Dienstag, 30. November 2021

 

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Stimmen der Zeit
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
 
Mit dem Dezemberheft beschließen wir ein weiteres Jahr, das von der Pandemie geprägt ist. Wir, die Redaktion, bedanken uns bei allen, die uns als Autorinnen und Autoren oder als Leserinnen und Leser schätzen und unterstützen. Wir hoffen, dass einige der vergangenen Beiträge Ihnen etwas geistige Nahrung sein konnten, und dass Sie alle gesund in den Advent kommen. Diese Zeit der Einkehr und Hoffnung ist geprägt von einer unvorstellbaren Utopie: der Ankunft Christi – sei es, um auf Erden Mensch zu werden, oder sei es am Ende der Zeiten, um nach großen Umwälzungen Gottes Reich aufzurichten. Zur Apokalypse bringen wir in diesem Heft einige anregende Beiträge.
Stefan Kiechle SJ
Die Themen im Dezember:
 
Nun hat der Skandal also die Kirche in Frankreich erreicht. Dass es sexuellen und geistlichen Missbrauch auch dort gegeben hat, überraschte viele. War denn nicht vorherzusehen, dass nach, Irland, den USA, Deutschland und Polen auch andere Länder sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen haben? Klaus Mertes SJ erklärt in seinem Editorial (s.u.), weshalb das nicht so einfach ist: „Proaktiv kann man sich vielleicht ein wenig auf die Erschütterung vorbereiten. Aber vorwegnehmen lässt sie sich nicht. Das gehört zum Ernst der Erschütterung.“
 
Stefan Kiechle SJ fragt, ob eine arme Kirche den Menschen nicht besser dienen könne als eine reiche. Dazu untersucht er den Armutsbegriff und entwickelt Gedanken zur Spiritualität und Praxis der Armut, auch aus dem Geist der Orden.
 
Am 15. Mai 2022 wird Charles de Foucauld heiliggesprochen. Jakob Paula zeichnet das Leben und Wirken des „Bruders aller“ nach, der vom Lebemann und Offizier zum Einsiedler und Missionar unter Muslimen und Beduinen wurde.
 
Genesis 1 neugelesen: Georg Steins und Marianne Heimbach-Steins erklären, inwieweit die Schöpfungserzählung „von einer zentralen politisch und ethisch geprägten Hintergrundmetapher geprägt ist“, die auch heute sehr brisant ist.
 
Das himmlische Jerusalem ist eine Utopie des Zusammenlebens aller Menschen mit Gott. Auch auf Erden gibt es Projekte zur Verwirklichung, selbst architektonische. Margareta Gruber OFM beschreibt die apokalyptische Vision des Johannes als „Blaupause“ dafür.
 
Am 23. Dezember 2021 kommt Matrix 4 in die deutschen Kinos. Philipp Adolphs entschlüsselt die markantesten religiösen Symbole dieses „Epos des Digitalzeitalters“, dessen ersten Teile nicht nur neue Maßstäbe für das Action- und Science-Fiction-Genre setzten.
 
Trauer und Liebe, zwei grundlegende Bedingungen menschlicher Existenz, sind untrennbar miteinander verbunden. Knut Wenzel unternimmt Streifzüge durch Literatur, Psychologie, Theologie und Mystik und beschreibt Trauer als eine Gestalt der Liebe.
 
Außerdem lesen Sie im Dezember einen Essay von Thomas Sojer (Vom Habitat der Sterblichkeit) sowie Rezensionen aus Wissenschaft & Bildung.
 
Ihr
P. Stefan Kiechle SJ, Chefredakteur
 
Heft 12, Dezember 2021:
Stimmen der Zeit - Aktuelles Heft
 
Inhalt
Klaus Mertes SJ: Erschütterung in Frankreich
Stefan Kiechle SJ: Arme Kirche
Jakob Paula: Bruder Karl – Bruder aller. Zur Heiligsprechung Charles de Foucaulds
Georg Steins / Marianne Heimbach-Steins: Alles in Ordnung? Eine kosmo-politische Lektüre von Genesis 1
Margareta Gruber OSF: Das Himmlische Jerusalem. Architektur gewordene Hoffnung für die Menschlichkeit
Philipp Adolphs: Wach auf! Die Matrix-Trilogie als Ideengeschichte der Religionen
Knut Wenzel: Das Unvergessliche. Mystik trauernder Liebe
Thomas Sojer: Wo bist Du? Wo ist Dein Bruder? Vom Habitat der Sterblichkeit
 
Aus dem aktuellen Heft:
Erschütterung in Frankreich
Editorial: Klaus Mertes SJ 
 
Ein Bischof erzählte mir einmal, wie es ist, wenn sein Bistum in den Schlagzeilen steht, weil Miss-brauch ans Tageslicht kommt. Dann nähern sich die Kollegen während der Vollversammlung der Bischofskonferenz, klopfen ihm bedauernd auf die Schultern und sagen: „Du armer Kerl, bei dir ist ja etwas los!“ Da kann er nur erwidern: „Aus der Tatsache, dass bei dir nichts ans Tageslicht kommt, lässt sich nicht folgern, dass bei dir nichts los ist, mehr noch: Es macht mit Sorgen, dass bei dir noch nichts ans Tageslicht gekommen ist.“
 
