Donnerstag, 3. November 2022

 

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Stimmen der Zeit
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
 
Große Reiche sind immer gescheitert, das zeigt ein Blick in die Geschichte. Das Reich Roms scheiterte an innerem Zerfall. Das Reich Karls des Großen zerfiel mit dessen Tod. Im Kolonialismus wollten europäische Mächte ihre Imperien ausweiten, mit viel militärischer, kultureller und auch religiöser Gewalt – die Folgen sind bis heute sichtbar und drängen danach, aufgearbeitet zu werden. Jesus von Nazareth setzte dem entgegen: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei Euch aber soll es nicht so sein“ (Mt 20,25).
Stefan Kiechle SJ
Die Kirchen aber beteiligten sich oft an imperialistischen Systemen, derzeit dient sich die Spitze der russischen Orthodoxie Putin an. Lernen Christen nichts aus der Geschichte? Mehr darüber lesen Sie in meinem neuen Editorial.
 
Die Themen im November:
 
Neustart für die Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs: Lars Castellucci MdB, Beauftragter für Kirchen und Religionsgemeinschaften der SPD, fordert „mehr Verbindlichkeit, mehr Tempo und endlich Konsequenzen“.
 
Sexuelle Bildung in Schulen oder in kirchlichen Einrichtungen erfolgt oft in Kooperation mit Vereinen. Einige davon präsentieren ihre Programme als christlich motiviert. Martin Blay setzt sich kritisch mit den Angeboten auseinander.
 
Die Fortschritte der modernen Quantenphysik haben das Verständnis von Materie (und was sie zusammenhält) auf den Kopf gestellt. Ausgehend von der Frage, was mit dem Leib und der Seele Verstorbener geschieht, untersucht Norbert Scholl die theologischen Konsequenzen.
 
Im Osten Deutschlands beobachtet Thomas Pogoda eine zunehmend marginalisierte katholische Kirche in einer säkularen Mehrheitsgesellschaft. Wie können die wenigen verbleibenden Christen Zeugnis geben von der Frohen Botschaft?
 
Warum brauchen wir Priester? Seit dem Synodalen Weg steht die Frage im Raum, ob es überhaupt weiterhin ein Sakrament der Priesterweihe geben soll. Klaus Mertes SJ gibt Antworten auf Basis der Bibel und benennt Aufgaben für die Priesterausbildung.
 
Am 6. November jährt sich der Tod des Komponisten Heinrich Schütz zum 350. Mal. Der kursächsische Hofkapellmeister nimmt einen überragenden Rang in der Geschichte der Kirchenmusik ein, wie Stefan Klöckner von der Folkwang-Universität der Künste begründet.
 
Was macht der Krieg mit Dichtern und was machen Dichter mit dem Krieg? Philipp Adolphs zeigt, auch anhand ukrainischer Beispiele, wie Kriege die Art zu schreiben wesentlich beeinflussten. Gleichzeitig beeinflusst die Lyrik ihre Leser: zum Guten aber auch zum Schlechten.
 
Außerdem lesen Sie im November einen Essay von Klaus Mertes SJ (Aufregung um Karl May) sowie Rezensionen aus Theologie & Kirche, Politik & Gesellschaft.
 
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre
 
Ihr
 
P. Stefan Kiechle SJ, Chefredakteur
 
Heft 11, November 2022:
Stimmen der Zeit - Aktuelles Heft
 
Inhalt
Lars Castellucci: Aufarbeitung. Mehr Verbindlichkeit, mehr Tempo und endlich Konsequenzen
Martin Blay: Zwischen Korrelation und Konfrontation. Christlich orientierte Programme sexueller Bildung
Norbert Scholl: Wo sind die Toten? Gedanken zu Allerseelen
Thomas Pogoda: Verflochtene Wirklichkeit. Zur Sakramentalitätder Konfessionsfreien im Osten Deutschlands
Klaus Mertes SJ: Wozu brauchen wir Priester?
Stefan Klöckner: Der Musicus poeticus. Zum 350. Todestagvon Heinrich Schütz
Philipp Adolphs: Lyrik im Krieg. Zwischen Traumabewältigung und Propaganda
Klaus Mertes SJ: Aufregung um Karl May
 
Aus dem aktuellen Heft:
Vom Ende der Imperien
Editorial: Stefan Kiechle SJ 
 
„Reich“ – von keltisch -rig (Macht); lateinisch imperium – meint eine Herrschaftsordnung und ein Herrschaftsgebiet. Im Heiligen Römischen Reich sprach man von „Kaiser und Reich“ und meinte damit den Herrscher und die von ihm abhängenden Völker. Ein Reich – im positiven Sinn – wird geleitet mit Autorität und Recht, und es übt im doppelten Sinn Gewalt aus: durch staatliche Befugnis und durch physischen Zwang, wo dieser zur Erhaltung der Ordnung nötig ist. In aller Regel verspricht ein Reich, Frieden durchzusetzen gegen Chaos.
 
