Sonntag, 13. November 2022

 

Pressemitteilung
Ruf nach Neuordnung des Wahlprüfungsverfahrens wird lauter

Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung

„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 14. November 2022)

– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –


Nach der Parlamentsentscheidung zur partiellen Wiederholung der Bundestagswahl von 2021 in Berlin wird der Ruf nach einer Neuordnung des Wahlprüfungsverfahrens lauter. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Johannes Fechner, kündigte im Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ an, dass man darüber beraten werde, die Zuständigkeit für die Prüfung von Einsprüchen gegen die Gültigkeit einer Bundestagswahl allein dem Bundesverfassungsgericht zu übertragen. Sein CDU-Kollege Patrick Schnieder sagte der Zeitung,  man müsse überlegen, das Wahlprüfungsverfahren nur den Karlsruher Richtern zu überlassen. Beide Parlamentarier gehören selbst dem Wahlprüfungsausschuss des Parlaments an.

Laut Grundgesetz ist die Wahlprüfung Sache des Bundestages, dessen Entscheidungen von seinem Wahlprüfungsausschuss vorbereitet werden. Gegen das Parlamentsvotum kann Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt werden. Am Donnerstagabend hatte der Bundestag gegen die Stimmen von Union und AfD beschlossen, die Wahl von 2021 wegen gravierender Pannen und Unregelmäßigkeiten in Berlin in 431 der dortigen Wahllokale zu wiederholen. Die CDU/CSU- und die AfD-Fraktion hatten in den Beratungen für eine umfangreichere Wahlwiederholung in der Hauptstadt plädiert.

Fechner verwies darauf, dass die Abgeordneten im Wahlprüfungsausschuss über die politische Zukunft von Kollegen entschieden. Da stelle sich die Frage, „ob das zumindest theoretisch den Anschein erwecken könnte, dass wir nicht mehr frei entscheiden“, fügte er hinzu. Daher werde man darüber beraten, ob es nicht besser ist, wenn gleich „das zuständige Verfassungsgericht entscheidet, das in solchen Fällen sowieso angerufen wird“.

Schnieder beklagte, dass man bei den Beratungen über eine Wahlwiederholung in Berlin „ein stark politisiertes Verfahren“ gehabt habe. Offenkundig hätten bei der Ampelkoalition andere Gremien als der Wahlprüfungsausschuss vorgegeben, wie entschieden wird, und man habe „das Hin und Her erlebt, wie offensichtlich zwischen Parteien und Fraktionen darum gerungen wurde“. Das habe das Verfahren desavouiert. Deshalb müsse man  darüber nachdenken, „wie wir das Vertrauen in die Integrität eines Wahlprüfungsverfahrens wiederherstellen und ob   wir es nicht dem Bundestag entziehen und zum Bundesverfassungsgericht geben“.



Das Interview im Wortlaut:


FRAGE: Herr Fechner, mit den Stimmen der Koalition hat der Bundestag beschlossen, die Bundestagswahl 2021 wegen gravierender Pannen in 431 Berliner Wahllokalen zu wiederholen. Wieso gerade 431?

FECHNER: Zunächst einmal müssen wir grundsätzlich dafür Sorge tragen, dass alle Wählerinnen und Wähler bei der Stimmabgabe, dem wichtigsten Beteiligungsinstrument in unserer Demokratie, sicher sein können, dass ihre Stimme zählt. Wo Pannen passieren, muss eine Bundestagswahl notfalls – wie auch jetzt – wiederholt werden, aber auch eben nur dort. Anders als das Berliner Verfassungsgericht in seiner vorläufigen Einschätzung angegeben hat, sind wir der Meinung, dass wir die Wahl nur dort wiederholen können, wo tatsächlich Wahlfehler belegbar sind. Das Bauchgefühl sagt möglicherweise, dass mehr schief gegangen ist, aber es geht ja auch um die Bürgerinnen und Bürger, die ihre Stimme abgegeben haben. Da gilt laut Bundesverfassungsgericht, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen.


FRAGE: Aber Anfang Oktober war die Koalition doch einer Wiederholung in den ursprünglich von ihr genannten rund 400 Wahllokalen abgerückt und wollte nur noch in zirka 300 erneut wählen lassen.