Im November 2018, zwei Monate nach Veröffentlichung der MHG-Studie in Deutschland, gab die französische Bischofskonferenz die Gründung einer unabhängigen Kommission in Auftrag. Ihr Vor-sitzender, der ehemalige Richter Jean-Marc Sauvé, legte nun am 5.10.2021 seinen Bericht vor: Seit 1950 wurden zwischen 2900 und 3200 Missbrauchstäter (Priester, Ordensleute und kirchliche Mit-arbeiter) festgestellt. Die MHG-Studie hatte für Deutschland mindestens 1670 Beschuldigte (mehr-heitlich Priester) ermittelt, sowie 3677 Betroffene. Sauvé ermittelte nun die immense Zahl von mehr als 300.000 betroffenen Kindern und Jugendlichen. Die niedrigeren Betroffenen-Zahlen in der MHG-Studie ergeben sich lediglich aus der Tatsache, dass sie als „Hellfeldstudie“ angelegt war, die per definitionem nur tatsächlich belegte Verdachtsfälle aufnimmt. Die französische Kommission entschied sich hingegen für eine „Dunkelfeldstudie“. 28.000 Personen wurden befragt, um die Be-troffenenzahlen mit statistischen Wahrscheinlichkeitsrechnungen auf die gesamte Bevölkerung hochzurechnen. Jörg Fegert, der ärztliche Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiat-rie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm, hatte 2019 bereits eine ebenfalls sechsstellige Zahl von wahrscheinlich Betroffenen in Deutschland errechnet.
 
Zur Interpretation der Zahlen im Detail lohnt es sich, das Interview der Katholischen Nachrich-tenagentur vom 13.10.2021 mit Harald Dreßing, Leiter der MHG-Studie, nachzulesen. Grundsätzlich bleibt festzuhalten: Die französische Bischofskonferenz beauftragte mit Sauvé eine hoch anerkannte Person des öffentlichen Lebens und ließ ihr völlig freie Hand, die Kommission zusammenzustellen. Sie hatte Zugang zu allen Archiven in den Diözesen. Mit ihren finanziellen Mitteln konnte sie selbst wis-senschaftliche Studien vergeben. So bleiben der französischen Studie unwürdige Debatten – wie die um die 2012 abgesagte Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer – sowie Verdächtigungen wegen ungenügender Unabhängigkeit erspart. Auch für das Feindbild eines gegen die Kirche wütenden Jakobiners eignet sich Sauvé nicht. Im Interview mit La Croix äußerte er sich am 1.6.2018 zu seiner kirchlichen Herkunft: „Meine Eltern waren beide sehr gläubig und sehr offen für andere. Sie haben ihren Glauben und ihre Praxis nicht von der Präsenz in der Welt getrennt, in der Solidarität und Nächstenliebe gelebt und erfahren werden.“
 
Zahlen hin oder her – spätestens jetzt ist das Thema des Missbrauchs in Frankreich und in der französischen Kirche angekommen. Die ganze Wucht der Anklage kulminierte in den Worten von François Devaux, selbst Missbrauchsopfer und Gründer der Vereinigung „La Parole Libérée“: „Was Sie verstehen müssen, meine Herren, ist: Sie sind eine Schande für die Menschlichkeit.“ Mich erin-nern diese Worte an die Wucht der Anklage, die uns Jesuiten in Deutschland in Frühjahr 2010 traf. Da hat es keinen Zweck, zwischen angeklagtem System und angeklagter Person zu differenzieren, auf Sportvereine hinzuweisen oder über einzelne Täter oder damalige Personalverantwortliche zu schimpfen: Die Wucht der Anklage will gehört und ernst genommen werden. Sie geht über Einzel-personen hinaus. Was aus ihr für das Selbstverhältnis als Orden und als Kirche folgt, kann dann nur in einer wirklich tiefgehenden, unterscheidenden Reflexion erfolgen.
 
Manche in der Kirche werden nun mit Bedauern nach Frankreich schauen: „Die armen Franzo-sen, bei denen ist aber was los!“ Dabei hat es in den letzten Jahren an aufklärenden Publikationen über Missbrauch in der Kirche auch dort nicht gemangelt. Die Bereitschaft einer Gesellschaft, Berich-te über Missbrauch in ihrer grunderschütternden Bedeutung zur Kenntnis zu nehmen, scheint einem Gesetz des langsamen Wachstums zu unterliegen. Es kommen sozusagen kontrapunktisch mehrere Faktoren zusammen, bis die Blase platzt – in Frankreich zuletzt wohl auch der Bericht Camille Kouchners über den Missbrauch ihres Stiefvaters im Mitterand-Umfeld, der eine breite gesellschaft-liche Debatte in Frankreich auslöste. Weil die Erschütterung einer Nation nicht planbar ist, können andere Nationen auch nur begrenzt daraus lernen. Viele Ortskirchen und auch der Vatikan werden sich noch eines Tages die Augen reiben und fragen: „Wie konnten wir nur denken, dass das nur bei den anderen so ein großes ein Problem ist?“ Proaktiv kann man sich vielleicht ein wenig auf die Er-schütterung vorbereiten. Aber vorwegnehmen lässt sie sich nicht. Das gehört zum geistlichen Ernst der Erschütterung.
 
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