Freitag, 29. Oktober 2021

 


Pressemitteilung
Bundestagspräsidentin Bas dringt auf rechtzeitige Wahlrechtsreform

Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 1. November 2021) –  bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –

Die neue Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) dringt auf eine rechtzeitige Reform des Wahlrechts zur Begrenzung der Abgeordnetenzahl. Sie warte die Koalitionsverhandlungen ab, weil sie gehört habe, dass diese Frage auch Thema in diesen Gesprächen werden soll, sagte Bas der Wochenzeitung „Das Parlament“. Sie werde sich dann anschauen, wie die Vorschläge aussehen und was die Fraktionen vorlegen. Wenn das aber nicht stattfinde oder sie merke, dass es zu lange dauert, müsse die vom letzten Bundestag im April eingesetzte Kommission zur Reform des Wahlrechts wieder eingerichtet werden. „Wir müssen das in dieser Legislatur rechtzeitig machen – und nicht erst kurz bevor die nächste Wahl vor uns steht“, betonte die Parlamentspräsidentin.

Dabei wisse sie, wie schwierig das ist, fügte Bas hinzu. Wenn man die Zahl der direkt gewählten Abgeordneten verringern wolle, müsse man die Wahlkreise vergrößern. Das sei  ein Problem, wenn man gleichzeitig auch Bürgernähe wolle, und entsprechend immer ein Streitpunkt zwischen den Fraktionen gewesen. Für die Parteien, deren Abgeordnete vorwiegend über die Listen ins Parlament kommen, sei das nicht maßgeblich. Es werde also eine Mischung aus mehreren Maßnahmen geben müssen, um die Zahl der Abgeordneten wirksam zu begrenzen.

Das Interview im Wortlaut:

Frau Präsidentin, bei der Bundestagswahl im September konnten Sie noch nicht ahnen, dass Sie an der Spitze des neuen Parlaments stehen werden. Waren Sie überrascht, als Sie merkten, dass diese Aufgabe auf Sie zukommen könnte?
Ja, schon – auch wenn mein Name und andere vorher schon in den Medien genannt worden waren. Ich bin seit 2009 im Bundestag, habe viele Jahre Erfahrung als Parlamentarische Geschäftsführerin und kenne das Innenleben des Parlaments sehr gut. Aber dass ich nun sogar dessen Präsidentin sein würde, kam überraschend für mich und freut mich sehr.

Mit dem Amt der Bundestagspräsidentin sind viele Erwartungen verbunden. Wo sehen Sie sich in diesem Amt besonders gefordert?
Der neue Bundestag ist total jung und vielfältig aufgestellt. Ich möchte das nutzen – was im Übrigen auch ein Anliegen vieler neuer Abgeordneter ist –, um die Arbeitsweise des Parlaments zu modernisieren, digitaler zu werden, für weitere Transparenz und Bürgernähe sorgen. Bürgernähe betrifft auch die Sprache, die wir hier verwenden. Sie muss verständlich sein, damit die Menschen Entscheidungen nachvollziehen können. Vielleicht kann man dazu außerdem das Format der Bürgerräte, das es ja schon gibt, noch ausbauen oder ergänzen.

Sie haben ja schon in Ihrer Antrittsrede für eine neue Sprache der Politik plädiert, mit der die Menschen wieder besser erreicht werden sollen. Wo genau hapert es denn da derzeit in Ihren Augen?
Zum Beispiel daran, dass wir im Plenum oft Fachbegriffe benutzen oder Abkürzungen, die die Menschen nicht verstehen. Ich musste mir das selbst als Gesundheitspolitikerin abgewöhnen, zum Beispiel „GKV“ für „Gesetzliche Krankenversicherung“ zu sagen. Nicht jeder, der da zuhört, weiß auf Anhieb, was damit gemeint ist. Man steckt als Fachpolitiker in der speziellen Materie und setzt zu leicht voraus, dass jeder die Abkürzungen oder Begriffe kennt, die wir benutzen. Deshalb ist mein Appell an die Abgeordneten, sehr Fachliches trotz der knappen Redezeit zu erklären. Das klingt nach Kleinigkeiten, aber die machen viel aus. Entscheidend für die Akzeptanz ist, dass Politik von den Bürgerinnen und Bürgern verstanden wird.