FECHNER: Wir haben im Juli beschlossen, dass in den rund 430 Wahllokalen die Wiederholungswahlen stattfinden sollen. Dann gab es Beratungen, bei denen sich einige Mitglieder des Wahlprüfungsausschusses dafür stark machten, in weniger Wahlbezirken zu wählen. Diese Position hat sich aber nicht durchgesetzt und ich bin jetzt sehr zufrieden mit diesem Ergebnis.


FRAGE:Herr Schnieder, die Union hat gegen den Koalitionsvorschlag gestimmt; Sie wollten entsprechend der Empfehlung des Bundeswahlleiters in sechs der zwölf Berliner Wahlkreise die Wahl wiederholen lassen, also in etwa 1.200 Wahllokalen. Weshalb das?

SCHNIEDER: Wir gehen über den Vorschlag des Bundeswahlleiters sogar noch etwas hinaus. Wir haben in der mündlichen Verhandlung des Wahlprüfungsausschusses erlebt, dass es in diesen sechs Wahlkreisen flächendeckend massive Wahlfehler gegeben hat, zu denen der Bundeswahlleiter sehr deutlich Stellung genommen hat. Deshalb müssen wir die Bundestagswahl zumindest in diesem Umfang in Berlin wiederholen, um das Vertrauen in die Legitimation der Wahl wiederherzustellen. Das gelingt nicht mit nur kosmetischen Korrekturen. Wir halten es für erwiesen, dass dort Wahlfehler stattgefunden haben und sie auch mandatsrelevant sind und dass eine entsprechende Wahlwiederholung verhältnismäßig ist. Hier ist das Interesse an einer Wiederholungswahl höher als das Bestandsinteresse des Parlaments.


FRAGE:Inwieweit gehen Sie darüber hinaus?

SCHNIEDER: Wir haben uns nach der mündlichen Verhandlung des Berliner Landesverfassungsgerichts noch einmal genau angeschaut, was in den restlichen Berliner Wahlkreisen passiert ist. Dort können wir nicht alle Wahlfehler nachweisen, weil auch die Wahlniederschriften mangelhaft sind oder zum Teil fehlen. Deshalb wollen wir dort – über diese sechs Wahlkreise hinaus – nur in einzelnen Wahllokalen, in denen wir Wahlfehler in größerem Umfang haben, eine Wiederholungswahl.


FRAGE: Nun könnte man vermuten, dass die Union als Verlierer der Wahl von 2021 an einer möglichst umfangreichen Wiederholung interessiert ist, während die Ampel-Parteien in Berlin ganz gut abschnitten und eine Neuauflage daher in Grenzen halten wollen.

FECHNER: Nein. Der Blick auf Umfragen und Berechnungen, welcher Partei eine mögliche Wiederholungswahl von Nutzen wäre, verbieten sich. Es geht hier um das Kernelement unserer Demokratie, nämlich eine sichere Stimmabgabe. Deswegen hat das bei den Mitgliedern des Wahlprüfungsausschusses keine Rolle gespielt.

SCHNIEDER: Die CDU wäre die erste Partei, die ein Mandat verliert. Wenn bei einer Wiederholungswahl das Wahlergebnis in Berlin selbst unverändert bliebe und allein die Wahlbeteiligung deutlich zurückginge – was nicht unwahrscheinlich ist –, würden wir nach Proberechnungen aufgrund des komplexen Wahlrechts Mandate verlieren, etwa in Nordrhein-Westfalen. Wir haben darauf überhaupt keine Rücksicht genommen. Wir haben alleine nach Recht und Gesetz unsere Entscheidung getroffen. Ich habe allerdings den Eindruck – den ich gar nicht der SPD vorhalten will –, dass andere Partner in der Ampelkoalition schon darauf geschielt haben. Das Verfahren ist ja sehr stark politisiert worden. Da haben offensichtlich kleinere Partner Angst gehabt, dass sie unter die Räder kommen, wenn eine Wahlwiederholung in Berlin in größerem Umfang stattfindet.


FRAGE: Während des Verfahrens wurde etwa diskutiert, wie lange Wahllokale mit langen Warteschlangen davor über 18 Uhr hinaus geöffnet bleiben dürfen, wenn noch Wähler anstehen. Mal hieß es 18.30 Uhr, mal 18.45 Uhr – welche Grenze liegt dem jetzigen Beschluss zugrunde?

