Mittwoch, 25. Mai 2022

 

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Stimmen der Zeit
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
 
Irgendwie glaubten wir ja alle, das Böse sei verschwunden. Die Themen Sünde, Schuld und Vergebung verschwanden weitgehend aus der Katechese, der Religionspädagogik und der Predigt. Zu moralisieren war verpönt, ebenso die Rede von Teufel, Hölle und Gericht. Mit Macht kehrt nun das Böse zurück. Was geht in Soldaten vor, die vergewaltigen, brandschatzen und morden? Was in Politikern, die Angriffsbefehle geben? Was in Kirchenführern, die den Angriff moralisch und religiös rechtfertigen? Was in Fernsehmoderatoren, die dreist lügen? In meinem neuen Editorial (s.u.) versuche ich eine Antwort auf die Frage zu entwickeln, wie eine christliche Antwort auf das Böse heute aussehen könnte.
Stefan Kiechle SJ
Die Themen im Juni:
 
Russlands Krieg gegen die Ukraine rückt Fragen in den Vordergrund, denen sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten bislang nicht ausreichend gestellt haben. Lukas Schmitt entwickelt eine Migrationsethik vor dem Hintergrund der Integrität nationaler Grenzen.
 
Die Diplomatie des Heiligen Stuhls: Loup Besmond de Senneville erklärt, wie und mit welchen Zielen der Vatikan Beziehungen zu knapp 200 Staaten unterhält. Die Beispiele China und Russland veranschaulichen besondere Herausforderungen und Spannungen.
 
Ein Autorenteam, das anonym bleiben möchte, berichtet von rechtlichen Hürden und eingeschränkter Religionsfreiheit für Nichtmuslime in Algerien. Das größte Flächenland Afrikas vereint kulturelle Einflüsse aus Europa, Afrika und Arabien.
 
Der Schweizer Schriftsteller Urs Faes (*1947) verhandelt in seinen Romanen die existenziellen Fragen um ein gelingendes, erfülltes Leben, das doch immer wieder jäh durchbrochen wird – etwa durch eine Krebserkrankung. Christoph Gellner zeigt die spirituell zentralen Motive in Faes Werk.
 
Wann genau beginnt menschliches Leben, wann die Beseelung einer befruchteten Eizelle? Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld OPraem verhandelt zwischen konkurrierenden Theorien und zeigt die Konsequenzen der einen oder anderen Haltung auf.
 
Wenn Religionsunterricht auch für konfessionsfremde Schülerinnen und Schüler zugänglich wird, bietet das besondere Chancen auch für die katholische Pädagogik. Klaus Mertes SJ klärt einige Aspekte des Selbstverständnisses eines solchen Unterrichts, unabhängig von der Schulform.
 
Außerdem lesen Sie im Juni einen Essay von Klaus Vellguth (Laboratorium interkultureller Theologie) sowie Rezensionen aus Politik & Gesellschaft.
 
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre
 
Ihr
 
P. Stefan Kiechle SJ, Chefredakteur
 
Heft 6, Juni 2022:
Stimmen der Zeit - Aktuelles Heft
 
Inhalt
Stefan Kiechle SJ: Wiederkehr des Bösen
Lukas Schmitt: Migrationsethik. Die Ukraine und die Verletzlichkeit von Menschen und Grenzen
Loup Besmond de Senneville: Zwischen Realismus und Prophetie. Die Diplomatie des Heiligen Stuhls
N.N.: Algerien. Religionsfreiheit und rechtliche Hürden für Nichtmuslime
Christoph Gellner: An den Grenzen des Lebens. Zur spirituellen Grundierung des Schreibens von Urs Faes
Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld OPraem: Anfang und Beginn der Ontogenese. Philosophische Neubesinnung zu einer Streitfrage
Klaus Mertes SJ: Religiöse Bildung für alle. Religionsunterricht in konfessionspluraler Schülerschaft
Klaus Vellguth: Laboratorium interkultureller Theologie. Erbe und Auftrag des Zweiten Vatikanums
 
Aus dem aktuellen Heft:
Wiederkehr des Bösen
Editorial: Stefan Kiechle SJ 
 
Irgendwie glaubten wir ja alle, das Böse sei überwunden, eine Macht des Bösen gebe es nicht. Jeder Mensch ist im Kern gut. Gott ist barmherzig, er heilt die Wunden und vergibt die Schuld – insofern jemand überhaupt schuldig werden kann. In der Katechese oder Religionspädagogik, auch in der Predigt war es verpönt zu „moralisieren“, also verwerfliches Verhalten zu benennen, öffentlich zu verurteilen oder gar Verhaltensänderung anzumahnen. Die Themen Sünde, Schuld und Vergebung brauchte es im Grunde nicht mehr, sie verschwanden weitgehend aus der Unterweisung und der Liturgie, auch aus der theologischen Lehre. Die Praxis der Beichte wurde vergessen, sie tendiert heute in weiten christlichen Kreisen gegen Null. Erst recht verschwanden Themen wie Kreuzesleid und Sühne, Strafe und Gericht, Teufel und Fegefeuer und Hölle. Lieber schaute man solidarisch auf leidende Menschen als Opfer ungerechter Verhältnisse oder auch böser Mächte. Opfer sind verletzt und bedürfen der Heilung – Jesus wurde vor allem als Heiler, als Therapeut oder auch als Kritiker der sozialen Verhältnisse gesehen. Alles nicht falsch. Allerdings wurden kaum mehr die persönlich verantwortlichen Täter des Bösen oder Jesus als deren Erlöser beachtet, zumindest nicht in der theologischen oder spirituellen Deutung.
 
