HAWK-Wissenschaftlerinnen befragen im Rahmen einer Studie
Betroffene nach Hürden, Hilfsangebote anzunehmen
Dr. habil. Gitta Scheller (Bild),
Verwaltungsprofessorin an der HAWK-Fakultät Soziale Arbeit und
Gesundheit, und Studentin Lisa Dauer haben jetzt in einer Studie mit
Betroffenen unter anderem in Hildesheim und Hannover untersucht, ob
das funktioniert. Ihre Ergebnisse sind ernüchternd: „Der Zugang zu
den Hilfsangeboten und ihre Nutzung sind durch eine Vielzahl von
Hürden erschwert. Der Anspruch, niedrigschwellige Arbeit zu leisten
und deren Einlösung in der Praxis klaffen auseinander“, sagt
Scheller.
„In unserer explorativen Studie war uns wichtig,
die Wirkung der Angebote aus der Perspektive der Nutzer und
Nutzerinnen zu untersuchen. So haben wir Menschen qualitativ befragt,
die auf Angebote der Wohnungslosenhilfe, der Opferhilfe und der Tafel
angewiesen sind“, beschreibt Gitta Scheller Ziel und Vorgehensweise
der Studie. Das Ergebnis: Menschen haben auf den vielfältigsten
Ebenen Hürden zu überwinden, die es so nicht geben sollte. Wer bei
der Opferhilfe nur den Anrufbeantworter erreiche, lege den Hörer
wieder auf und melde sich womöglich nie wieder. Wer als Frau Gewalt
durch einen Mann - oder umgekehrt - wer als Mann Gewalt durch eine
Frau erfahren habe, möchte sich lieber einem/einer Sozialarbeiter/in
des eigenen Geschlechts anvertrauen. Ein weiteres Thema war die
fehlende Anonymität. In einem Büro, in dem mehrere
Sozialarbeiter/innen gleichzeitig Beratungen mit Klient/inn/en
durchführen, sei eine vertrauliche Atmosphäre eben nicht
gewährleistet.
Laut Scheller und Dauer bestand eine weitere
Barriere darin, dass die Inanspruchnahme von Hilfen mitunter Gefühle
der Beschämung auslöste. Was zum Beispiel der Fall ist, wenn
Betroffene Sozialarbeiterinnen oder Sozialarbeiter um Geld bitten
müssen. Aber auch die Orte der Hilfe rückten in den Fokus: die
Ausstattung von Tagestreffs oder Übernachtungsmöglichkeiten.
Nutzerinnen und Nutzer, die wenig Geld hätten, hätten vielfach ganz
andere Vorstellungen von der Gestaltung eines Tagestreffs für
Wohnungslose oder einer Tafel als jene, die die Einrichtung
konzipiert haben.
Die Nutzer/innen schätzten Zweckmäßigkeit,
Funktionalität und Sauberkeit. Stattdessen sähen sie sich auch mal
mit „verwanzten“ Matratzen in Schlafunterkünften, „versifften“
Toiletten, grellem Licht, ungemütlichen Großküchen oder langen
Tischen für viele und ohne Rückzugsmöglichkeiten konfrontiert. Das
aber irritiere Bedürftige, die sich als ‚normal‘ verstünden und
‚normal‘ bleiben wollten. Die Interviewten bewerteten die
Gestaltung von Einrichtungen als Fremdsicht der Professionellen auf
sich: als verwahrloste Menschen, die kein Feingefühl, keinen
Geschmack hätten und denen das alles nichts (mehr) ausmachen würde.
Gitta Scheller dazu: „Die Geschmacksdiskrepanzen scheinen nach
unseren Interviews umso größer zu sein, je niedriger die soziale
Position der Nutzenden ist.“
Die Studie zeigt weiter, dass
der Anspruch der Zielgruppenoffenheit, das heißt allen Bedürftigen
den Zugang zum Beispiel zu den Tagestreffs zu ermöglichen, auch zu
Konflikten zwischen den verschiedenen Nutzergruppen führen kann: den
„Hartalkis“, Drogenabhängigen und jenen, die sich als „normal“
definieren. Träfen Letztere zum Beispiel in den Tagestreffs der
Wohnungslosenhilfe auf Nutzende mit antisozialem Verhalten, die auch
mal dealen, klauen und schreien, würden sie daran gehindert, ihr
Selbstwertgefühl als ‚normal‘ aufrecht zu erhalten. Für sie
würden Einrichtungen der niedrigschwelligen Sozialen Arbeit mit
diesem Publikum zu unattraktiven Orten.
Im Ergebnis zeige die
Studie, dass es eine Vielzahl von Hürden gebe, fasst Scheller
zusammen: „Niedrigschwellige Soziale Arbeit ist nach unseren
Befunden eine Illusion. Die Hilfsangebote müssen stärker als bisher
an den Bedürfnissen, den kulturellen Kompetenzen und Praktiken der
Nutzenden orientiert sein, wenn sie angenommen werden sollen.“
Sabine zu Klampen Presse- und
Öffentlichkeitsarbeit
HAWK
Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst, Fachhochschule
Hildesheim/Holzminden/Göttingen
Wenn Hilfsangebote zum Beispiel Beschämung auslösen, dann ist es
unwahrscheinlich, dass sie angenommen werden. Sie verpuffen. Das gilt
besonders bei Menschen, die das soziale Netz bisher nicht auffangen
konnte, wie Wohnungslose, Menschen mit hoher Überschuldungsintensität
oder Drogenabhängige. Dabei sind sie in besonderer Weise auf Hilfen
angewiesen, gerade weil sie bisher nicht erreicht werden konnten. Um
dies zu ändern hat sich die so genannte niedrigschwellige Soziale
Arbeit zum Ziel gesetzt, es Betroffenen möglichst leicht zu machen,
sich helfen zu lassen.
Mitteilung des idw – Informationsdienst Wissenschaft am
06.11.2018
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