Dienstag, 4. Juli 2023

 

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Stimmen der Zeit
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
 
„Die eigene psychische Triebdynamik, wer kennt sie nicht?“, fragt Christian M. Rutishauser SJ in seinem neuen Editorial (s.u.). Die frühchristliche Tradition sah den rechten Umgang mit den destruktiven Versuchungen und mit den sogenannten Todsünden in der Askese. Später ging es eher um Tugenden, dann um Charakterbildung und Selbstoptimierung. Heute fördert die Ideologie des ungebremsten Wirtschafts-
wachstums wieder die alten Laster.
Stefan Kiechle SJ
„Gier, Unzucht, Neid usw. werden nicht mehr als destruktiv gesehen, sondern in den Dienst von Erfolg und Wohlstand gestellt.“ Die destruktiven Kräfte sind vom Individuum auf die Gesellschaft übertragen worden. Durch Selbsterkenntnis und Arbeit an der eigenen Innerlichkeit können wir die destruktiven Kräfte im Zaum halten.
 
Die Themen im Juli:
 
Katholische Sexualmoral: Kerstin Schlögl-Flierl und Dirk Fischer stellen eine moderne Beziehungsethik vor, die besser mit der Lebensrealität heutiger Christen korreliert. Dabei sprechen sie auch Ideen aus dem Synodalen Weg an.
 
Der Fall um den charismatischen Arche-Gründer Jean Vanier offenbarte spirituelle Abgründe geistlichen und sexuellen Missbrauchs. Klaus Mertes SJ schildert die Geschehnisse nach dem neuesten Untersuchungsbericht und deutet sie theologisch.
 
Wahrheit, Lüge und seelische Turbulenzen: Die Suche nach Wahrheit gehört zu den ältesten Fragen der Menschheit, auch in den Künsten. Susanne Heine referierte auf der diesjährigen Tagung der Akademie für Film- und Fernsehdramaturgie in Rom zum Thema „Wahrheit im Film“.
 
Helden und Heilige dienen als Vorbilder. Einige Männer des frühen 20. Jahrhunderts wurden sowohl von der katholischen Kirche als auch von den Nationalsozialisten überhöht und für ihre Zwecke eingespannt. Benno Haunhorst stellt die ambivalenten Persönlichkeiten vor.
 
Nach dem gescheiterten Staatsstreich am 20. Juli 1944 wurden Angehörige des Kreisauer Kreises von den Nationalsozialisten hingerichtet, darunter Alfred Delp SJ. Wir dokumentieren die Ansprache von Klaus von Dohnanyi, die der damalige Staatssekretär 1970 zum 25. Todestag Delps in Lampertheim hielt.
 
Schränken Verbote wie ein Tempolimit, das Ende des Verbrennungsmotors oder das geplante Auslaufenlassen von Öl- und Gasheizungen unsere Freiheit über die Maßen ein? Wie gelingt Nachhaltigkeit sonst, wenn nicht durch die Beschneidung klimaschädlicher Produkte und Praktiken? Johannes Wallacher reflektiert über Freiheit und Nachhaltigkeit.
 
Außerdem lesen Sie im Juli zwei Essays von Simon Krappmann („Kosmische Katze. Über Glauben und Logik“) und Klaus Mertes SJ („Die Letzte Generation“) sowie Rezensionen aus Geschichte & Biografie und Philosophie & Ethik.
 
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und einen angenehmen Sommer
 
Ihr
 
P. Stefan Kiechle SJ, Chefredakteur
 
Heft 7, Juli 2023:
Stimmen der Zeit - Aktuelles Heft
 
Inhalt
Christian M. Rutishauser SJ: Destruktives in der Seele
Dirk Fischer – Kerstin Schlögl-Flierl: Relationale sexuelle Selbstbestimmung
Klaus Mertes SJ: Der Fall Jean Vanier: Abgründe des Missbrauchs
Susanne Heine: Wahrheit, Lügen und seelische Turbulenzen
Benno Haunhorst: Falsche Helden
Klaus von Dohnanyi: Zum Todestag von Alfred Delp
Johannes Wallacher: Freiheit und Nachhaltigkeit – Partner oder Gegner?
Simon Krappmann: Kosmische Katze. Über Glauben und Logik
Klaus Mertes SJ: Die Letzte Generation
 
Aus dem aktuellen Heft:
Destruktives in der Seele
Editorial: Christian M. Rutishauser SJ 
 
Die eigene psychische Triebdynamik, wer kennt sie nicht! Vom Internet-Surfen nicht loskom-men oder dem Alkohol frönen, obwohl Vernünftigeres zu tun wäre. Sich in einen Feind verkrallen, ihm nachtreten, obwohl es nur schadet und niemandem hilft. Schon immer hat der Mensch versucht, diesen destruktiven Kräften der Seele auf die Spur zu kommen. Die Asketen der Spätantike haben dazu ihren eigenen Leib zum Laboratorium gemacht. In Syrien und Ägypten zogen sie in die Wüste und übten in der Abgeschiedenheit Introspektion. Unerbittlich trieben sie Selbsterkenntnis. Der Wüstenvater Antonius zum Beispiel beschrieb seine inneren „Dämonen“. Auf dem Isenheimer Altar in Colmar ist er dargestellt, wie Fratzen und Teufel an ihm herumzerren. Auch Salvador Dalì malte den nackten Athleten, übergroßen Gebilden auf Stelzbeinen ausgeliefert.
 
