Pressemitteilung
„Eigene Akzente gesetzt“ – Sven-Christian Kindler,
haushaltspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion, im Interview mit der
Wochenzeitung „Das Parlament“
Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag 07. Juni 2022)
- bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Der haushaltspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Sven-Christian Kindler, erwartet, dass Vorhaben der Koalition wie die Kindergrundsicherung, das Energiegeld und das soziale Bürgergeld trotz der Folgekosten des Ukraine-Kriegs umgesetzt werden. „Wir haben den Koalitionsvertrag gemeinsam vereinbart“, sagte er im Interview der Wochenzeitung DAS PARLAMENT, und „ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung insgesamt, also auch das Finanzministerium, die Finanzierung sicherstellt“.
Zur Forderung von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), 2023 die Schuldenbremse wieder einzuhalten, sagte Kindler, dies sei zwar im Koalitionsvertrag vereinbart, aber unter der Annahme einer „politischen und finanziellen Normallage“ im nächsten Jahr. Die erhoffe er zwar auch, „habe aber Zweifel, ob die große Belastung durch die Pandemie und die sozialen, wirtschaftlichen und auch internationalen Folgen des Ukraine-Kriegs am 31.12.2022 um 23.59 Uhr einfach schlagartig beendet sind“.
Das Wichtigste sei, dass Europa geschlossen zusammensteht, erklärte Kindler. „Wer jetzt in der Krise den Rotstift ansetzt und Normalität suggeriert in einer Notlage, gefährdet auch den Zusammenhalt in Europa und in Deutschland.“
Das Interview im Wortlaut:
Das
Parlament: Herr Kindler, dieser Bundeshaushalt ist weit mehr als in
normalen Jahren durch Sachzwänge geprägt. Die Corona-Pandemie wirkt noch
fort, und nun sind auch noch die Folgen des russischen Großangriffs auf
die Ukraine zu bewältigen. Konnte die neue Koalition angesichts dieser
Zwänge überhaupt eigene Akzente setzen?
Kindler: Natürlich
bestimmen die Folgen der Corona-Pandemie auch diesen Haushalt stark, und
aufgrund der massiven sozialen, ökonomischen und humanitären
Auswirkungen des schrecklichen russischen Angriffskriegs gegen die
Ukraine mussten wir einen Ergänzungshaushalt aufstellen. Aber die
Regierung und das Parlament im Haushaltsverfahren haben starke eigene
Akzente gesetzt. So bei den Investitionen. Wenn man das Sondervermögen
Energie- und Klimafonds plus das Sondervermögen Digitale Infrastruktur
mit dem Kernhaushalt zusammennimmt, steht jetzt ein Rekordwert von 75
Milliarden Euro für Investitionen bereit. Unsere zwei Entlastungspakete
sind zielgenau und sozial gerecht. Die Frage, wie man konkret entlastet,
ist auch hochpolitisch. Wir unterstützen Familien mit dem Kinderbonus
von hundert Euro, wir haben den Einmal-Zuschlag für Menschen im
ALG-II-Bezug in Höhe von 200 Euro beschlossen, den Heizkostenzuschlag
unter anderem für Wohngeldbezieher und eine Energiepreispauschale von
300 Euro, die versteuert wird...
Das Parlament: ...was bedeutet?
Kindler:
Dass die Pflegekraft deutlich mehr bekommt als der Chefarzt. Das
Neun-Euro-Ticket ist ein Kassenschlager und zeigt, wie beliebt der
Öffentliche Nahverkehr ist. Das Volumen des Energie- und Klimafonds hat
die Ampelkoalition für die nächsten Jahre auf fast 200 Milliarden Euro
verdoppelt und dort wichtige Investitionen konkret verankert. Im
parlamentarischen Verfahren haben wir noch deutlich nachgesteuert für
Diplomatie, zivile Krisenprävention und Entwicklungszusammenarbeit, die
im ersten Entwurf noch zu gering angesetzt waren.
Das
Parlament: Der gerade verabschiedete Etat basiert auf der Annahme leicht
steigender Steuereinnahmen. Was aber, wenn etwa wegen einer
gravierenden Störung der Gasversorgung die Konjunktur einbricht?
Kindler:
Die fossile Inflation, die steigenden Gas- und Ölpreise sind nicht nur,
aber vor allem eine Folge des russischen Angriffskriegs gegen die
Ukraine. Damit greift die Notfallregelung der Schuldenbremse nach
Artikel 115 Grundgesetz und der Staat kann krisenbedingte Kredite
aufnehmen. Er hat in der Vergangenheit schon darüber
Entlastungsmaßnahmen finanziert. Wenn jetzt zum Beispiel Wladimir Putin
im Herbst den Gashahn zudreht, könnte der Staat darauf mit einem
Nachtragshaushalt und mit Notkrediten reagieren.
Das
Parlament: Finanzminister Lindner will nun mit dem nächsten Haushalt für
2023, der gerade erarbeitet wird, wieder im Rahmen der Schuldenbremse
bleiben. Halten Sie das für richtig und realistisch?