Schaut man jedoch in die Geschichte, so sind Reiche immer gescheitert; wenige Beispiele mögen genügen: Das römische Imperium vergrößerte sich über Jahrhunderte mit viel Gewalt, es beherrschte fremde Völker und unterjochte sie – Palästina zur Zeit Jesu ist nur ein Beispiel unter vielen; das Reich Roms scheiterte an innerem Zerfall, und in das Machtvakuum drangen fremde Völker ein und versuchten, neue Imperien zu errichten. Oder: Karl der Große versuchte, auch mit Gewalt – man denke nur an die „Sachsenmission“ – ein neues römisches Reich zu errichten; mit seinem Tod zerfiel es. Oder: Karl V., wieder mit dem Traum des Imperium Romanum, versuchte, mit vielen Kriegen sein Riesenreich als katholisches zusammenzuhalten, gegen die Irrlehren der Zeit und gegen die Zersplitterung Europas; noch vor seinem Tod scheiterte er. Auch im Kolonialismus wollten europäische Mächte ihre Imperien mit außereuropäischen Gebieten ausweiten und auf diese Weise zu Weltmächten aufsteigen, mit viel militärischer und kultureller, ja auch mit religiöser Gewalt; die grausigen Folgen sind bis heute sichtbar und drängen danach, aufgearbeitet zu werden. Das 20. Jahrhundert überbietet alle vorigen nochmals an imperialen Schrecken: Der Nationalsozialismus versprach ein „Tausendjähriges Reich“ und kollabierte nach zwölf Jahren im Inferno der Shoa und des Weltkrieges. Der Kommunismus sowjetischer Prägung ermordete weitere Millionen Menschen und zerfiel nach wenigen Jahrzehnten.
 
Imperien haben den Hang zur Herrenvolk-Ideologie, zur internen Gewalt gegen jedwede Opposition und zur stetigen Expansion. Sie vereinnahmen ihr Volk und die ihnen unterworfenen Völker. Sie wollen Hegemonie erringen, denn sie fühlen sich bedroht durch Nachbarn, über die sie keine Kontrolle haben; deshalb haben sie einen Hang zur Weltbeherrschung. Sie behaupten eine Ideologie der höheren Moral oder Kultur oder Religion – oder gar Rasse – des eigenen Volkes, mit welcher sie „zu Recht“ Nachbarvölker erobern und beherrschen wollen. Sie konstruieren ihr Geschichtsnarrativ, um damit Expansion und Unterdrückung zu rechtfertigen. Dass imperiales Denken regelmäßig wiederkehrt, zeigt derzeit Russland. Man muss kein Prophet sein, um zu sagen, dass es scheitern wird wie alle Imperien zuvor.
 
Vor 2000 Jahren spielte Jesus von Nazareth auf das römische Imperium an: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei Euch aber soll es nicht so sein…“ (Mt 20,25 f.). Allzu oft in der Geschichte war es jedoch genau „so“: Die Kirchen glichen sich dem Imperiumsgedanken an. Sie stellten sich den Imperien zu Verfügung, schon dem römischen Reich unter Konstantin, auch den Reichen Karls des Großen und Karls V., ähnlich im Kolonialismus, im Kommunismus. Einige Christen unterstützten selbst die Nazis. Derzeit dient sich die Spitze der russischen Orthodoxie Putin an. Hoftheologen sind nicht verlegen, die passende religiöse Ideologie vorzutragen und das Imperium theokratisch zu rechtfertigen. Kirchenfürsten schämen sich nicht, Imperien zu beweihräuchern und sich in ihrem Reichtum und Glanz zu sonnen. Lernen Christen nichts aus der Geschichte?
 
Warum können die Völker, Ethnien und Religionen nicht in Frieden miteinander leben? Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs definierte die Weltgemeinschaft das Selbstbestimmungsrecht der Völker als grundlegend. Das Christentum ist einerseits kein Reich dieser Welt; es hält Distanz zur staatlichen Macht, auch dann, wenn diese die Menschenrechte und das Völkerrecht respektiert und umsetzt. Umso mehr verurteilt es andererseits Unrecht und Ausbeutung, Gewalt und Krieg. Es verneint Imperien, die arrogant sind und lügnerisch, religiös intolerant und hegemonial, autoritär und expansiv. Christen warten auf Gottes Reich, das alle irdischen Reiche überwinden und Gerechtigkeit und Frieden schaffen wird.
 
Das Gegenmodell des Imperiums wäre der Verbund von Völkern, etwa die Europäische Union: Völker bilden frei und aus eigenem Willen – im Wortsinn demokratisch – Staaten; dabei können auch mehrere Völker oder Volksgruppen gemeinsam einen Staat bilden. Sodann schließen sich mehrere Staaten frei zusammen, um sich gegenseitig zu unterstützen und nach außen gemeinsam aufzutreten. Neue Staaten können sich dem Verbund anschließen, umgekehrt können Mitglieder auch wieder austreten. Kein Staat in der Staatenunion dominiert den anderen. Gewalt wird sowohl in jedem Staat wie auch im Verbund der Staaten geteilt, rechtsstaatlich begrenzt und kontrolliert. Imperien mögen vergehen. Staatengemeinschaften stehen für eine Vision, deren Sinn für das Reich Gottes offen ist.
 
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