FECHNER: Wir glauben, eine halbe Stunde nach 18 Uhr die Stimme abzugeben, ist noch ein vertretbarer Zeitraum. Wir sehen ansonsten eine gewisse Missbrauchsgefahr, dass sich einfach ein paar Leute verabreden, die Stimmabgabe zu blockieren, und andere deshalb ihre Stimme nicht mehr abgeben könnten, obwohl sie eigentlich rechtzeitig da gewesen wären. Deshalb halten wir diese Bagatellgrenze bis 18.30 Uhr für vertretbar. In sehr vielen Wahllokalen in ganz Deutschland, nicht nur in Berlin, wird es de facto schon heute zugelassen, dass ein paar Minuten länger die Stimme abgegeben werden kann. Da hätten wir flächendeckend Probleme, wenn wir ganz streng wären.


FRAGE: Können Sie mit der Grenze 18.30 Uhr leben, Herr Schnieder?

SCHNIEDER: Überhaupt nicht. Da muss ich in mehrfacher Hinsicht widersprechen. Das ist übrigens ein Beispiel dafür, wie man versucht hat, an bestimmten Schräubchen zu drehen, um zu einem Ergebnis zu kommen, das dann in Punkto Wiederholungswahl möglichst wenig ändert. Grundsatz ist: Die Wahlen enden um 18 Uhr. Anderes würde ja bedeuten, dass jeder weiß, bis 18.30 Uhr wählen zu können. Zweitens: Ab 18 Uhr wählt niemand mehr unbeeinflusst. Dann sind die Prognosen raus, die jeder sofort auf seinem Handy sehen kann. Damit ist schon ein Wahlgrundsatz verletzt. Nein: Um 18 Uhr ist Schluss. Allenfalls kann man in ganz engen Ausnahmefällen noch nach 18 Uhr wählen, etwa wenn jemand um 17.58 Uhr kommt und noch zwei vor ihm stehen und er erst um 18.01 Uhr seine Stimme abgibt.


FRAGE: Gegen die Entscheidung des Bundestages kann laut Grundgesetz Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt werden. Rechnen Sie mit solchen Beschwerden etwa von Wahlberechtigten, die gegen die Gültigkeit der Wahl Einspruch eingelegt haben?

FECHNER: Dazu wird es kommen. Es hat rund 1.700 Einsprüche gegen die Bundestagswahl in Berlin gegeben; darunter gibt es mit Sicherheit welche, die den Gang nach Karlsruhe antreten. Das ist legitim und wäre auch passiert, wenn wir anders entschieden hätten. Insofern sind wir gespannt, wie in Karlsruhe entschieden wird – je früher, desto besser.

Schnieder: Ich gehe auch fest davon aus, dass hier eine Überprüfung der Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht stattfinden wird.


FRAGE: Bis zu einer endgültigen Entscheidung dürfte es also noch dauern. Wann wird es Ihrer Schätzung nach tatsächlich zur Wahlwiederholung kommen?

FECHNER: Das Bundesverfassungsgericht sollte auch diesen Fall gründlich prüfen. Wenn wir von einer Verfahrensdauer von einem oder eineinhalb Jahren beim Bundesverfassungsgericht ausgehen, dann kann es sein, dass erst 2024 gewählt würde.

SCHNIEDER: Es wurde ja schon etwas Zeit verloren. Wir hätten uns gewünscht, bei aller Sorgfalt zügig zu entscheiden und das Verfahren zumindest vor der Sommerpause abzuschließen, aber offensichtlich war der Abstimmungsbedarf in der Ampel sehr hoch. Nun ist November, und für die Beschwerden beim Bundesverfassungsgericht gibt es noch eine Frist von zwei Monaten. Die Richter werden wahrscheinlich auch noch einmal den Sachverhalt ermitteln und darüber beraten. Das Bundesverfassungsgericht weiß aber, wie wichtig diese Angelegenheit ist – es geht um einen Kernbestandteil unserer Demokratie –, und ich hoffe, dass wir in überschaubarer Zeit ein Ergebnis bekommen.


