Donnerstag, 19. Dezember 2019

Sind Hassreden der Grund für knappe Wahlausgänge?

Sind Hassreden – also feindselige politische Botschaften – der Grund für die zuletzt häufiger beobachteten knappen Ausgänge von Wahlen und Abstimmungen? Führt die zunehmende Polarisierung in politischen Auseinandersetzungen „automatisch“ zu einem Kopf-an-Kopf Rennen? Wissenschaftler des Instituts für Theoretische Physik der Universität Bremen um Professor Stefan Bornholdt haben diese Zusammenhänge jetzt in einem physikalisch inspirierten Modell nachgewiesen.


Es ist auffällig: Zahlreiche Wahlen und Referenden der vergangenen Jahre haben sehr knappe Ausgänge gehabt, etwa die amerikanische Präsidentschaftswahl 2016 oder die Brexit-Entscheidung im selben Jahr. Zur gleichen Zeit gibt es eine zunehmende Polarisierung der politischen Lager – die Positionen werden radikaler, der Ton schärfer, die Auseinandersetzungen emotionaler. Gibt es zwischen beiden Entwicklungen einen Zusammenhang? „Unseren Ergebnissen nach ja“, sagt Professor Stefan Bornholdt vom Institut für Theoretische Physik der Universität Bremen. „Die wichtigste Erkenntnis unserer Forschungen: Je mehr politische Botschaften geäußert werden, die potentiell abstoßend wirken können, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es bei der Entscheidung einen knappen Ausgang gibt.“ Publiziert haben die Bremer Physiker ihre Resultate jetzt in der größten und ältesten Physikzeitung der Welt, der Physical Review der Amerikanischen Physikalischen Gesellschaft.

Mit Soziophysik menschliches Verhalten erklären

Bornholdt und seine Kollegen forschen unter anderem auf dem Gebiet der sogenannten Soziophysik. Diese beschreibt und erklärt die Gesetzmäßigkeiten im Verhalten großer Menschenmassen mit den Methoden der Physik. Im Fall der knappen Wahlausgänge griffen die Bremer Forscher auf die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie zurück, auf der das sogenannte „Wählermodell“ (Voter Model) beruht. „Dieses „Wählermodell“ ist dem physikalischen Modell der Ausrichtung magnetischer Atome sehr ähnlich“, erläutert der Hochschullehrer. „Wir haben es deshalb genommen, um die auffällig engen Entscheidungen in politischen Fragen zu untersuchen und mögliche Gründe dafür zu finden.“

Wählermodell bildet die Grundlage

Das „Wählermodell“ setzt voraus, dass es nur zwei Meinungen zu einem Sachverhalt gibt – beispielsweise dem Wahlprogramm einer Partei: Zustimmung oder Ablehnung. „In diesem Modell treffen zwei Personen aufeinander. Durch einen Münzwurf wird nun entschieden, welche der beiden Meinungen sich durchsetzt.“ Das heißt: ob sich Person A von Person B überzeugen lässt oder aber bei seiner ursprünglichen Meinung bleibt, ist Zufall. „Das ist eines der einfachsten mathematischen Modelle, die es gibt“, sagt Bornholdt. „Das Interessante dabei ist: Wenn man dieses Aufeinandertreffen und das zufällige ‚Sich-entscheiden‘ der Personen lange genug wiederholt, verschwindet irgendwann die eine Meinung – und die andere gewinnt.“ Beim Wählermodell handele sich um ein extrem einfaches aber auch robustes Modell: „Immer setzt sich genau eine der beiden Meinungen durch, bloß welche der beiden sich durchsetzt ist Zufall.“ Im Mode-Bereich beispielsweise funktioniere es ähnlich und liefere einen Hinweis darauf, warum sich im „Kampf der Farben“ in einer Saison die Farbe Grün und in der nächsten Aschgrau durchsetzt.

