| Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
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| handelt es sich bei der Letzten Generation
um eine kriminelle Vereinigung im Sinne von § 129 StGB? Handelt es sich
gar um eine Sekte? Klaus Mertes findet in seinem Editorial (s.u.): Man
muss differenzieren. Den pauschalen Vorwurf der Kriminalität weist er
zurück. Ein Moment von „Berufung“ in „prophetischer Tradition“ sieht er
im Selbstverständnis der Letzten Generation durchaus mitschwingen.
Entscheidend für die Frage, ob die Berufung auf eine nicht mehr
diskutable Gewissheit ins sektiererische abdriftet oder nicht, ist die
Offenheit der Berufenen für einen Letzten Vorbehalt gegenüber ihrer
eigenen Gewissheit, der in der Theologie „eschatologischer Vorbehalt“
genannt wird.
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| Die Themen im August: Konrad Hilpert äußert sozialethische Bedenken zur geplanten Aufhebung der Strafbarkeit von Abtreibungen.
Einige Mitglieder der Regierungsparteien planen, den § 218 StGB zu
streichen. Abtreibungen sollen rechtlich anders eingeordnet werden als
im vor 25 Jahren ausgehandelten Kompromiss: „rechtswidrig aber in
Ausnahmen straffrei“. J.R.R. Tolkiens (am 2. September gedenken wir seines 50. Todestages)
„Der Herr der Ringe“, und seine anderen zahlreichen Werke lassen
Leserinnen und Leser in eine andere Welt eintauchen, in der auch
theologische Fragen um unser Verhältnis zur Schöpfung, zur Technik und
zur Kunst verhandelt werden. Benoît Gautier führt in das Werk und das
Denken des religiösen Autors ein. Geschlechtsangleichungen:
Stephan Ernst kritisiert ein neues Positionspapier der
US-Bischofskonferenz. In der „Doctrinal Note on the Moral Limits to
Technological Manipulation of the Human Body” bezeichnen die Bischöfe
geschlechtsangleichende medizinische Eingriffe etwa bei transsexuellen
Menschen als „moralisch unerlaubt“. Markus Welte berichtet als Mitglied der Österreich-Delegation von der Europäischen Synodalversammlung in Prag. „Wir werden Zeugen eines grundlegenden epochalen Übersetzungsvorgangs“ des ekklesiologischen Selbstverständnisses. Im weltweiten Synodalen Prozess werden auch Fragen um die Partizipation an kirchlichen Entscheidungsprozessen und an Ämtern
erörtert. Das wird auch im neuen „Instrumentum laboris“, dem
Vorbereitungsdokument für die erste Sitzung der XVI. Generalversammlung
der Bischofssynode im Oktober 2023 deutlich. Ingeborg Gabriel fragt, welche Inspirationen sich aus den Leitwerten der Katholischen Soziallehre gewinnen lassen. Seit
dem Ende des zweiten Vietnamkriegs 1975 verloren christliche Kirchen an
Einfluss in dem kommunistischen Land. Seit 2008 entspannt sich zwar das
Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, berichtet A.
Pham Van (pseudonym), aber die Religionsfreiheit im Vietnam sei noch erheblich eingeschränkt. Außerdem lesen Sie im August zwei Essays von Ralf Klein SJ („Queere Menschen in der Kirche“) und Stephan Lüttich („Zur Krönungsliturgie für Charles III.“) sowie Rezensionen aus Theologie & Kirche. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und weiterhin eine schöne Ferienzeit Ihr
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| P. Stefan Kiechle SJ, Chefredakteur
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| Inhalt | |
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| | • | Klaus Mertes SJ: Letzter Vorbehalt |
| • | Konrad Hilpert: Vor einem Paradigmenwechsel? Zur Aufhebung der Strafbarkeit von Abtreibungen |
| • | Benoît Gautier: Grüne Sonne. J.R.R. Tolkien, die Schöpfung und die Technik |
| • | Stephan Ernst: Geschlechtsangleichungen. Theologisch-ethische Anmerkungen |
| • | Markus Welte: Frische und Neuheit. Die europäische Synodalversammlung in Prag |
| • | Ingeborg G. Gabriel: Ein Schatz in irdenen Gefäßen. Zum Verhältnis von Synodalem Prozess und Katholischer Soziallehre |
| • | A. Pham Van: Vietnam. Religionsfreiheit in einer kommunistischen Gesellschaft |
| • | Ralf Klein SJ: Queere Menschen in der Kirche |
| • | Stephan Lüttich: „I come not to be served but to serve“. Zur Krönungsliturgie für Charles III. |
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| Letzter Vorbehalt | |
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| Editorial: Klaus Mertes SJ
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| Immer
wenn gesellschaftliche Konflikte die juristische Ebene erreichen, wird
die Fragestellung verengt: Handelt es sich bei der Letzten Generation um
eine „kriminelle Vereinigung“ im Sinne von §129 StGB? Juristisch
gesehen besteht Interpretationsspielraum. Um den Tatbestand der
Kriminalität zu erfüllen, müssen „Zweck oder Tätigkeit“ der Vereinigung
„auf die Begehung von Straftaten gerichtet“ sein. Die Blockaden der
Letzten Generation – die übrigens, was die Aktionsform betrifft,
vergleichbar mit den Straßenblockaden von Bauernprotesten sind – haben
aber erklärtermaßen ein anderes Ziel, nämlich die Klimakatastrophe zu
verhindern. Man mag zwar darüber streiten, ob die Aktionen diesem Ziel
effektiv dienen oder ob sie dem Anliegen vielleicht sogar eher schaden -
wie ich persönlich meine. Aber das bedeutet nicht, dass man den
Aktivistinnen und Aktivisten der Letzten Generation unterstellen kann,
sie würden einen anderen Zweck verfolgen als den, den sie angeben. Nun
gilt die Errichtung von Straßenblockaden in der aktuellen
Rechtsprechung als „strafbare Nötigung“. Und der Zweck heiligt auch
nicht die Mittel, nicht der Zweck der Verhinderung der Klimakatastrophe.
