| Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
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| Die Ampelkoalition hat sich im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, „Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch
außerhalb des Strafgesetzbuches“ prüfen zu wollen. Klaus Mertes SJ
befürchtet in seinem neuen Editorial (s.u.), dass der bisherige
rechtliche Kompromiss – verboten, aber in Ausnahmen straffrei – abgelöst
wird. Mit der Streichung von § 218 aber werde „dem ungeborenen Kind der
Schutz seines Lebensrechtes und damit der Schutz seiner Würde
entzogen“.
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| Die Themen im Mai: Der Kampfbegriff „Identitätspolitik“
wird gebraucht, um entweder eine Verfalls- oder eine
Fortschrittsgeschichte zu erzählen, um die eigenen politischen Meinungen
zu rechtfertigen. Patrick Zoll SJ erläutert, warum solche Narrative
unterkomplex sind: sowohl das konservative kulturpessimistische
Verfallsnarrativ als auch die liberale progressive
Fortschrittsgeschichte. In Frankreich sind die politische Rechte und der kirchliche Konservativismus
eng miteinander verbunden. Yann Raison du Cleuziou warnt vor dieser
Entwicklung, die auch in anderen Teilen Europas und der Welt um sich
greift. Die indigene Naturphilosophie und Spiritualität
führt uns unsere ethische Verantwortung gegenüber der Schöpfung vor
Augen, schreibt Barbara Schellhammer. Im Kampf gegen den Klimawandel
müssen wir die Fähigkeit zu hören wiedererlernen: auf den Schrei der
Natur ebenso wie auf Kulturen, die massiv unter der Folgen einer
brutalen Kolonialisierung leiden. Drei Jahre Synodaler Weg:
Bernhard Emunds zieht Bilanz und wirbt für weiteres Engagement im Sinne
des kürzlich beendeten Synodalen Wegs in Deutschland, auch gegen
mögliche Widerstände aus Rom oder aus den Reihen der deutschen Bischöfe. 60 Jahre Maria Regina Martyrum
in Berlin-Plötzensee: Kerstin Wittmann-Englert beschreibt die besondere
Architektur der Kirche, die zum Gedächtnis an die Blutzeugen für
Glaubens- und Gewissensfreiheit im Nationalsozialismus errichtet wurde. Inflation, steigende Energiepreise oder Lebensmittelknappheit: Die von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufene „Zeitenwende“ hat etwas in unserem Inneren verändert, schreibt Joachim Valentin. Der Autor entwickelt eine Theologie des Mangels. Außerdem lesen Sie im Mai einen Essay von mir („Lehre der Kirche“) sowie Rezensionen aus Politik & Gesellschaft. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre Ihr
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| P. Stefan Kiechle SJ, Chefredakteur
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| Inhalt | |
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| | • | Klaus Mertes SJ: Paragraf 218 in der Diskussion |
| • | Patrick Zoll SJ: Identitätspolitik und katholische Weltanschauung. Eine kritische Annäherung |
| • | Yann Raison du Cleuziou: Rechtsruck des französischen Katholizismus |
| • | Barbara Schellhammer: Indigenes Wissen. Ein kritisches Korrektiv unseres Verhältnisses zur Natur |
| • | Bernhard Emunds: Drei Jahre Synodaler Weg. Eine Zwischenbilanz |
| • | Kerstin Wittmann-Englert: Gebaute Abstraktion. Die Architektur von Maria Regina Martyrum |
| • | Joachim Valentin: Alles knapp. Überlegungen zu einer Theologie des Mangels |
| • | Stefan Kiechle SJ: Lehre der Kirche |
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| Paragraf 218 in der Diskussion | |
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| Editorial: Klaus Mertes SJ
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| SPD,
Grüne und FDP haben im Koalitionsvertrag vereinbart, eine Kommission
zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin
einzusetzen. Sie soll „Regulierungen für den Schwangerschaftsanspruch
außerhalb des Strafgesetzbuches“ prüfen. Familienministerin Lisa Paus
(Grüne) trat in den ersten Tagen des neuen Jahres erneut mit der
Forderung an die Öffentlichkeit, § 218 aus dem Strafgesetzbuch zu
streichen. Frauen, die eine Abtreibung vornähmen, dürften nicht länger
stigmatisiert werden. Politischen Rückenwind hat diese Position seit dem
24. Juni 2022, dem Tag, an dem die Ampelkoalition zusammen mit der
Linken im Bundestag mit klarer Mehrheit für die Streichung von § 219a –
Verbot der „Werbung“ für Schwangerschaftsabbrüche – stimmte. Die
geplante Kommission ist als ein Projekt von Familien-, Justiz- und
Gesundheitsministerium unter der Federführung des Gesundheitsministers
angelegt. Die Kommissionsmitglieder, die sich mit der Abschaffung von §
218 befassen sollen, sind bereits ausgewählt. Ob und wie sie sich mit
dem Prüfauftrag zu Themen der Reproduktionsmedizin beschäftigen soll,
scheint noch offen zu sein. Aus dem Bundesjustizministerium heißt es,
dass es dazu eine gesonderte Arbeitsgruppe geben soll. Das entspricht
dem Anliegen von Justizminister Marco Buschmann (FDP). Er steht
einerseits dem Versuch skeptisch gegenüber, das Lebensschutzkonzept des
Bundesverfassungsgerichtes infrage zu stellen, nicht nur aus
juristischen, sondern auch aus politischen Gründen. Es war dieser
Kompromiss, der hierzulande eine polarisierende Entwicklung der Debatte
um die rechtliche Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen verhinderte.