Im vierten Jahrhundert betrieb auch Evagrius Ponticus „Seelenarchäologie“. Er ordnete und benannte die Kräfte, um sie zu bannen: Essgier, zügelloser Sex und Habgier. Sie würden einem vitalen Selbsterhaltungstrieb entspringen und sich selbstzerstörerisch aufblähen. Nur Askese könne sie bändigen. Kräfte, die mehr dem Zwischenmenschlichen schaden, seien Zorn, Neid und Ekel an der Welt, der von Antriebslosigkeit über Sinnkrise bis zu Depression führen kann. Der Wille sei oft zu schwach, dagegen anzukämpfen. Evagrius empfiehlt, auszuhalten und nachzuspüren, aus welchen Quellen diese Dynamiken kommen. Werden sie angenommen, beginnen sie sich aufzulösen. Schließlich nennt er Eitelkeit und Stolz, die dem Leben im Wege stünden. Davon könne sich der Mensch nicht selbst befreien. Würde es ihm gelingen, wäre er wieder stolz auf sich. Daher müsste der Mensch letztlich befreit werden.
 
Solche Lehren zur Seele wurden oft in Klöstern weitergegeben. In der Bevölkerung aber hat sich eine Charakterlehre durchgesetzt. Die Kirche sprach von sieben Todsünden. Heute spricht die Psychoanalyse von der Libido, dem Willen zur Macht und dem Überlebenstrieb. Durch sie geraten die Menschen in rivalisierende Konflikte. Ohne Verletzungen und Projektionen, Sich-Verlieren an Objekte und angstvolles Kleben an ihnen, reift und entwickelt sich aber kein Mensch.
 
Die bürgerliche Gesellschaft hat den Lastern Tugenden entgegengesetzt: Fleiß gegen Faulheit, Demut gegen Stolz, Geduld gegen Zorn, Mäßigung gegen Essgier, Keuschheit gegen Unzucht, Mildtätigkeit gegen Habsucht, Wohlwollen gegen Neid. Sie forderte Persönlichkeitsbildung. Heute geht es wohl mehr um Selbstoptimierung. Mit dem streitbaren Nachbarn streitet man dennoch. Eine Portion Internetsucht gehört zu einem Single. Geiz ist geil, und Flugreisen, sei es zum Shoppen in London oder für Ferien auf Bali, gehören zum Lifestyle, auch wenn die Klimaerwärmung zunimmt.
 
Mehr noch: Die Ideologie des ungebremsten Wirtschaftswachstums wertet die Triebe um. Sie fördert die alten Laster: Neid belebt das Geschäft und weckt Bedürfnisse, die der Markt stillen kann. Die Pornoindustrie macht Rekordumsätze. Noch einen Adventsverkauf und den Black Friday dazu, um die Habgier anzustacheln. Auch überzogene Boni und Löhne scheinen legitim. Die Faulen lassen ihr Geld an der Börse arbeiten. Kurz: Gier, Unzucht, Neid usw. werden nicht mehr als destruktiv gesehen, sondern in den Dienst von Erfolg und Wohlstand gestellt. Schon Giambattista Vico († 1744) schrieb, man müsse Grausamkeit, Gier und Ehrgeiz in nationaler Verteidigung, Handel und Politik nutzen und dadurch eine wohlhabende und funktionierende Gesellschaft schaffen. Die Umwertung alter Todsünden in legitime Interessen scheint heute akzeptiert zu sein. Sie ist zur Grundlage der westlichen Welt geworden.
 
Mag der Einzelne in der säkularen, individualistischen Gesellschaft entlastet worden sein – die destruktiven Kräfte sind damit nicht verschwunden. Sie sind auf das Kollektiv übertragen worden. Gier und Neid werden nach außen gelenkt, wenn sich ein Volk im Krieg auf einen Feind stürzt. Im Inneren einer Gesellschaft werden sie durch Bürokratisierung kontrolliert. Vor allem ist die Vergesellschaftung der Triebe global zu spüren. Sie zeigte sich in der schamlosen Kolonialisierung und Ausbeutung ganzer Kontinente. Heute äußert sich ihre tödliche Wirkung in einem beispiellosen Artensterben und in klimatischen Katastrophen. Es hat sich in Tat und Wahrheit eine Auslagerung von Lastern in Strukturen und undurchschaubare Prozesse ereignet. Und da wundert sich noch jemand, wenn Flüchtlinge aus fernen Ländern kommen und ihren Anteil zurückverlangen? Und Klimaaktivisten müssen sich rechtfertigen, wenn sie der Gesellschaft den Spiegel vorhalten!
 
Wenn nicht Therapie, so braucht doch jede Seele Selbsterkenntnis und Arbeit an der eigenen Innerlichkeit. Wer sich ihr verweigert, lässt den destruktiven Kräften nicht nur freien Lauf. Er wälzt ihre Energie auf andere ab. Schließlich zahlt immer jemand den Preis für ihre gesellschaftliche Auslagerung und ihre ideologische Rechtfertigung.
 
 
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