Darauf berufen sich jedenfalls diejenigen, die von den strafbaren
Handlungen auf die Kriminalität der Vereinigung schließen. Doch das ist
zu kurz gegriffen. Die Rechtsprechung hat auch den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit zu achten, zumal der Anfangsverdacht der
Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung mit erheblichen
Ermittlungsbefugnissen verbunden ist. Nicht jede Straftat legitimiert
einen so schwerwiegenden Anfangsverdacht. Neben der strafbaren Nötigung
müsste etwa eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit
festgestellt werden. Doch ob diese im Falle der Letzten Generation
besteht, darf man mit guten Gründen bestreiten. Es bleibt also
Ermessensspielraum. Die Gefahren des Klimawandels müssen
gesellschaftlich diskutiert werden. Unterschiedliche Einschätzungen der
Lage müssen möglich bleiben. Dazu ist es ratsam, sprachlich abzurüsten,
auf beiden Seiten: Weder sind die Sitzblockierer „Kriminelle“, noch
machen sich demokratisch gewählte Politiker des „Mordes“ an künftigen
Generationen schuldig, wenn sie, auch mit Kompromissen, Verantwortung
übernehmen. Schon
im Frühjahr wurden Stimmen laut, die der Letzten Generation „Parallelen
zu einer Sekte“ bescheinigten (Michael Utsch, Domradio, 11.2.2023). In
einer neueren Publikation über geistlichen Missbrauch wird die
Gruppierung als „geschlossenes System“ bezeichnet; ihre Mitglieder
dächten und lebten in einer Hermetik, die typisch für Vereinigungen sei,
in denen die Gefahr des emotionalen Machtmissbrauchs lauert: „Heilige
Wissenschaft“ (Jay Lifton), hoher Loyalitätsdruck nach innen,
Reinheitsdenken, Schwarz-Weiß-Weltbild, Bereitschaft zur
Selbstaufopferung, u.a. (vgl. Stephanie Butenkemper: Toxische
Gemeinschaften. Rezension in diesem Heft: S. 638 f.). Solche
Einschätzungen liegen auch auf der Linie der Sorgen und Ängste aus
Familien- und Freundeskreisen von Aktivisten, die sich bei staatlichen
Sekten-Infos oder bei kirchlichen Sektenbeauftragen melden. Ist
der Sektenvorwurf noch diskussionswürdige Kritik, oder ist er schon
Diffamierung? Hier steht eine Unterscheidung der Geister an. Kategorien
der Abwägung und des Kompromisses verfangen bei den Aktivistinnen und
Aktivisten tatsächlich nicht. Argumente auf dieser Ebene sagen ihnen
nichts, was sie nicht schon längst wüssten und bedacht hätten. Sie
machen weiter, trotz aller Gegenargumente und Anfeindungen. Dafür
berufen sie sich auf die Traditionen des Widerstandes. Sie wollen mit
Zeichenhandlungen öffentliches Bewusstsein für die Katastrophe wecken,
in prophetischer Tradition. Das gelingt ihnen auch, um so effektiver, je
mehr Empörung sie auslösen. In ihrem Selbstverständnis schwingt dabei,
grenzend an religiöse Sprache, ein Element von Berufung mit. Wenn
Argumente der Abwägung und des politischen Kompromisses nicht mehr
verfangen, bleibt als Alternative zum Sektenvorwurf nur übrig,
zuzugestehen, dass die Aktivistinnen und Aktivisten bei einem Punkt
angekommen sind, an dem sie aus ihrer eigenen, inneren Logik heraus
nicht mehr anders können, als trotz aller Bedenken dem eigenen Gewissen
oder „Gott mehr zu gehorchen als den Menschen“ (vgl. Apg 5,29). Doch
woran erkennt man, dass solche und vergleichbare Gruppierungen diesen
Ausnahmezustand für sich im Guten und nicht im missbräuchlichen,
sektiererischen Geiste reklamieren? Daran, wie sie ihrerseits zu
denjenigen Personen stehen, die in derselben Sache, aufgrund von
Abwägung, anders, ja gegenteilig denken. „Denn es kann sein, dass
derselbe göttliche Geist mich dazu (zu der einen Position) aus den einen
Gründen bewegt und andere aus anderen zum Gegenteil (zu der
gegenteiligen Position) bewegt“ (Ignatius von Loyola, Brief an Franz von
Borgia, 5.7.1552.) Wenn beide Positionen vom guten Geist sind, dann
kann daraus auch Gutes werden, das keine der beiden Seiten jetzt bereits
sehen kann. Nur Gott ist der Herr der ganzen Geschichte. In
theologischer Sprache wird dieser Vorbehalt „eschatologisch“ genannt. Er
bewahrt vor Letzten Irrtümern.
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