Mit mehr Bürgernähe wollen Sie auch Menschen erreichen, die sich von der Politik schon lange nicht mehr angesprochen fühlen. Wie soll das etwa in Duisburg-Marxloh in Ihrem Nachbar-Wahlkreis gehen, wo die Wahlbeteiligung im September bei 40 Prozent lag?
Da fühlten sich viele nicht angesprochen, in diesem Wahlkreis haben viele Menschen einen Migrationshintergrund, es gibt oft Sprachbarrieren – das führt zu einer gewissen Scheu. Man muss diese Scheu nehmen, sich mit Politik zu befassen oder auf Abgeordnete zuzugehen. Deshalb ist die Arbeit der Parlamentarier im Wahlkreis so ungeheuer wichtig, oder Formate wie die Wanderausstellung und die Infomobile des Bundestages, die auf Marktplätzen und in Fußgängerzonen über die Arbeit des Parlaments informieren, häufig mit den Abgeordneten vor Ort. Man muss sich auch fragen, wie man Zielgruppen erreicht, die mit einer Broschüre nicht erreicht werden. Jugendliche etwa lesen keine Tageszeitung, die informieren sich ganz anders, häufig über soziale Medien. Der Bundestag ist da inzwischen sehr aktiv mit Informationen über Twitter, einem eigenen Youtube-Kanal und Erklärvideos, eigenen, interaktiven Seiten für Jugendliche und Kinder. Die Nutzung dieser Angebote hat enorm zugenommen, und das lässt sich digital sicher noch weiter modernisieren, um all diese Gruppen zu erreichen.

In Duisburg, zu dem auch ihr Wahlkreis gehört, weiß man, was Strukturwandel bedeutet. Welche solcher Erfahrungen, auch mit den sozialen Folgen, lassen sich bei der angestrebten ökologischen und digitalen Transformation des Landes nutzen?
Es ist den Leuten schon klar, dass sich etwas verändern muss, allein wenn sie sehen, wie Wetterextreme zunehmen. Aber die meisten haben schon jetzt Angst, dass sie dabei die Verlierer sind und – wie man so sagt – der kleine Mann am Ende seine Arbeit nicht mehr hat. Bei mir im Wahlkreis sorgen sich die Menschen, dass sie ihr altes Auto wegen der steigenden Benzinpreise nicht mehr fahren und sich erst recht kein neues kaufen können. Viele alte Leute haben Angst, dass sie im Winter mit der Decke in der Wohnung sitzen müssen, weil sie die Heizung nicht mehr bezahlen können. Da müssen wir deutlich erklären, dass wir das nicht zulassen werden. Die Notwendigkeit, diese Menschen mitzunehmen und ihre Sorgen in die Politik zu transportieren, ist entscheidend. Von manchem Strukturwandel fühlen sich die Menschen überrollt. Ein Beispiel: Wenn man Stahlunternehmen auf Wasserstoff umstellt, wird es dort andere Berufe geben. Es reicht aber nicht, nur die Technik umzustellen, sondern man muss auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dabei mitnehmen – und zwar rechtzeitig durch Umschulung und Weiterbildung und indem man ihnen die Sorgen vor einem Arbeitsplatzverlust nimmt.

Noch einmal zurück zu Ihrer Wahl zur Bundestagspräsidentin: Mit Ihnen und vier Stellvertreterinnen sind mehr Frauen denn je im Präsidium...
Dass es jetzt mal einen sichtbaren Schub für mehr Frauen auch in Führungsfunktionen gegeben hat, finde ich sehr gut. Und dass jetzt mal mehr Frauen als Männer im Präsidium sind, finde ich gar nicht schlimm. Es war ja viele Jahrzehnte genau umgekehrt.

