| Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
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| „Die
eigene psychische Triebdynamik, wer kennt sie nicht?“, fragt Christian
M. Rutishauser SJ in seinem neuen Editorial (s.u.). Die frühchristliche
Tradition sah den rechten Umgang mit den destruktiven Versuchungen und
mit den sogenannten Todsünden in der Askese. Später ging es eher um
Tugenden, dann um Charakterbildung und Selbstoptimierung. Heute fördert
die Ideologie des ungebremsten Wirtschafts- wachstums wieder die alten Laster.
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| „Gier, Unzucht, Neid usw. werden nicht mehr als destruktiv gesehen, sondern in den Dienst von Erfolg und Wohlstand gestellt.“
Die destruktiven Kräfte sind vom Individuum auf die Gesellschaft
übertragen worden. Durch Selbsterkenntnis und Arbeit an der eigenen
Innerlichkeit können wir die destruktiven Kräfte im Zaum halten. Die Themen im Juli: Katholische Sexualmoral:
Kerstin Schlögl-Flierl und Dirk Fischer stellen eine moderne
Beziehungsethik vor, die besser mit der Lebensrealität heutiger Christen
korreliert. Dabei sprechen sie auch Ideen aus dem Synodalen Weg an. Der Fall um den charismatischen Arche-Gründer Jean Vanier
offenbarte spirituelle Abgründe geistlichen und sexuellen Missbrauchs.
Klaus Mertes SJ schildert die Geschehnisse nach dem neuesten
Untersuchungsbericht und deutet sie theologisch. Wahrheit,
Lüge und seelische Turbulenzen: Die Suche nach Wahrheit gehört zu den
ältesten Fragen der Menschheit, auch in den Künsten. Susanne Heine
referierte auf der diesjährigen Tagung der Akademie für Film- und
Fernsehdramaturgie in Rom zum Thema „Wahrheit im Film“. Helden und Heilige
dienen als Vorbilder. Einige Männer des frühen 20. Jahrhunderts wurden
sowohl von der katholischen Kirche als auch von den Nationalsozialisten
überhöht und für ihre Zwecke eingespannt. Benno Haunhorst stellt die
ambivalenten Persönlichkeiten vor. Nach dem gescheiterten Staatsstreich am 20. Juli 1944 wurden Angehörige des Kreisauer Kreises von den Nationalsozialisten hingerichtet, darunter Alfred Delp SJ.
Wir dokumentieren die Ansprache von Klaus von Dohnanyi, die der
damalige Staatssekretär 1970 zum 25. Todestag Delps in Lampertheim
hielt. Schränken
Verbote wie ein Tempolimit, das Ende des Verbrennungsmotors oder das
geplante Auslaufenlassen von Öl- und Gasheizungen unsere Freiheit über
die Maßen ein? Wie gelingt Nachhaltigkeit sonst, wenn nicht durch
die Beschneidung klimaschädlicher Produkte und Praktiken? Johannes
Wallacher reflektiert über Freiheit und Nachhaltigkeit. Außerdem lesen Sie im Juli zwei Essays von Simon Krappmann („Kosmische Katze. Über Glauben und Logik“) und Klaus Mertes SJ („Die Letzte Generation“) sowie Rezensionen aus Geschichte & Biografie und Philosophie & Ethik. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und einen angenehmen Sommer Ihr
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| P. Stefan Kiechle SJ, Chefredakteur
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| Inhalt | |
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| | • | Christian M. Rutishauser SJ: Destruktives in der Seele |
| • | Dirk Fischer – Kerstin Schlögl-Flierl: Relationale sexuelle Selbstbestimmung |
| • | Klaus Mertes SJ: Der Fall Jean Vanier: Abgründe des Missbrauchs |
| • | Susanne Heine: Wahrheit, Lügen und seelische Turbulenzen |
| • | Benno Haunhorst: Falsche Helden |
| • | Klaus von Dohnanyi: Zum Todestag von Alfred Delp |
| • | Johannes Wallacher: Freiheit und Nachhaltigkeit – Partner oder Gegner? |
| • | Simon Krappmann: Kosmische Katze. Über Glauben und Logik |
| • | Klaus Mertes SJ: Die Letzte Generation |
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| Destruktives in der Seele | |
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| Editorial: Christian M. Rutishauser SJ
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eigene psychische Triebdynamik, wer kennt sie nicht! Vom
Internet-Surfen nicht loskom-men oder dem Alkohol frönen, obwohl
Vernünftigeres zu tun wäre. Sich in einen Feind verkrallen, ihm
nachtreten, obwohl es nur schadet und niemandem hilft. Schon immer hat
der Mensch versucht, diesen destruktiven Kräften der Seele auf die Spur
zu kommen. Die Asketen der Spätantike haben dazu ihren eigenen Leib zum
Laboratorium gemacht. In Syrien und Ägypten zogen sie in die Wüste und
übten in der Abgeschiedenheit Introspektion. Unerbittlich trieben sie
Selbsterkenntnis. Der Wüstenvater Antonius zum Beispiel beschrieb seine
inneren „Dämonen“. Auf dem Isenheimer Altar in Colmar ist er
dargestellt, wie Fratzen und Teufel an ihm herumzerren. Auch Salvador
Dalì malte den nackten Athleten, übergroßen Gebilden auf Stelzbeinen
ausgeliefert. Im
vierten Jahrhundert betrieb auch Evagrius Ponticus „Seelenarchäologie“.