FRAGE: Erwarten Sie dabei tatsächlich Mandatsverschiebungen?

FECHNER:  Bei den Erststimmen ist das insbesondere in Berlin-Reinickendorf denkbar, wo wir zwischen der CDU-Wahlsiegerin und dem SPD-Kandidaten 1,2 Prozent Abstand hatten. Auch in Berlin-Pankow, wo der Abstand vier Prozent betrug, aber die Wahl in einer hohen Zahl von Wahllokalen wiederholt wird, ist eine Änderung nicht unwahrscheinlich. Und wenn die SPD 802 Stimmen mehr holt als 2021, haben wir einen Sitz mehr. Ich will nicht ausschließen, dass die Wahlbeteiligung etwas niedriger sein wird; sollte sie extrem in den Keller gehen, könnte Berlin insgesamt und damit auch die SPD sowie FDP und Grüne einen Sitz im Bundestag verlieren.

SCHNIEDER: Nach der von uns präferierten Entscheidung wären Verschiebungen wahrscheinlicher gewesen als bei dem jetzt gefassten Beschluss. Bei den Zweitstimmen rechne ich nun nicht mit großen Auswirkungen; bei den Erststimmen kann es in der Tat zu solchen Änderungen kommen; das wäre aber bei unserem Vorschlag noch wahrscheinlicher. Der entscheidende Punkt wird die Wahlbeteiligung sein. Das Problem ist ja, dass für den Wähler fast alle Messen gelesen sind: Wer Bundeskanzler ist und bleibt, steht vollkommen fest. Ich befürchte, dass die Wahlbeteiligung deutlich nach unten geht, vor allem, weil diese Wahl mit keiner anderen verbunden sein wird und – wenn sich der jetzige Beschluss durchsetzen sollte – auch nur in wenigen Wahlbezirken stattfinden wird. Das wird auch eine Mobilisierungsfrage sein. Wenn die Wahlbeteiligung deutlich niedriger liegt, haben wir bundesweite Auswirkungen, die vielleicht nichts an den Mehrheitsverhältnissen ändern, aber zu einem Tausch von Mandaten führen können bei allen Fraktionen und zuallererst wahrscheinlich bei uns.

FECHNER:  Alle Parteien müssen mit der Möglichkeit rechnen, ein oder zwei Mandate zu verlieren. Trotzdem haben wir uns – in unterschiedlichem Umfang – dafür ausgesprochen, die Wiederholungswahl durchzuführen. Das Hauptargument dafür ist, das Vertrauen der Menschen in unser Wahlsystem wiederherzustellen.


FRAGE: Herr Fechner, Sie haben angeregt, die Wahlprüfung durch den Bundestag abzuschaffen und sie allein dem Bundesverfassungsgericht zu übertragen. Warum?

FECHNER: Wir Abgeordnete im Wahlprüfungsausschuss entscheiden über die politische Zukunft von Kolleginnen und Kollegen. Da stellt sich die Frage, ob das zumindest theoretisch den Anschein erwecken könnte, dass wir nicht mehr frei entscheiden. Dieser Anschein sollte vermieden werden, und daher werden wir beraten, ob es nicht besser ist, wenn wie in Berlin auch auf Bundesebene gleich das zuständige Verfassungsgericht entscheidet, das in solchen Fällen sowieso angerufen wird.

SCHNIEDER: Wir sind 72 Jahre mit dem Verfahren im Wahlprüfungsausschuss sehr gut gefahren. Offensichtlich brauchte es die Ampel und die Vorkommnisse in Berlin dafür, dass wir jetzt ein stark politisiertes Verfahren hatten. Dabei ist der Wahlprüfungsausschuss kein normaler Ausschuss des Bundestages, sondern hat eine gerichtsähnliche Funktion. Offenkundig haben bei der Ampel aber andere Gremien vorgegeben, wie entschieden wird, und wir haben das Hin und Her erlebt, wie offensichtlich zwischen Parteien und Fraktionen darum gerungen wurde. Das hat das Verfahren desavouiert. Deshalb müssen wir darüber nachdenken, wie wir das Vertrauen in die Integrität eines Wahlprüfungsverfahrens wiederherstellen und ob   wir es nicht dem Bundestag entziehen und zum Bundesverfassungsgericht geben.



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