Mit Macht kehrt nun das Böse zurück: Das beginnt mit der Klimakatastrophe, die ja einerseits „natürlich“ ist, aber doch auch menschengemacht: In einem einzigartigen Akt der Lebens- und Konsumgier zerstört die Menschheit gerade – kollektiv und individuell – ihre Lebensgrundlage. Weiter geht es mit der Corona-Pandemie: Auch diese ist „Natur“, aber vielleicht doch mit erheblichen menschlichen Verstrickungen? In der weltweiten Kirche wird sexualisierte Gewalt entdeckt: Diese ist sicher nicht nur pathologisch verursacht, sondern sie zeigt die Fratze des Bösen, sowohl in einzelnen Tätern als auch indirekt im systemischen Versagen. Schließlich der Ukraine-Krieg, der nicht nur die Bosheit eines hegemonialen Anspruchs enthüllt, sondern auch dessen toxisches soziales und politisches Umfeld, nicht nur eine fundamentalistische national-religiöse Ideologie, sondern auch eine riesige Militärmaschinerie von Gewalt und Grausamkeit.
 
Das Böse ist zurück. Spricht man nun wieder von der Macht des Bösen, von dem Bösen, gar vom Dämon oder Teufel? Gibt es so etwas wie eine Besessenheit durch das Böse oder den Dämon? Individuell in einem Diktator und in den zahlreichen Kriegsverbrechern oder auch kollektiv in der kriegerischen Administration und in den oft rauschhaften Gewaltorgien des Militärs? Theologie und Spiritualität müssen hier schmerzhaft ein altes, lange vermiedenes Thema neu bearbeiten.
 
Das Böse manifestiert sich in der Gewalt, sei diese psychische oder physische Gewalt. Zuvor und gleichzeitig zeigt es sich in der Lüge – durch die ganze Geschichte und immer wieder. Die Bilder von Butscha oder Mariupol und ihre unterschiedlichen Deutungen zeigen diese Dynamik des Bösen. Übrigens steht das alles schon in der Bibel – wir wollten es nicht sehen.
 
Abgründige Fragen stellen sich: Was geht in Soldaten vor, die vergewaltigen, brandschatzen und morden? Was in Politikern, die Angriffsbefehle geben? Was in Kirchenführern, die den Angriff moralisch und religiös rechtfertigen? Was in Fernsehmoderatoren, die dreist lügen? Wer hat sie alle dazu erzogen, ihren Geist vergiftet? Und das in einem kultivierten, christlichen Land? Oder: Wie konnten wir im Westen das alles übersehen? Situationen immer wieder schönreden, zu unserem geheiligten Vorteil? Zu Recht zeigen wir heute mit dem Finger auf Russland – aber auch im Westen gibt es Naivität und Dummheit, Lüge und Machtgier, Stolz und Rassismus, ja auch Unterdrückung und Gewalt. Müssen wir nicht lernen, das Böse neu ernst zu nehmen, es zu identifizieren und zu benennen, es zu verurteilen und zu bekämpfen? In diesem Sinn also zu moralisieren, im Kleinen bei uns selbst ebenso wie im Großen der Weltpolitik? Und dann neu die Botschaft des Evangeliums zu verstehen, nämlich wie der Weg zur Versöhnung zu beschreiten ist, ohne das Böse und den Ernst des Ethischen zu verharmlosen?
 
Das Böse verändert auch unser Jesus-Bild: Jesus predigte gegen Heuchelei und Unrecht, gegen Gewalt und Missbrauch. Er drohte Gericht und Hölle an. Er war Therapeut der Opfer des Bösen und zugleich Ankläger der Täter des Bösen. Weil jedoch das Böse den nicht ertrug, der es demaskierte, brachte es Jesus grausam um. Und die Auferweckung? Sie ist Überwindung des Todes, aber zugleich auch Überwindung der Macht des Bösen. Sie ist neues Leben, aber zuvor und zugleich auch Gericht. Als Richter über Lebende und Tote wird Jesus Christus wiederkommen. Ohne Gericht wird Gott das Gute nicht durchsetzen. Sünder sollen das Gericht durchaus fürchten – offen bleibt, ob sie dies zur Umkehr bewegen wird. Eine Skepsis gegenüber den Möglichkeiten innergeschichtlicher Umkehr ist nicht unchristlich. Wir Christen dürfen hoffen, dass die Hölle kraft göttlicher Gnade leer sein wird, aber wir wissen es nicht.
 
 
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