, bleibt also Gegenstand von Konflikten, so Schwenken weiter.
Diese Gleichzeitigkeit von Willkommens- und Ablehnungskultur zeigt sich auch im Feld von Geschlecht und Flucht, dem sich die Osnabrücker Forscherinnen in einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt zu Demokratie und Willkommenskultur zuwandten. Nach 2015 gab es eine verstärkte Aufmerksamkeit von Politik und Öffentlichkeit für die besondere Vulnerabilität von geflüchteten Frauen. „Die Erfahrungen von Unterstützenden im Feld geschlechtsspezifischer Gewalt zeigen jedoch: Maßnahmen zum Schutz geflüchteter Frauen kollidieren mit restriktiver Asylpolitik und der unzureichenden Ausstattung der Hilfeinfrastruktur", so Dr. Samia Dinkelaker. „Wenn etwa das Bleiberecht einer Frau von dem eines gewalttätigen Ehepartners abhängt, dann ist es für die Betroffenen schwer, die Partnerschaft aufzukündigen.“ Viele Frauenhäuser sind zudem aufgrund einer in Deutschland immer noch an internationalen Standards (Istanbul-Konvention) gemessenen zu geringen Ausstattung mit Plätzen für Schutzsuchende stets an ihren Kapazitätsgrenzen.
Dennoch, so zeigt die Forschung in diesem Bereich, haben viele Frauenberatungsstellen und Frauenhäuser beachtliche und erfolgreiche multiprofessionelle Hilfeinfrastrukturen aufgebaut und darin auch Initiativen des Empowerments für geflüchtete Frauen integriert. „Gerade im Bereich der Unterstützung geflüchteter Frauen sehen wir, dass ein nicht-paternalistisches Verständnis von Unterstützung ungemein wichtig ist, um Teilhabe in einer Migrationsgesellschaft wie der deutschen zu ermöglichen. Sonst schreibt Hilfe unreflektiert gesellschaftliche Hierarchien fest und befördert so auch Stereotype und Rassismus“, führt Prof. Schwenken weiter aus.
Dass es trotz gleicher Zielsetzungen ein breites Spektrum an Herangehensweisen bei staatlich geförderten, und von verschiedenen kommerziellen und gemeinnützigen Trägern angebotenen arbeitsmarktbezogenen Projekten gibt, ist ein Ergebnis einer weiteren Studie am IMIS. Dies hängt mit der Diversifizierung und Erweiterung des Feldes arbeitsmarktbezogener Unterstützungsangebote im Zuge der Fluchtmigration seit 2015 zusammen. Während viele Träger qualitativ hochwertige Angebote entwickelten, hatten andere Träger bis dato keine Erfahrungen in der Arbeit mit zugewanderten Zielgruppen. „Eine Gefahr für die professionelle Beratung, Qualifizierung und Vermittlung stellten in diesen Fällen implizite stereotype Annahmen über die Zielgruppe, wie die ‚rückständige und traditionelle Muslima’, dar“, so Johanna Ullmann. „Insgesamt aber können Projekte den Arbeitsmarktintegrationsprozess positiv begleiten und Arbeitsmarktchancen – wenn auch strukturell bedingt begrenzt – erhöhen, wenn sie sensibel und im Interesse der Teilnehmenden gestaltet sind.“
Die Forschungen in den Bereichen Gewaltschutz und Arbeitsmarktteilhabe ergaben jetzt, dass sich für viele der professionellen Unterstützungsangebote akut die Finanzierungsfrage stellt. In den fünf Jahren seit 2015 wurden unzählige Angebote und Förderlinien entwickelt, aber davon enden jetzt viele. „Das ist insbesondere für die Betroffenen dramatisch und auch langfristig mit gesellschaftlichen Kosten verbunden, wenn genau dann die Unterstützung endet, wenn etwa langjährig unterdrückte Traumata manifest werden oder sich insgesamt auch zeigt, dass die arbeitsmarktbezogene Unterstützung erst dann richtig wirken kann, wenn der Spracherwerb einigermaßen abgeschlossen ist“, stellt Johanna Ullmann fest. „Die Corona-Pandemie hat zudem die oft völlig unzureichenden hygienischen Bedingungen in Gemeinschaftsunterkünften, in denen immer noch viele Geflüchtete leben, offengelegt. Zudem gab es auf einmal keinen Zugang mehr für ehrenamtliche und professionelle Unterstützerinnen und Unterstützer“, ergänzt Dr. Samia Dinkelaker.
Die Forscherinnen am IMIS ziehen somit eine gemischte Bilanz: Es sei in der Tat ‚viel geschafft‘ worden seit 2015, in der Zivilgesellschaft ebenso wie von Seiten von kommunalen Verwaltungen und öffentlichen Institutionen. Allerdings sei es verfrüht, nach fünf Jahren einen nicht unerheblichen Teil der Unterstützungsinfrastruktur und damit auch der aufgebauten Kompetenzen zu gefährden. „Wir wissen aus früheren Flüchtlingsgenerationen, dass Integration in den Arbeitsmarkt und gesellschaftliche Teilhabe eine Sache von vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten ist – aber dass sich Investitionen langfristig auszahlen“, so Prof. Dr. Helen Schwenken.
Kontakt zu den einzelnen Forschungsprojekten:
• Forschungsprojekt „Von der Flüchtlingshilfe zur Fluchthilfe. Auseinandersetzungen um Flüchtlingsschutz im deutschen Migrationsregime und die Rolle zivilgesellschaftlicher Initiativen“, gefördert von der Fritz-Thyssen-Stiftung: Dr. Helge Schwiertz und Prof. Dr. Helen Schwenken, hschwenken@uni-osnabrueck.de
• Forschungsprojekt „Willkommenskultur und Demokratie“, Teilprojekt zur Unterstützungsinfrastruktur für geflüchtete Frauen, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF): Dr. Samia Dinkelaker und Prof. Dr. Helen Schwenken, samia.dinkelaker@uni-osnabrueck.de
• Forschungsprojekt „Geschlecht – Flucht – Aufnahmepolitiken“, Teilprojekt „Gibt es einen ‚male bias’ bei der frühen Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Frauen?“, gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK) des Landes Niedersachsen: Johanna Ullmann und Prof. Dr. Helen Schwenken, johanna.maria.ullmann@uni-osnabrueck.de
28.08.2020
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