| Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
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| Mit
dem Dezemberheft beschließen wir ein weiteres Jahr, das von der
Pandemie geprägt ist. Wir, die Redaktion, bedanken uns bei allen, die
uns als Autorinnen und Autoren oder als Leserinnen und Leser schätzen
und unterstützen. Wir hoffen, dass einige der vergangenen Beiträge Ihnen
etwas geistige Nahrung sein konnten, und dass Sie alle gesund in den
Advent kommen. Diese Zeit der Einkehr und Hoffnung ist geprägt von einer
unvorstellbaren Utopie: der Ankunft Christi – sei es, um auf Erden
Mensch zu werden, oder sei es am Ende der Zeiten, um nach großen
Umwälzungen Gottes Reich aufzurichten. Zur Apokalypse bringen wir in
diesem Heft einige anregende Beiträge.
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| Die Themen im Dezember: Nun hat der Skandal also die Kirche in Frankreich erreicht. Dass es sexuellen und geistlichen Missbrauch
auch dort gegeben hat, überraschte viele. War denn nicht vorherzusehen,
dass nach, Irland, den USA, Deutschland und Polen auch andere Länder
sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen haben? Klaus Mertes SJ erklärt
in seinem Editorial (s.u.), weshalb das nicht so einfach ist: „Proaktiv
kann man sich vielleicht ein wenig auf die Erschütterung vorbereiten.
Aber vorwegnehmen lässt sie sich nicht. Das gehört zum Ernst der
Erschütterung.“ Stefan Kiechle SJ fragt, ob eine arme Kirche
den Menschen nicht besser dienen könne als eine reiche. Dazu untersucht
er den Armutsbegriff und entwickelt Gedanken zur Spiritualität und
Praxis der Armut, auch aus dem Geist der Orden. Am 15. Mai 2022 wird Charles de Foucauld heiliggesprochen.
Jakob Paula zeichnet das Leben und Wirken des „Bruders aller“ nach, der
vom Lebemann und Offizier zum Einsiedler und Missionar unter Muslimen
und Beduinen wurde. Genesis 1 neugelesen: Georg Steins und Marianne Heimbach-Steins erklären, inwieweit die Schöpfungserzählung „von einer zentralen politisch und ethisch geprägten Hintergrundmetapher geprägt ist“, die auch heute sehr brisant ist. Das himmlische Jerusalem ist eine Utopie des Zusammenlebens
aller Menschen mit Gott. Auch auf Erden gibt es Projekte zur
Verwirklichung, selbst architektonische. Margareta Gruber OFM beschreibt
die apokalyptische Vision des Johannes als „Blaupause“ dafür. Am 23. Dezember 2021 kommt Matrix 4
in die deutschen Kinos. Philipp Adolphs entschlüsselt die markantesten
religiösen Symbole dieses „Epos des Digitalzeitalters“, dessen ersten
Teile nicht nur neue Maßstäbe für das Action- und Science-Fiction-Genre
setzten. Trauer
und Liebe, zwei grundlegende Bedingungen menschlicher Existenz, sind
untrennbar miteinander verbunden. Knut Wenzel unternimmt Streifzüge
durch Literatur, Psychologie, Theologie und Mystik und beschreibt Trauer als eine Gestalt der Liebe. Außerdem lesen Sie im Dezember einen Essay von Thomas Sojer (Vom Habitat der Sterblichkeit) sowie Rezensionen aus Wissenschaft & Bildung. Ihr
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| P. Stefan Kiechle SJ, Chefredakteur
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| Inhalt | |
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| | • | Klaus Mertes SJ: Erschütterung in Frankreich |
| • | Stefan Kiechle SJ: Arme Kirche |
| • | Jakob Paula: Bruder Karl – Bruder aller. Zur Heiligsprechung Charles de Foucaulds |
| • | Georg Steins / Marianne Heimbach-Steins: Alles in Ordnung? Eine kosmo-politische Lektüre von Genesis 1 |
| • | Margareta Gruber OSF: Das Himmlische Jerusalem. Architektur gewordene Hoffnung für die Menschlichkeit |
| • | Philipp Adolphs: Wach auf! Die Matrix-Trilogie als Ideengeschichte der Religionen |
| • | Knut Wenzel: Das Unvergessliche. Mystik trauernder Liebe |
| • | Thomas Sojer: Wo bist Du? Wo ist Dein Bruder? Vom Habitat der Sterblichkeit |
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| Erschütterung in Frankreich | |
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| Editorial: Klaus Mertes SJ
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| Ein
Bischof erzählte mir einmal, wie es ist, wenn sein Bistum in den
Schlagzeilen steht, weil Miss-brauch ans Tageslicht kommt. Dann nähern
sich die Kollegen während der Vollversammlung der Bischofskonferenz,
klopfen ihm bedauernd auf die Schultern und sagen: „Du armer Kerl, bei
dir ist ja etwas los!“ Da kann er nur erwidern: „Aus der Tatsache, dass
bei dir nichts ans Tageslicht kommt, lässt sich nicht folgern, dass bei
dir nichts los ist, mehr noch: Es macht mit Sorgen, dass bei dir noch
nichts ans Tageslicht gekommen ist.“ Im
November 2018, zwei Monate nach Veröffentlichung der MHG-Studie in
Deutschland, gab die französische Bischofskonferenz die Gründung einer
unabhängigen Kommission in Auftrag. Ihr Vor-sitzender, der ehemalige
Richter Jean-Marc Sauvé, legte nun am 5.10.2021 seinen Bericht vor: Seit
1950 wurden zwischen 2900 und 3200 Missbrauchstäter (Priester,
Ordensleute und kirchliche Mit-arbeiter) festgestellt. Die MHG-Studie
hatte für Deutschland mindestens 1670 Beschuldigte (mehr-heitlich
Priester) ermittelt, sowie 3677 Betroffene. Sauvé ermittelte nun die
immense Zahl von mehr als 300.000 betroffenen Kindern und Jugendlichen.