Auch der Frauenanteil im Parlament insgesamt ist wieder auf mehr als ein Drittel gestiegen. Halten Sie das für ausreichend?
Wenn es nach mir ginge, wäre das große Ziel, dass wir irgendwann zu halbe-halbe kämen. Aber das liegt am Wahlrecht, an der Aufstellung der Wahlkreiskandidaten und der Frage, wer gewählt wird. Bei mir in Duisburg gibt es zwei Wahlkreise, und da haben wir gesagt, dass in einem Wahlkreis eine Frau und im anderen ein Mann kandidiert. Wenn es aber nur einen Wahlkreis gibt, geht das nicht.

Das betrifft die direkt in den Wahlkreisen gewählten Abgeordneten. In Brandenburg und Thüringen wurden Paritätsgesetze für verfassungswidrig erklärt, mit denen die Parteien verpflichtet werden sollten, ihre Listenplätze abwechselnd mit Männern und Frauen zu besetzen. Sehen Sie darin trotzdem einen möglichen Ansatz?
Ich bin keine Juristin, aber ich glaube, dass es schon Sinn macht, wenn es tatsächlich zu einer Verpflichtung kommt, dass zumindest die Landeslisten so aufgestellt werden. Die SPD macht die Listenaufstellung schon von sich aus immer im Reißverschlussverfahren Frau/Mann. Deshalb ist bei den Parteien, die das schon länger paritätisch handhaben, der Frauenanteil viel, viel höher. Ich würde mir wünschen, dass es uns auch rechtlich gelingt, in Zukunft für alle Parteien zu verankern, dass dieses paritätische Verfahren möglich wird.

Über die Zusammensetzung des Bundestages wird auch sonst gerne diskutiert, etwa bei der Klage, dass Akademiker im Parlament zu sehr unter sich seien. Ist solche Kritik berechtigt?
Natürlich sollte das Parlament nach Möglichkeit alle gesellschaftlichen Gruppen und Berufsgruppen widerspiegeln, aber das wird nie ganz gelingen. In der Tat haben wir nicht so viele Abgeordnete mit „normalen Berufen“, und es gibt auch den oft kritisierten Weg vom Hörsaal in den Plenarsaal. Auf der anderen Seite stehen wir dafür, dass viele Menschen nach Möglichkeit einen hohen Bildungsgrad erreichen können. Das spiegelt sich dann auch im Parlament wider. Ich finde das nicht schlecht oder schlimm, aber ich fände es natürlich gut, wenn sich mehr Menschen mit anderen Berufen, mit dualer Ausbildung beispielsweise, im Parlament wiederfinden. Das Ziel muss doch sein, dass sich dies mehr Leute zutrauen, die dann auch Lust haben, ihre Zeit in politisches Engagement zu stecken. Mich fragen viele Schulklassen, wie ich das gemacht habe. Ich habe ja eine ganz normale duale Ausbildung, ein paar Weiterbildungen und mich zunächst nebenbei politisch engagiert. Ich sage den Schülerinnen und Schülern dann immer: Ihr seht ja an mir, dass es geht – ihr müsst euch nur trauen.

Wie weit muss das Parlament Ihrer Ansicht nach überhaupt die Zusammensetzung der Bevölkerung widerspiegeln? Es wird ja auch argumentiert, dass es beispielsweise nicht unbedingt Rentner im Parlament braucht, um die Interessen von Rentnern zu vertreten.
Wir sind uns sicher einig, dass das Parlament nie alles abbilden kann. Das wäre eine Illusion. Die Abgeordneten müssen alle in der Lage sein, sich in andere Lebenswelten hineinzufinden und sie nachzuvollziehen. Viele sind in ihren Wahlkreisen sehr verankert und reden mit allen Gruppierungen, mit allen Bürgerinnen und Bürgern. Diese Erfahrungen in das Parlament mitzunehmen, ist die Kunst, dafür muss man nicht immer zwingend selbst aus einer bestimmten Gruppe kommen.

