| Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
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| „An
Deutschlands Schulen wird andauernd herumgemessen und -gebastelt“, ohne
dass sich im Kern etwas bewegt. Das nervt Tobias Zimmermann SJ, Leiter
des Zentrums für Ignatianische Pädagogik in Ludwigshafen. In seinem
Editorial (s.u.) schildert er, weshalb Evaluationen und der Blick auf
den Notenschnitt allein noch nichts über die pädagogische Qualität
des Unterrichts sagen. Und er plädiert für eine Verschiebung des Fokus
weg von ökonomischen Interessen und messbarer Leistungsfähigkeit hin zur
freien Entfaltung, seelischen Gesundheit und sozialen Stabilität der
Schülerinnen und Schüler: Werte, die unter den corona-bedingten Schulschließungen gelitten haben.
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| Die Themen im November: Stephen Kings Horror-Werk „Needful Things“
ist ein komplexer Kampf zwischen Gut und Böse. Klaus Mertes SJ zeigt,
wie hier Ethik mit Theologie verbunden wird, im Gegenspiel von Schuld
und Sühne, Habgier und Kindersinn, Versuchung und Buße. Die christliche Idee der Apokalypse
ermahnt dazu, „jeden Wimpernschlag im Lichte der Ewigkeit Gottes zu
erhellen“. Jan Juhani Steinmann erläutert, wie der Mythos des Untergangs
im Neuen Testament zu einer hoffnungsvollen Botschaft wird. Der
biblische Schöpfungsbericht weist dem Menschen die Aufgabe zu, sich um
den gesamten Bestand der Schöpfung zu sorgen: Dabei wird er selbst zum „frei Schaffenden“, zur Künstlerin. Oder zu einer Art Partner Gottes? – fragt Georg Maria Roers SJ. Indigene
Kosmovisionen: Klaus Vellguth berichtet von der Tagung „Spirituality
and Theology and Creation“ im botswanischen Gaborone. Insbesondere indigene afrikanische Perspektiven liefern wertvolle Erkenntnisse für den Umgang mit der Schöpfung. Dostojewski wird am 11. November
200 Jahre alt. Jakob Paula zeigt, wie es ihm gelang, die Menschen so
ambivalent nachzuzeichnen wie sie sind: nie ganz rein, nie von Grund auf
böse. Besonders anschaulich wird das im Roman über die „Brüder
Karamasow“. Wie verhielten sich die Katholiken während der deutschen Reichsgründung vor 150 Jahren?
Klaus Schatz SJ zeichnet die Positionen von Liberalen, Nationalen und
Katholiken nach, insbesondere die Rolle des Mainzer Bischofs Freiherr
von Ketteler. Außerdem lesen Sie im November zwei Essays von Stefan Kiechle SJ (Christliche Werte ohne Glauben?) und Louisa Schmalz (Die Welt, ein Schattenwurf) sowie Rezensionen aus Theologie & Kirche. Ihr
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| P. Stefan Kiechle SJ, Chefredakteur
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| Inhalt | |
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| | • | Tobias Zimmermann SJ: Ist Schulqualität evaluierbar? |
| • | Klaus Mertes SJ: Theologie des Endkampfs. Zum Werk von Stephen King |
| • | Jan Juhani Steinmann: Das Ideal der Apokalypse. In der Mitte von Verderben und Licht |
| • | Georg Maria Roers SJ: Kopfkino ohne Ende. Mythen in Bibel, Epos und Drama |
| • | Klaus Vellguth: Indigene Kosmovisionen. Afrikanische Schöpfungsspiritualitäten im Dialog |
| • | Jakob Paula: Dostojewski ist mein Freund. Dichter der Krise |
| • | Klaus Schatz SJ: Katholiken und Reichsgründung. Das Ringen um Rechtsstaatlichkeit im Kulturkampf |
| • | Stefan Kiechle SJ: Christliche Werte ohne Glauben? |
| • | Louisa Schmalz: Die Welt, ein Schattenwurf |
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| Ist Schulqualität evaluierbar? | |
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| Editorial: Tobias Zimmermann SJ
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| An
Deutschlands Schulen wird andauernd herumgemessen und -gebastelt, um
dann weiter zu strei-ten. Das ist inzwischen für alle Beteiligten
ziemlich nervend. Der Eindruck verfestigt sich, dass sich im Kern nichts
bewegt. Vielleicht streiten wir zu viel über Ergebnisse von
Evaluationen, nicht aber über deren Prämissen. Bevor
ich gleich in den Chor der Kritiker über Pisa & Co. einstimme,
möchte ich vorausschicken: Sie haben Debatten angestoßen und die Arbeit
an unseren Schulen wohltuend verändert. Auch die Schule, zu der ich als
Jugendlicher ging, behauptete, wie so viele, besonders gut zu sein.