Die niedrigeren Betroffenen-Zahlen in der MHG-Studie ergeben sich
lediglich aus der Tatsache, dass sie als „Hellfeldstudie“ angelegt war,
die per definitionem nur tatsächlich belegte Verdachtsfälle aufnimmt.
Die französische Kommission entschied sich hingegen für eine
„Dunkelfeldstudie“. 28.000 Personen wurden befragt, um die
Be-troffenenzahlen mit statistischen Wahrscheinlichkeitsrechnungen auf
die gesamte Bevölkerung hochzurechnen. Jörg Fegert, der ärztliche
Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiat-rie/Psychotherapie am
Universitätsklinikum Ulm, hatte 2019 bereits eine ebenfalls
sechsstellige Zahl von wahrscheinlich Betroffenen in Deutschland
errechnet. Zur
Interpretation der Zahlen im Detail lohnt es sich, das Interview der
Katholischen Nachrich-tenagentur vom 13.10.2021 mit Harald Dreßing,
Leiter der MHG-Studie, nachzulesen. Grundsätzlich bleibt festzuhalten:
Die französische Bischofskonferenz beauftragte mit Sauvé eine hoch
anerkannte Person des öffentlichen Lebens und ließ ihr völlig freie
Hand, die Kommission zusammenzustellen. Sie hatte Zugang zu allen
Archiven in den Diözesen. Mit ihren finanziellen Mitteln konnte sie
selbst wis-senschaftliche Studien vergeben. So bleiben der französischen
Studie unwürdige Debatten – wie die um die 2012 abgesagte Studie des
Kriminologen Christian Pfeiffer – sowie Verdächtigungen wegen
ungenügender Unabhängigkeit erspart. Auch für das Feindbild eines gegen
die Kirche wütenden Jakobiners eignet sich Sauvé nicht. Im Interview mit
La Croix äußerte er sich am 1.6.2018 zu seiner kirchlichen Herkunft:
„Meine Eltern waren beide sehr gläubig und sehr offen für andere. Sie
haben ihren Glauben und ihre Praxis nicht von der Präsenz in der Welt
getrennt, in der Solidarität und Nächstenliebe gelebt und erfahren
werden.“ Zahlen
hin oder her – spätestens jetzt ist das Thema des Missbrauchs in
Frankreich und in der französischen Kirche angekommen. Die ganze Wucht
der Anklage kulminierte in den Worten von François Devaux, selbst
Missbrauchsopfer und Gründer der Vereinigung „La Parole Libérée“: „Was
Sie verstehen müssen, meine Herren, ist: Sie sind eine Schande für die
Menschlichkeit.“ Mich erin-nern diese Worte an die Wucht der Anklage,
die uns Jesuiten in Deutschland in Frühjahr 2010 traf. Da hat es keinen
Zweck, zwischen angeklagtem System und angeklagter Person zu
differenzieren, auf Sportvereine hinzuweisen oder über einzelne Täter
oder damalige Personalverantwortliche zu schimpfen: Die Wucht der
Anklage will gehört und ernst genommen werden. Sie geht über
Einzel-personen hinaus. Was aus ihr für das Selbstverhältnis als Orden
und als Kirche folgt, kann dann nur in einer wirklich tiefgehenden,
unterscheidenden Reflexion erfolgen. Manche
in der Kirche werden nun mit Bedauern nach Frankreich schauen: „Die
armen Franzo-sen, bei denen ist aber was los!“ Dabei hat es in den
letzten Jahren an aufklärenden Publikationen über Missbrauch in der
Kirche auch dort nicht gemangelt. Die Bereitschaft einer Gesellschaft,
Berich-te über Missbrauch in ihrer grunderschütternden Bedeutung zur
Kenntnis zu nehmen, scheint einem Gesetz des langsamen Wachstums zu
unterliegen. Es kommen sozusagen kontrapunktisch mehrere Faktoren
zusammen, bis die Blase platzt – in Frankreich zuletzt wohl auch der
Bericht Camille Kouchners über den Missbrauch ihres Stiefvaters im
Mitterand-Umfeld, der eine breite gesellschaft-liche Debatte in
Frankreich auslöste. Weil die Erschütterung einer Nation nicht planbar
ist, können andere Nationen auch nur begrenzt daraus lernen. Viele
Ortskirchen und auch der Vatikan werden sich noch eines Tages die Augen
reiben und fragen: „Wie konnten wir nur denken, dass das nur bei den
anderen so ein großes ein Problem ist?“ Proaktiv kann man sich
vielleicht ein wenig auf die Er-schütterung vorbereiten. Aber
vorwegnehmen lässt sie sich nicht. Das gehört zum geistlichen Ernst der
Erschütterung.
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