| Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
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Corona war das Konsumniveau so hoch wie nie zuvor. Wohlstand und immer
komplexere Technologien sorgten für ein Gefühl der Sicherheit und
Kontrolle. Die Pandemie „zog brutal einen Strich durch die Rechnung“. Die
Menschen fühlten sich ohnmächtig ob des plötzlichen Einschnitts durch
diese tödliche Macht. Dieser Bruch stellt viele Menschen vor
existenzielle, auch religiöse Fragen. In meinem Editorial (s.u.) möchte
ich dafür werben, die Pandemie als einen „Schuss vor den Bug“ zu
betrachten und „den Schuss zu hören … Kann die Pandemie zur Chance für
Gesellschaft und Kirche werden?“
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| Die Themen im September: Bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie und ihrer Folgen ist eine Gruppe am Rande der Gesellschaft aus dem Blick geraten: die Flüchtlinge. Stefan Keßler vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland nennt einige Stichpunkte ihrer Notlage. Der israelische Künstler Youval Yariv
lebt seit den 1980er-Jahren in Düsseldorf. Seitdem bereichert er die
Gedächtniskultur um den Holocaust. Anlässlich einer Ausstellung ab
Oktober in Düsseldorf stellt Michael Grütering einige prägnante Werke
vor. Wo kann Wolframs von Eschenbach Gralsroman „Parzival“
heute noch aktuell sein? Auch mittelalterliche Literatur behandelt
zeitlose, universale Themen um Spiritualität, Tugend, Liebe,
Gerechtigkeit. Frank Steinwachs hebt das Potential für den Unterricht
hervor. Lepra,
Pest und Corona: Seuchen und Pandemien dienten schon dem Philosophen
Paul-Michel Foucault als Vorlage für Theorien um Staatswesen und Macht.
Hans-Jürgen Feulner zeichnet nach, wie Regierungsmodelle und Pandemiebekämpfung seit der Renaissance und bis heute zusammenhängen. Vor gut 80 Jahren entstand die Communauté de Taizé.
Zigtausende junge Menschen werden seitdem angezogen von der
spirituellen Atmosphäre, dem einfachen Gesang und Gebet, der
Gastfreundschaft. Patrik C. Höring schreibt über die Geschichte und
aktuelle Entwicklungen. Außerdem lesen Sie im September zwei Essays von Klaus Mertes SJ („Zum System Ratzinger“) und Julia Schwarzer (Das Erbe antreten) sowie Rezensionen aus Theologie & Kirche und Geschichte & Biografie. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und eine schöne restliche Sommerzeit. Bleiben Sie gesund! Ihr
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| P. Stefan Kiechle SJ, Chefredakteur
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| Inhalt |  |
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| | • | Stefan Kiechle SJ: Brüchigkeit und Glaube |
| • | Stefan Keßler: Die Vergessenen. Flüchtlinge in der Corona-Pandemie |
| • | Michael Grütering: Youval Yariv. Erinnern gestalten |
| • | Frank Steinwachs: Der helle Schein mittelalterlicher Literatur. Zur Aktualität der Gralsromane |
| • | Hans-Jürgen Feuler: Lepra, Pest und Corona. Mit einem Blick in die Geschichte Pandemien verstehen? |
| • | Patrik C. Höring: Communauté de Taizé. Hoffnung für junge Menschen – Hoffnung für die Kirche |
| • | Klaus Mertes SJ: Ein Pontifikat in der Diskussion. Zum „System Ratzinger“ |
| • | Julia Schwarzer: Das Erbe antreten. Zur Tradition |
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| Brüchigkeit und Glaube |  |
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| Editorial: Stefan Kiechle SJ
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| Vor
Corona war im Leben immer mehr machbar, zumindest in den bürgerlichen
Mittel- und Ober-schichten der meisten Länder. Bis in kleinste Details
und mit allen Absicherungen waren der Alltag und erst recht die großen
Events durchorganisiert, nicht nur im Arbeitsleben, auch in der Freizeit
und im Urlaub. Mit dem stetig steigenden Wohlstand und immer
komplexeren Technologien bekam man Unwägbarkeiten, Zufälle, Unglücke
immer besser in den Griff. Das Konsumniveau war hoch wie nie zuvor in
der Geschichte – unvorstellbar für die Armen bei uns und anderswo, aber
diesen Aspekt übersah man geflissentlich. Der Körper wurde mit Training
und gegebenenfalls auf dem Operations-tisch optimiert. Die Medizin
beherrschte fast alle Krankheiten immer besser. Verheißungen ewiger
Jugend lockten. Digitalisierung erweiterte die Möglichkeiten ins schier
Unendliche, und manche prognostizierten, dass Künstliche Intelligenz den
Menschen bald zum Homo Deus hin überwinden werde. Zwar zog die
Klimakatastrophe dunkel am Horizont herauf, aber man beschwichtigte mit
dem Plan, ein ökologischer Umbau der Wirtschaft werde sie besiegen und
sicheren Wohlstand für alle bringen – mal schnell zum Badeurlaub nach
Thailand zu jetten, das musste gesichert bleiben. Corona
zog brutal einen Strich durch die Rechnung. Als biblische Plage wurde
diese Pandemie empfunden, völlig unvorhersehbar und zur Gänze unverdient
über uns hereingebrochen. Die Machbarkeit des Lebens schien zerbrochen.