Niemand wünscht sich eine Lagerbildung entlang der Pro-Choice und
Pro-Life-Linien, wie sie in den USA inzwischen alle anderen Themen
überlagert. Andererseits drängt die FDP bei den Themen der
Fortpflanzungsmedizin, bei „nichtkommerziellen“ Leihmutterschaften,
Embryonenspenden, Eizellenspenden etc. Die damit verbundenen ethischen
und politischen Fragen sind ebenfalls hochsensibel. Eine Mehrheit für
Neuregelungen in diesem Bereich ist bei SPD und Grünen nicht gesichert.
Es ist also ein Interessenskonflikt absehbar. Es wäre mehr als schade,
wenn in derart grundlegenden Fragen am Ende bloß ein Deal herauskommen
würde, um den Erfolg der Arbeit einer Kommission zu sichern und um damit
einen Gesichtsverlust der Ampelkoalition zu vermeiden. Das Risiko
besteht, weil der Prüfauftrag an die Kommission Fragestellungen
zusammenzubinden versucht, die zu unterscheiden sind. In
einem jüngsten Beitrag hat Hubert Wissing, bis vor kurzem
Geschäftsführer im Bundesverband von donum vitae e.V., die Argumentation
des Bundesverfassungsgerichtes von 1993 noch einmal dargestellt (StdZ
12/2022). Er macht drei Paradoxien fest, die den bis heute geltenden
Kompromiss von 1995 tragen. Erstens wird der Schwangerschaftsabbruch
unter Strafandrohung verboten und zugleich straffrei gestellt. Zweitens
geht der Kompromiss darauf ein, dass eine Schwangere allein schon wegen
des Rechtes auf körperliche Unversehrtheit nicht gezwungen werden kann,
ein ungeborenes Kind auszutragen, woraus paradoxerweise folgt, dass die
Austragung des Kindes dann am meisten Chancen hat, wenn die Zustimmung
der Schwangeren freiwillig erfolgt und gerade nicht auf Grund von
Strafandrohung. Und schließlich ließ das Bundesverfassungsgericht dem
Gesetzgeber Spielräume. Der Gesetzgeber räumte daraufhin dem
reproduktiven Selbstbestimmungsrecht der Frau im Falle der medizinischen
Indikation (Gefahr für das Leben der Frau) oder auch der
kriminologischen Indikation (Schwangerschaft nach Vergewaltigung)
Vorrang vor dem Lebensschutz ein. Er griff auch den Aspekt des
präventiven Lebensschutzes durch die Einführung der verpflichtenden
Beratung auf – auch zum Schutz der Schwangeren davor, von Dritten zur
Abtreibung gedrängt zu werden. Beraterinnen, die in diesem Kontext im
Sinne des Gesetzgebers beraten, ziehen seither die Pfeile von allen
Seiten auf sich – sowohl von denen, die die Beratungspflicht für einen
Zumutung halten, als auch von denjenigen, die den Schein, der nach der
Beratung ausgestellt wird, als „Lizenz zum Töten“ diffamieren. Kompromisse
beruhen auf der Fähigkeit, unauflösbare Spannungen zu ertragen. Sie
haben die Schwäche, dass die Zustimmung zu ihnen oft nur eine geringe
Halbwertszeit hat. Deswegen ver-pflichtete das Bundesverfassungsgericht
den Gesetzgeber auch, „den rechtlichen Anspruch des ungeborenen Lebens
im allgemeinen Bewusstsein zu erhalten und zu beleben.“ Dreißig Jahre
später scheint die Bundesregierung diesem Anspruch nicht mehr nachkommen
zu wollen. Vielleicht setzt sie sogar darauf, dass es hierzulande gar
nicht zu einer Polarisierung kommen wird, weil das allgemeine
Bewusstsein für das Lebensrecht des ungeborenen Kindes zurückgegangen
ist. Wie auch immer: Für die Kirchen ist das alles bitter. Denn keine
rhetorische Verbrämung wird von der Tatsache ablenken können, dass mit
der Streichung von § 218 StGB dem ungeborenen Kind der Schutz seines
Lebensrechtes und damit der Schutz seiner Würde entzogen wird.
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