Brexit-Umfragen aus sieben Jahren untersucht

„Wir haben uns nun die Umfragen aus sieben Jahren um die Brexit-Entscheidung am 23. Juni 2016 angeschaut. Während zu Beginn die Zahlen der Vertreter der Meinungen pro und contra Austritt noch weit auseinanderlagen – zunächst mit einer Mehrheit für den Austritt – näherten sich die Mehrheitsverhältnisse im Meinungsbildungsprozess nach zwei Jahren dann immer mehr an.“ Das wunderte Bornholdt und Kollegen: Nach dem Wählermodell hätte sich eine der beiden Meinungen langfristig durchsetzen müssen, „in der Realität nicht 100:0 wie beim Modell, aber 70:30 oder so ähnlich.“

Auffällig bei den Brexit-Umfragen: Neben der Tatsache, dass die beiden politischen Lager meist ungefähr gleich groß waren, gab es ein ungewöhnlich großes Potenzial an Unentschlossenen. „Im Modell haben wir nun diese Tatsache berücksichtigt und einen mittleren Zustand „Unentschlossen“ hinzugefügt und zwei weitere Möglichkeiten eingebaut, die Meinung zu wechseln. Einerseits bekamen Menschen, die sich schon entschieden hatten, jetzt die Möglichkeit, an der eingenommenen Meinung wieder zu zweifeln und zurück in das Lager der Unentschlossenen zu gehen. Andererseits haben wir der Beobachtung Rechnung getragen, dass die Auseinandersetzung mit immer härteren Bandagen geführt wurde“, erläutert der Physiker. Leidenschaftliche Debatten, Dämonisierung der Gegenmeinung, persönliche Angriffe – all dies sei in Großbritannien zu beobachten gewesen. Für die amerikanische Präsidentschaftswahl gelte letztlich das gleiche.

Abstoßend wirkende Botschaften ins Modell integriert

Deshalb wurde in das Modell auch eingearbeitet, dass ausgetauschte Meinungen abstoßend wirken können, einen Angesprochenen also geradezu ins gegnerische politische Lager treiben können, statt ihn für die eigene Sache zu gewinnen. „Wenn wir nun die Zahl der so abstoßend wirkenden ausgetauschten Meinungen im Modell kontinuierlich erhöhen, gibt es plötzlich einen kritischen Wert: Wenn 25 Prozent oder mehr der ausgetauschten Meinungen abstoßend wirken, gibt es keinen Gewinner mehr.“ Wenn also die politischen Botschaften so provokant sind, dass sie in mehr als jedem vierten Fall in Wahrheit den politischen Gegner stärken, ist ein knapper Ausgang der Entscheidung nach den Berechnungen der Bremer Forschungsgruppe sehr wahrscheinlich.

„Das Wählermodell hat dann einen Phasenübergang und ein komplett anderes Verhalten“, sagt Stefan Bornholdt. „Wenn man es unter diesen Bedingungen lange genug laufen lässt, kommt am Ende annähernd eine 50:50-Entscheidung heraus.“ Die Schlussfolgerung: Je mehr „Hate speech“ über einen längeren Zeitraum in der Debatte eingesetzt wird, desto wahrscheinlicher ist eine scharfe Polarisierung bei annähernd gleicher Größe der beiden Lager. „Dieser Effekt, den wir an einem einfachen Modell im Computer studiert haben, kann unserer Meinung nach auch im realen Leben auftauchen und eine Erklärung für die geschehenen knappen Wahl- und Referendumsausgänge sein.“

Modelle zeigen mögliche Wirkungen

Immer wieder zeigen die Experten aus dem Institut für Theoretische Physik mit ihren Modellierungen, dass von Menschen entworfene Regulierungen im Alltag unter Umständen mehr Wirkung als nur die ursprünglich beabsichtigte entfalten. So hat die Gruppe um Bornholdt am ITP herausgefunden, dass der seit 2010 vorgeschriebene Einbau von „Intelligenten Stromzählern“ in Neubauten und bei grundsanierten Gebäuden womöglich nicht nur die Einsparung von Strom zur Folge hat. Aufgrund der Nachfrage nach Strom zu bestimmten Zeiten könne es am Strommarkt – wie an der Börse – auch Blasen geben, die zu temporären Überlastungen des Netzes und damit „Blackouts“ führen könnten. In einer anderen Studie wiesen die Wissenschaftler nach, dass das mehrfache Verändern des Benzinpreises an einem Tag insgesamt für ein höheres Preisniveau sorgt.

Kai Uwe Bohn Hochschulkommunikation und -marketing
Universität Bremen
Weitere Informationen:

Sebastian M. Krause, Fritz Weyhausen-Brinkmann, Stefan Bornholdt: „Repulsion in controversial debate drives public opinion into fifty-fifty stalemate” (Abstoßung in kontroverser Debatte treibt die öffentliche Meinung in ein 50:50-Patt), Physical Review E 100 (2019) 042307. https://journals.aps.org/pre/abstract/10.1103/PhysRevE.100.042307

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