Festgemacht wurde das am Durchschnittsergebnis der Absolventen. Das sagt
über die Qualität der pädagogischen Arbeit aber herzlich wenig. Bis
heute behandeln zwar Presse und manche Eltern den guten „Abitur-schnitt“
von Schulen noch immer als entscheidendes Indiz, wo der Bildungsgral zu
finden ist, der Kindern eine erfolgreiche Karriere eröffnet. Denen
aber, die es wissen wollen, haben die letzten Jahrzehnte die Augen dafür
geöffnet, wie sehr schulischer Erfolg immer noch abhängt vom
Bil-dungsgrad der Eltern und deren Möglichkeiten, ihre Kinder zu
unterstützen. Als ich in die Oberstufe kam, hatten bereits erschreckend
viele meiner Mitschüler die Anstalt verlassen. Qualität bestand nicht in
dem Anspruch, allen Schülern gute Chancen auf Bildung zu eröffnen.
Stattdessen richtete sich der Anspruch schulischer Exzellenz vielmehr an
die jungen Leute: Sie wurden über den Erwar-tungsdruck von Eltern und
schulischer Institution diszipliniert oder – gehässig gesagt – auf ein
be-stimmtes Modell von Leistungs- und Selbstoptimierungsideologie
„dressiert“. Ausgestorben ist dieses zynische Modell von „Elitenbildung“
leider immer noch nicht. Jede
Evaluation beginnt bei der Definition der Ziele. Woran aber erkennen
wir eine gute Schule? In einer repräsentativen, bundesweiten Befragung,
die das Allensbach-Institut für das Zentrum für Ignatianische Pädagogik
2020 durchgeführt hat, gaben 61% der Befragten an, dass „Schulen zur
Persönlichkeitsbildung beitragen sollten, da Kinder dort einen Großteil
ihrer Zeit verbringen“. Und eine Mehrheit von 44% der Befragten fand,
Persönlichkeitsbildung, also zu lernen, sein Leben als selbstständiger
und verantwortungsbewusster Mensch zu gestalten, sei sogar eine
Hauptaufgabe von Schule. 41% der Befragten dagegen waren der Meinung,
die Schule solle primär Wissen und Fertigkeiten vermitteln. Was sagen
uns diese Ergebnisse? Sie
zeigen: Eine stabile Mehrheit in Deutschland, auch über die Jahre
stabil, erwartet von Schulen Persönlichkeitsbildung. Ebenso stabil ist
der Eindruck, dass Schulen dieser Erwartung eher nicht nachkommen
(wollen oder können?). Die Befragung zeigt auch: Wir haben keinen
gesellschaftlichen Konsens über die Ziele von Schulbildung. Genau
darüber täuscht aber die pompöse, öffentliche Vergabe von Zensuren an
unsere Schulen seit Jahrzehnten hinweg: „Deutschlands Schulen stehen im
weltweiten Leistungsvergleich nur noch auf Platz …“ Sie kennen das! Es
wird die Aura verströmt, „Schulqualität“ messen zu können, angeblich
objektiv, d.h. unabhängig von den persönlichen Er-wartungen, und im
Falle von PISA sogar weltweit, d.h. unabhängig vom kulturellen Kontext.
Sollten aber Schulen in einer offenen Gesellschaft wirklich an denselben
Qualitätskriterien, also Zielen, ge-messen werden, die für die
schulische Sozialisation in autoritären Staaten gelten? Natürlich nicht!
Wo aber findet der Diskurs statt, welche Qualitätskriterien wir an
unsere Bildung anlegen wollen? Ja, lässt sich in einer von Diversität
geprägten Gesellschaft überhaupt noch ein Kanon an Zielen festle-gen?