Viel Streit gibt es seit Jahren über die Größe des Bundestages. Wird die im April eingesetzte Kommission zur Reform des Wahlrechts erneut eingesetzt, um Vorschläge zu einer Reduzierung der Mandatszahl zu erarbeiten, und hoffen Sie da auf konsensfähige Empfehlungen?
Ich warte die Koalitionsverhandlungen ab, weil ich gehört habe, dass diese Frage auch Thema in diesen Gesprächen werden soll. Ich werde mir dann anschauen, wie die Vorschläge aussehen und was die Fraktionen vorlegen. Ich habe sie öffentlich aufgefordert, das jetzt zu machen, und finde es daher gut, dass die drei Parteien das Thema auf die Tagesordnung ihrer Koalitionsverhandlungen gesetzt haben. Wenn das aber nicht stattfindet oder ich merke, dass es zu lange dauert, dann muss die Kommission zur Reform des Wahlrechts wieder eingerichtet werden, finde ich. Wir müssen das in dieser Legislatur rechtzeitig machen – und nicht erst kurz bevor die nächste Wahl vor uns steht.

Es gibt ja zahlreiche Vorschläge zur Verkleinerung des Parlaments, etwa über eine Reduzierung der Wahlkreise oder eine Begrenzung des Ausgleichs von Überhangmandaten, die eine Partei hat, wenn sie mehr Direktmandate gewinnt als ihrem Zweitstimmenergebnis entspricht. Sehen Sie einen Königsweg?
Ich kenne viele Vorschläge und weiß, wie schwierig das ist. Ich bin zum Beispiel in meinem Wahlkreis direkt gewählt, und wenn man die Zahl der direkt gewählten Abgeordneten verringern will, muss man die Wahlkreise vergrößern. Das ist ein Problem, wenn man gleichzeitig auch Bürgernähe will, und war entsprechend immer ein Streitpunkt zwischen den Fraktionen. Für die Parteien, deren Abgeordnete vorwiegend über die Listen ins Parlament kommen, ist das nicht maßgeblich. Es wird also eine Mischung aus mehreren Maßnahmen geben müssen, um die Zahl der Abgeordneten wirksam zu begrenzen.

Auch wenn die Zusammensetzung des Parlaments dann nicht exakt den Zweitstimmenergebnis der Parteien entspricht?
Ja. Weil wir sonst irgendwann bei 800 oder auch 900 Abgeordneten landen. Diese Entwicklung braucht einen Deckel. Die kleineren Parteien finden es naturgemäß nicht gerecht, wenn dieser Ausgleich vor allem zu ihren Lasten beschnitten wird. Das ist der Konflikt, und es ist Aufgabe der Fraktionen, da einen Kompromiss zu finden.

SPD, Grüne und FDP wollen das Wahlalter für Bundestags- und Europawahlen auf 16 Jahre senken. Wie realistisch ist das angesichts der dabei notwendigen Zweidrittelmehrheit für eine entsprechende Grundgesetzänderung?
Ich persönlich bin für die Absenkung, habe aber schon gehört, dass die Union dem wahrscheinlich nicht zustimmen wird. Deshalb weiß ich nicht, wie realistisch es ist, dafür eine Mehrheit zu finden. Vielleicht kann man die Kolleginnen und Kollegen in der Unionsfraktion überzeugen; auch dort sind Jüngere dazugekommen und sorgen vielleicht für einen Meinungsumschwung. Man muss aber auch auf Argumente der Gegner eingehen: Wenn die Volljährigkeit erst ab 18 Jahren gilt, kann ich verstehen, wenn gefragt wird, warum man dann schon ab 16 Jahren den Bundestag wählen können soll. Da muss man miteinander besprechen, wie das zusammengeht.


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