| Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
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| Irgendwie
glaubten wir ja alle, das Böse sei verschwunden. Die Themen Sünde,
Schuld und Vergebung verschwanden weitgehend aus der Katechese, der
Religionspädagogik und der Predigt. Zu moralisieren war verpönt, ebenso
die Rede von Teufel, Hölle und Gericht. Mit Macht kehrt nun das Böse zurück.
Was geht in Soldaten vor, die vergewaltigen, brandschatzen und morden?
Was in Politikern, die Angriffsbefehle geben? Was in Kirchenführern, die
den Angriff moralisch und religiös rechtfertigen? Was in
Fernsehmoderatoren, die dreist lügen? In meinem neuen Editorial (s.u.)
versuche ich eine Antwort auf die Frage zu entwickeln, wie eine
christliche Antwort auf das Böse heute aussehen könnte.
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| Die Themen im Juni: Russlands Krieg gegen die Ukraine
rückt Fragen in den Vordergrund, denen sich die EU und ihre
Mitgliedsstaaten bislang nicht ausreichend gestellt haben. Lukas Schmitt
entwickelt eine Migrationsethik vor dem Hintergrund der Integrität
nationaler Grenzen. Die Diplomatie des Heiligen Stuhls:
Loup Besmond de Senneville erklärt, wie und mit welchen Zielen der
Vatikan Beziehungen zu knapp 200 Staaten unterhält. Die Beispiele China
und Russland veranschaulichen besondere Herausforderungen und
Spannungen. Ein Autorenteam, das anonym bleiben möchte, berichtet von rechtlichen Hürden und eingeschränkter Religionsfreiheit für Nichtmuslime in Algerien. Das größte Flächenland Afrikas vereint kulturelle Einflüsse aus Europa, Afrika und Arabien. Der Schweizer Schriftsteller Urs Faes
(*1947) verhandelt in seinen Romanen die existenziellen Fragen um ein
gelingendes, erfülltes Leben, das doch immer wieder jäh durchbrochen
wird – etwa durch eine Krebserkrankung. Christoph Gellner zeigt die
spirituell zentralen Motive in Faes Werk. Wann genau beginnt menschliches Leben, wann die Beseelung einer befruchteten Eizelle?
Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld OPraem verhandelt zwischen
konkurrierenden Theorien und zeigt die Konsequenzen der einen oder
anderen Haltung auf. Wenn Religionsunterricht auch für konfessionsfremde Schülerinnen
und Schüler zugänglich wird, bietet das besondere Chancen auch für die
katholische Pädagogik. Klaus Mertes SJ klärt einige Aspekte des
Selbstverständnisses eines solchen Unterrichts, unabhängig von der
Schulform. Außerdem lesen Sie im Juni einen Essay von Klaus Vellguth (Laboratorium interkultureller Theologie) sowie Rezensionen aus Politik & Gesellschaft. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre Ihr
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| P. Stefan Kiechle SJ, Chefredakteur
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| Inhalt | |
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| | • | Stefan Kiechle SJ: Wiederkehr des Bösen |
| • | Lukas Schmitt: Migrationsethik. Die Ukraine und die Verletzlichkeit von Menschen und Grenzen |
| • | Loup Besmond de Senneville: Zwischen Realismus und Prophetie. Die Diplomatie des Heiligen Stuhls |
| • | N.N.: Algerien. Religionsfreiheit und rechtliche Hürden für Nichtmuslime |
| • | Christoph Gellner: An den Grenzen des Lebens. Zur spirituellen Grundierung des Schreibens von Urs Faes |
| • | Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld OPraem: Anfang und Beginn der Ontogenese. Philosophische Neubesinnung zu einer Streitfrage |
| • | Klaus Mertes SJ: Religiöse Bildung für alle. Religionsunterricht in konfessionspluraler Schülerschaft |
| • | Klaus Vellguth: Laboratorium interkultureller Theologie. Erbe und Auftrag des Zweiten Vatikanums |
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| Wiederkehr des Bösen | |
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| Editorial: Stefan Kiechle SJ
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| Irgendwie
glaubten wir ja alle, das Böse sei überwunden, eine Macht des Bösen
gebe es nicht. Jeder Mensch ist im Kern gut. Gott ist barmherzig, er
heilt die Wunden und vergibt die Schuld – insofern jemand überhaupt
schuldig werden kann. In der Katechese oder Religionspädagogik, auch in
der Predigt war es verpönt zu „moralisieren“, also verwerfliches
Verhalten zu benennen, öffentlich zu verurteilen oder gar
Verhaltensänderung anzumahnen. Die Themen Sünde, Schuld und Vergebung
brauchte es im Grunde nicht mehr, sie verschwanden weitgehend aus der
Unterweisung und der Liturgie, auch aus der theologischen Lehre. Die
Praxis der Beichte wurde vergessen, sie tendiert heute in weiten
christlichen Kreisen gegen Null. Erst recht verschwanden Themen wie
Kreuzesleid und Sühne, Strafe und Gericht, Teufel und Fegefeuer und
Hölle. Lieber schaute man solidarisch auf leidende Menschen als Opfer
ungerechter Verhältnisse oder auch böser Mächte. Opfer sind verletzt und
bedürfen der Heilung – Jesus wurde vor allem als Heiler, als Therapeut
oder auch als Kritiker der sozialen Verhältnisse gesehen. Alles nicht
falsch. Allerdings wurden kaum mehr die persönlich verantwortlichen
Täter des Bösen oder Jesus als deren Erlöser beachtet, zumindest nicht
in der theologischen oder spirituellen Deutung. Mit
Macht kehrt nun das Böse zurück: Das beginnt mit der Klimakatastrophe,
die ja einerseits „natürlich“ ist, aber doch auch menschengemacht: In
einem einzigartigen Akt der Lebens- und Konsumgier zerstört die
Menschheit gerade – kollektiv und individuell – ihre Lebensgrundlage.