Wenn nicht, dann müssten wir über allgemeinverbindliche Mindeststandards
und über die Freiheit von Schulen reden, subsidiär für ihren sozialen
und kulturellen Kontext Ziele zu definieren. Mein Eindruck: Das tun
nicht wenige Schulen bereits erfolgreich. Vor allem dort, wo starke
Leitungen oder freie Träger es ermöglichen. Und dann oft gegen den
Widerstand von Staat und Bildungsver-waltungen, denen eine kulturelle
Vielfalt im Schulsystem ein Dorn im Auge ist; und gegen die Schwerkraft
der Überfüllung von Bildungsplänen, die wenig Raum lassen, um aus den
Routinen des Abarbeitens auszusteigen, nach Zielen von Bildung zu fragen
und die eigene Arbeit zu evaluieren. Natürlich
gehört zu guten Schulen guter Unterricht. Was aber sollte guter
Unterricht erreichen? Relative Einigkeit herrscht darüber, dass Schulen
bestimmte Fertigkeiten vermitteln sollten. Entspre-chend gaben immerhin
71% der Befragten in der genannten Studie an, dass Schulen sich aus
ihrer Sicht um die Vermittlung von Rechtschreibung und Grammatik mühten.
Es ist verständlich, dass für Eltern, denen es um den sozialen Aufstieg
ihrer Kinder geht, in der Schule Ausbildung im Zentrum steht, also die
Förderung von Fertigkeiten, die für ein berufliches Fortkommen wichtig
sind. Immer-hin 50% der Eltern erwarten aber auch, dass junge Menschen
in der Schule lernen, selbstständig zu denken. Nur erschreckende 20% der
Befragten gaben aber an, dass sie erkennen können, dass Schulen sich
auch darum bemühen. Braucht unser Land mit den Herausforderungen, vor
denen wir stehen, nicht Menschen, die gelernt haben, sich unabhängig ein
vernünftig begründetes Urteil zu bilden und Verantwortung zu
übernehmen? Wo aber lernen junge Menschen das, wenn nicht an der Schule? Nur,
lässt sich messen, wie Menschen Denken lernen? Lesen z.B. beschreibt
Jorge Luis Borges als Denken mit fremden Gehirnen. Dieser Anspruch
entlarvt die ganze Armseligkeit eines primär funkti-onalistischen Blicks
auf Lesen und Denken, der allein die Lesekompetenzen zum
Qualitätskriterium macht, die sich in Vergleichsprüfungen empirisch
überprüfen lassen. Empirie schadet unseren Quali-tätsdebatten nicht.
Geboten wäre aber ein wenig Demut. Messbar sind Techniken oder
Fertigkeiten, die Grundlage von Bildung sind, mehr nicht. Zu den
glücklichen Bildungserlebnissen meiner Schulzeit gehört der Unterricht
eines Deutschlehrers, der mir eine Idee davon vermittelte, was es heißt,
selbst-ständig zu denken. Dass auch bei ihm Mitschüler lieber die
„Bravo“ lasen, hat ihn frustriert. Es öffnet den Blick für eine weitere
Dimension der Komplexität: Im Kern beruht Bildung auf der Freiheit des
Individuums, sich bilden zu wollen. Deswegen können Auskunft darüber, ob
die Förderung von Bildung an Schulen gelingt, primär die geben, um die
es gehen sollte: Schülerinnen und Schüler. Und auch sie können es in
fairer Weise oft erst mit Abstand. Deswegen hat das Zentrum für
Ignatianische Pädagogik, als es gemeinsam mit dem Sinus-Institut ein
Werkzeug entwickelte, mit dem Schulen ihre Arbeit im Blick auf die
Förderung junger Menschen als Person evaluieren können, nicht zuletzt
das Urteil ehemaliger Schülerinnen und Schüler einbezogen. Die
Entwicklung unserer Schulen ist getrieben von ökonomischen Interessen
und der Sorge um die Leistungsfähigkeit der „Bildungsnation“
Deutschland. Deswegen wird die Qualität von Schulen beschränkt auf
funktionalistische Kriterien gesehen. Die Folge: Es wurde gar nicht
wahrgenommen, was die durch die Corona-Pandemie verursachten
Schulschließungen für das soziale Leben, für die Entfaltung und die
seelische Gesundheit von Schülerinnen und Schülern bedeuteten. Ständig
redu-zierte sich die ganze Debatte auf Lernrückstände und
Betreuungsfragen. Am Ende zahlen den menschlichen Preis für die
Eindimensionalität unseres Blicks auf Bildung die Kinder und
Jugendlichen.
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