Kindler:
Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, die
Schuldenbremse 2023 wieder einzuhalten. Die Annahme im Herbst 2021 war,
dass wir dann wieder in einer politischen und finanziellen Normallage
sind. Ich habe keine Glaskugel, habe aber Zweifel, ob die große
Belastung durch die Pandemie und die sozialen, wirtschaftlichen und auch
internationalen Folgen des Ukraine-Kriegs am 31.12.2022 um 23.59 Uhr
einfach schlagartig beendet sind. Wenn ich mir die schrecklichen
Handlungen und die imperialen Pläne des russischen Präsidenten ansehe,
fürchte ich, dass das ein längerer Konflikt wird. Das Wichtigste dabei
ist, dass Europa geschlossen zusammensteht. Wir dürfen uns nicht von
Wladimir Putin durch eine falsche Finanzpolitik auseinanderdividieren
lassen. Die Europäische Kommission hat zurecht für 2023 noch einmal die
Ausnahmeklausel bei ihren Schuldenregeln beschlossen. Und ich erwarte,
dass Deutschland als größte Volkswirtschaft in der Europäischen Union
weiterhin eine aktive Finanzpolitik betreibt und sich nicht in die Krise
reinspart. Wer jetzt in der Krise den Rotstift ansetzt und Normalität
suggeriert in einer Notlage, gefährdet auch den Zusammenhalt in Europa
und in Deutschland.
Das Parlament: Nun klang aber Lindner
so, als ob er in dieser Frage nicht mit sich reden lässt. Könnte das ein
Knackpunkt für die Koalition werden?
Kindler: Ich gehe
davon aus, dass die Bundesregierung diese Fragen einvernehmlich wie auch
schon in der Vergangenheit regeln wird und die Realität die Haushalts-
und Finanzpolitik der Ampelregierung bestimmt. Ich wünsche mir sehr,
dass wir 2023 wieder in einer Normallage sind. Aber ich befürchte, dass
das nicht so ist.
Das Parlament: Unmittelbar vor der
abschließenden Haushaltsberatung haben sich Koalition und Union auf die
Ausgestaltung des Bundeswehr-Sondervermögens von hundert Milliarden Euro
geeinigt. Die Übereinkunft sieht vor, dass einige Anliegen der Grünen
bei der Cyberabwehr und der internationalen Zusammenarbeit nicht aus dem
Sondervermögen finanziert werden, sondern aus dem regulären
Bundeshaushalt. Kann das angesichts der Zwänge, über die wir gerade
gesprochen haben, überhaupt funktionieren?
Kindler: Die
Einigung zum Sondervermögen ist ein Kompromiss. Ich verstehe ehrlich
gesagt nicht, warum die Union die Finanzierung von Cybersicherheit aus
dem Sondervermögen abgelehnt hat. Ich halte diese Haltung für von
vorgestern. Ein Hackerangriff auf ein Krankenhaus ist momentan viel
wahrscheinlicher als ein Raketenangriff auf die Bundesrepublik
Deutschland. Trotzdem muss ich zur Kenntnis nehmen, dass das mit der
Union nicht zu machen war. Aber in der Bundesregierung ist klar
verabredet, dass jetzt schnellstmöglich eine Strategie für den Cyber-
und Informationsraum entwickelt und das dafür notwendige Geld im
Haushalt verankert wird, ebenso wie Geld für zivile Krisenprävention und
internationale Stabilisierungsmaßnahmen. Ich gehe davon aus, dass das
jetzt mit dem nächsten Haushalt passiert.
Das Parlament:
Vereinbart ist nun, dass die Regierung mit dem Gesetzentwurf zum
Sondervermögen einen Wirtschaftsplan vorlegt, dessen Umsetzung eng vom
Haushaltsausschuss überwacht wird. Wie hat man sich diese Überwachung
vorzustellen?
Kindler: Der Wirtschaftsplan wird jedes Jahr
von der Regierung vorgelegt und muss dann vom Haushaltsausschuss
beschlossen werden. Zusätzlich richtet der Bundestag ein Gremium mit
Mitgliedern des Haushaltsausschusses ein, welches das Sondervermögen
kontrolliert und den Haushaltsausschuss bei seinen Entscheidungen berät.
Der Haushaltsausschuss selbst kann Projekte ablehnen oder sperren. Und
er muss jedes Projekt über 25 Millionen Euro genehmigen. Das wurde
bisher nur durch einen Maßgabebeschluss des Haushaltsausschusses
untergesetzlich geregelt. Erstmals werden wir das jetzt auch gesetzlich
festschreiben. Das ist ein großer Fortschritt für die Rechte des
Parlaments. Wir haben zusätzlich beschlossen, dass die Reform des
Beschaffungswesens eng vom Haushaltsausschuss kontrolliert wird zusammen
mit dem Rechnungshof, um dafür zu sorgen, dass Gelder wirtschaftlich
sinnvoll eingesetzt werden und nicht wie in der Vergangenheit unter
Leitung der Union im Verteidigungsministerium teilweise einfach
verbrannt.
Das Parlament: Die Koalitionsvereinbarung
enthält noch eine Menge Vorhaben, darunter kostspielige Projekte etwa in
der Sozialpolitik. Glauben Sie, dass man da in den nächsten drei Jahren
angesichts der Umstände Abstriche wird machen müssen?
Kindler:
Wir haben den Koalitionsvertrag gemeinsam vereinbart. Darin sind
konkrete Projekte enthalten, und die gelten. Sie müssen in der
Finanzplanung jetzt konkret unterlegt werden, insbesondere die
Kindergrundsicherung, das Energiegeld und das soziale Bürgergeld. Ich
gehe davon aus, dass die Bundesregierung insgesamt, also auch das
Finanzministerium, die Finanzierung sicherstellt.
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