Weiter geht es mit der Corona-Pandemie: Auch diese ist „Natur“, aber
vielleicht doch mit erheblichen menschlichen Verstrickungen? In der
weltweiten Kirche wird sexualisierte Gewalt entdeckt: Diese ist sicher
nicht nur pathologisch verursacht, sondern sie zeigt die Fratze des
Bösen, sowohl in einzelnen Tätern als auch indirekt im systemischen
Versagen. Schließlich der Ukraine-Krieg, der nicht nur die Bosheit eines
hegemonialen Anspruchs enthüllt, sondern auch dessen toxisches soziales
und politisches Umfeld, nicht nur eine fundamentalistische
national-religiöse Ideologie, sondern auch eine riesige
Militärmaschinerie von Gewalt und Grausamkeit. Das
Böse ist zurück. Spricht man nun wieder von der Macht des Bösen, von
dem Bösen, gar vom Dämon oder Teufel? Gibt es so etwas wie eine
Besessenheit durch das Böse oder den Dämon? Individuell in einem
Diktator und in den zahlreichen Kriegsverbrechern oder auch kollektiv in
der kriegerischen Administration und in den oft rauschhaften
Gewaltorgien des Militärs? Theologie und Spiritualität müssen hier
schmerzhaft ein altes, lange vermiedenes Thema neu bearbeiten. Das
Böse manifestiert sich in der Gewalt, sei diese psychische oder
physische Gewalt. Zuvor und gleichzeitig zeigt es sich in der Lüge –
durch die ganze Geschichte und immer wieder. Die Bilder von Butscha oder
Mariupol und ihre unterschiedlichen Deutungen zeigen diese Dynamik des
Bösen. Übrigens steht das alles schon in der Bibel – wir wollten es
nicht sehen. Abgründige
Fragen stellen sich: Was geht in Soldaten vor, die vergewaltigen,
brandschatzen und morden? Was in Politikern, die Angriffsbefehle geben?
Was in Kirchenführern, die den Angriff moralisch und religiös
rechtfertigen? Was in Fernsehmoderatoren, die dreist lügen? Wer hat sie
alle dazu erzogen, ihren Geist vergiftet? Und das in einem kultivierten,
christlichen Land? Oder: Wie konnten wir im Westen das alles übersehen?
Situationen immer wieder schönreden, zu unserem geheiligten Vorteil? Zu
Recht zeigen wir heute mit dem Finger auf Russland – aber auch im
Westen gibt es Naivität und Dummheit, Lüge und Machtgier, Stolz und
Rassismus, ja auch Unterdrückung und Gewalt. Müssen wir nicht lernen,
das Böse neu ernst zu nehmen, es zu identifizieren und zu benennen, es
zu verurteilen und zu bekämpfen? In diesem Sinn also zu moralisieren, im
Kleinen bei uns selbst ebenso wie im Großen der Weltpolitik? Und dann
neu die Botschaft des Evangeliums zu verstehen, nämlich wie der Weg zur
Versöhnung zu beschreiten ist, ohne das Böse und den Ernst des Ethischen
zu verharmlosen? Das
Böse verändert auch unser Jesus-Bild: Jesus predigte gegen Heuchelei
und Unrecht, gegen Gewalt und Missbrauch. Er drohte Gericht und Hölle
an. Er war Therapeut der Opfer des Bösen und zugleich Ankläger der Täter
des Bösen. Weil jedoch das Böse den nicht ertrug, der es demaskierte,
brachte es Jesus grausam um. Und die Auferweckung? Sie ist Überwindung
des Todes, aber zugleich auch Überwindung der Macht des Bösen. Sie ist
neues Leben, aber zuvor und zugleich auch Gericht. Als Richter über
Lebende und Tote wird Jesus Christus wiederkommen. Ohne Gericht wird
Gott das Gute nicht durchsetzen. Sünder sollen das Gericht durchaus
fürchten – offen bleibt, ob sie dies zur Umkehr bewegen wird. Eine
Skepsis gegenüber den Möglichkeiten innergeschichtlicher Umkehr ist
nicht unchristlich. Wir Christen dürfen hoffen, dass die Hölle kraft
göttlicher Gnade leer sein wird, aber wir wissen es nicht.
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