Der Flugverkehr – symbolisch für das frühere Lebens-gefühl – brach in
kürzester Zeit auf wenige Prozent des vorigen Niveaus zusammen. Die
Menschen fühlten sich ohnmächtig, hilflos, abgeschnitten von vielem und –
weil der üblichen Zerstreuungen beraubt – auch einsam und leer;
allerdings klagten viele auf beschämend hohem Niveau. Latente psychische
Krisen brachen auf. Kinder und Jugendliche – auch sie häufig übersehen –
litten schwer. Zwar glich bei uns der Staat die wirtschaftlichen
Abstürze großenteils aus und verschuldete sich da-mit für Jahrzehnte –
aber in armen Ländern, in denen Staaten nicht funktionieren, wurde der
Hunger pandemisch und noch tödlicher als die Virus-Pandemie. Die Kirchen
leerten sich rapide – nur wegen hygienisch motivierter Verbote? Oder
auch, weil Gott offensichtlich nicht half und daher entbehrlich wurde?
Allein gelassen fühlten sich die Menschen einer unsichtbaren,
heimtückischen und teufli-schen, ja tödlichen Macht ausgeliefert. In
seiner neuen Brüchigkeit versank das vorher so gesicherte und
komfortable Leben in Angst. Bringen
breite Impfkampagnen das alte Leben zurück? Viele träumen davon: Die
Wirtschaft wird wieder brummen und der Himmel sich mit Flugzeugen
füllen. Die Kirchen werden wieder besucht werden wie vorher. Aber können
wir uns in frühere Machbarkeit einfach zurückbeamen? Die Klü-geren
warnen: Das Virus bleibt, auch mit Varianten, mit neuen Einschränkungen,
mit Unsicherhei-ten – der hemmungslos hedonistische Lebensstil wird
nicht mehr möglich sein. Die Wirtschaft verän-dert sich, auch unter
ökologischem Druck. Armut und Reichtum – in der Pandemie riss die Schere
nochmals gewaltig auf – müssen aktiv und für viele schmerzhaft
ausgeglichen werden. Und die Kir-chen? Was schon vorher unter der
Fassade, mit viel Geld halbwegs erhalten, brüchig war, brach in der
Pandemie hervor. Wie früher wird es nicht mehr werden: Die Christen
entwickeln sich zur Min-derheit, mit wenig Macht und Glanz, oft
geringgeschätzt und an den Rand gedrängt, verunsichert, suchend, sich
selbst marginalisierend. Die Kirchen werden diesen – übrigens biblisch
vorgezeichne-ten – Weg nur gehen, wenn sie die Situation annehmen und
sich dadurch verändern lassen, also ärmer werden, demütiger und stärker
partizipativ. Was
sagt der Glaube zu dieser Entwicklung? Sein zu wollen wie Gott, der
alles berechnet und be-herrscht, ja alles weiß und kann und wirkt, ist
die Ursünde der Menschheit. Irdische Existenz ist vul-nerabel und
brüchig, sie ist ständig von Armut bedroht und vom Tod überschattet.
Gott als Garant unseres Wohlstands und der Machbarkeit: Das wäre, selbst
mit viel Dank an den Geber der guten Gaben, Instrumentalisierung
Gottes, theologischer Missbrauch. Wie Gott in der Welt wirkt, wissen wir
nicht. Oft scheint er gegen unsere Wünsche und Projektionen zu wirken,
das zeigt die Pandemie überdeutlich. Eigenartig abwesend wirkte er,
nicht berechenbar. In der Welt leben wir zwar vor Gott, aber gleichsam
ohne Gott (Bonhoeffer). Und doch: Wer glaubt, erfährt, dass Gott in der
Not mitgeht und stützt. Gott verheißt Leben, auch über Not und Tod
hinaus. Die
Pandemie ist ein Schuss vor den Bug. Den Schuss zu hören, das könnte
bedeuten: Kinder und Jugendliche sind neu zu fördern. Der
sozial-ökologische Umbau von Gesellschaft und Wirtschaft muss
vordringlich weitergehen. Digitalisierung ist hilfreich, aber nur ein –
durchaus ambivalentes – Mittel, kein Zweck in sich selbst. Weil irdische
Existenz bleibend brüchig ist, stellen sich neu die Got-tesfrage und
jene nach dem ewigen Leben. Die Kirche darf den Mut haben, christliche
Liebe im 21. Jahrhundert zu leben und dadurch Gott zu verkünden. Kann
die Pandemie zur Chance für Gesell-schaft und Kirche werden?
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