Er ordnete und benannte die Kräfte, um sie zu bannen: Essgier,
zügelloser Sex und Habgier. Sie würden einem vitalen
Selbsterhaltungstrieb entspringen und sich selbstzerstörerisch
aufblähen. Nur Askese könne sie bändigen. Kräfte, die mehr dem
Zwischenmenschlichen schaden, seien Zorn, Neid und Ekel an der Welt, der
von Antriebslosigkeit über Sinnkrise bis zu Depression führen kann. Der
Wille sei oft zu schwach, dagegen anzukämpfen. Evagrius empfiehlt,
auszuhalten und nachzuspüren, aus welchen Quellen diese Dynamiken
kommen. Werden sie angenommen, beginnen sie sich aufzulösen. Schließlich
nennt er Eitelkeit und Stolz, die dem Leben im Wege stünden. Davon
könne sich der Mensch nicht selbst befreien. Würde es ihm gelingen, wäre
er wieder stolz auf sich. Daher müsste der Mensch letztlich befreit
werden. Solche
Lehren zur Seele wurden oft in Klöstern weitergegeben. In der
Bevölkerung aber hat sich eine Charakterlehre durchgesetzt. Die Kirche
sprach von sieben Todsünden. Heute spricht die Psychoanalyse von der
Libido, dem Willen zur Macht und dem Überlebenstrieb. Durch sie geraten
die Menschen in rivalisierende Konflikte. Ohne Verletzungen und
Projektionen, Sich-Verlieren an Objekte und angstvolles Kleben an ihnen,
reift und entwickelt sich aber kein Mensch. Die
bürgerliche Gesellschaft hat den Lastern Tugenden entgegengesetzt:
Fleiß gegen Faulheit, Demut gegen Stolz, Geduld gegen Zorn, Mäßigung
gegen Essgier, Keuschheit gegen Unzucht, Mildtätigkeit gegen Habsucht,
Wohlwollen gegen Neid. Sie forderte Persönlichkeitsbildung. Heute geht
es wohl mehr um Selbstoptimierung. Mit dem streitbaren Nachbarn streitet
man dennoch. Eine Portion Internetsucht gehört zu einem Single. Geiz
ist geil, und Flugreisen, sei es zum Shoppen in London oder für Ferien
auf Bali, gehören zum Lifestyle, auch wenn die Klimaerwärmung zunimmt. Mehr
noch: Die Ideologie des ungebremsten Wirtschaftswachstums wertet die
Triebe um. Sie fördert die alten Laster: Neid belebt das Geschäft und
weckt Bedürfnisse, die der Markt stillen kann. Die Pornoindustrie macht
Rekordumsätze. Noch einen Adventsverkauf und den Black Friday dazu, um
die Habgier anzustacheln. Auch überzogene Boni und Löhne scheinen
legitim. Die Faulen lassen ihr Geld an der Börse arbeiten. Kurz: Gier,
Unzucht, Neid usw. werden nicht mehr als destruktiv gesehen, sondern in
den Dienst von Erfolg und Wohlstand gestellt. Schon Giambattista Vico (†
1744) schrieb, man müsse Grausamkeit, Gier und Ehrgeiz in nationaler
Verteidigung, Handel und Politik nutzen und dadurch eine wohlhabende und
funktionierende Gesellschaft schaffen. Die Umwertung alter Todsünden in
legitime Interessen scheint heute akzeptiert zu sein. Sie ist zur
Grundlage der westlichen Welt geworden. Mag
der Einzelne in der säkularen, individualistischen Gesellschaft
entlastet worden sein – die destruktiven Kräfte sind damit nicht
verschwunden. Sie sind auf das Kollektiv übertragen worden. Gier und
Neid werden nach außen gelenkt, wenn sich ein Volk im Krieg auf einen
Feind stürzt. Im Inneren einer Gesellschaft werden sie durch
Bürokratisierung kontrolliert. Vor allem ist die Vergesellschaftung der
Triebe global zu spüren. Sie zeigte sich in der schamlosen
Kolonialisierung und Ausbeutung ganzer Kontinente. Heute äußert sich
ihre tödliche Wirkung in einem beispiellosen Artensterben und in
klimatischen Katastrophen. Es hat sich in Tat und Wahrheit eine
Auslagerung von Lastern in Strukturen und undurchschaubare Prozesse
ereignet. Und da wundert sich noch jemand, wenn Flüchtlinge aus fernen
Ländern kommen und ihren Anteil zurückverlangen? Und Klimaaktivisten
müssen sich rechtfertigen, wenn sie der Gesellschaft den Spiegel
vorhalten! Wenn
nicht Therapie, so braucht doch jede Seele Selbsterkenntnis und Arbeit
an der eigenen Innerlichkeit. Wer sich ihr verweigert, lässt den
destruktiven Kräften nicht nur freien Lauf. Er wälzt ihre Energie auf
andere ab. Schließlich zahlt immer jemand den Preis für ihre
gesellschaftliche Auslagerung und ihre ideologische Rechtfertigung.
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