Freitag, 27. August 2021

 

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Stimmen der Zeit
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
 
vor Corona war das Konsumniveau so hoch wie nie zuvor. Wohlstand und immer komplexere Technologien sorgten für ein Gefühl der Sicherheit und Kontrolle. Die Pandemie „zog brutal einen Strich durch die Rechnung“.
 
Die Menschen fühlten sich ohnmächtig ob des plötzlichen Einschnitts durch diese tödliche Macht. Dieser Bruch stellt viele Menschen vor existenzielle, auch religiöse Fragen. In meinem Editorial (s.u.) möchte ich dafür werben, die Pandemie als einen „Schuss vor den Bug“ zu betrachten und „den Schuss zu hören … Kann die Pandemie zur Chance für Gesellschaft und Kirche werden?“
Stefan Kiechle SJ
Die Themen im September:
 
Bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie und ihrer Folgen ist eine Gruppe am Rande der Gesellschaft aus dem Blick geraten: die Flüchtlinge. Stefan Keßler vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland nennt einige Stichpunkte ihrer Notlage.
 
Der israelische Künstler Youval Yariv lebt seit den 1980er-Jahren in Düsseldorf. Seitdem bereichert er die Gedächtniskultur um den Holocaust. Anlässlich einer Ausstellung ab Oktober in Düsseldorf stellt Michael Grütering einige prägnante Werke vor.
 
Wo kann Wolframs von Eschenbach Gralsroman „Parzival“ heute noch aktuell sein? Auch mittelalterliche Literatur behandelt zeitlose, universale Themen um Spiritualität, Tugend, Liebe, Gerechtigkeit. Frank Steinwachs hebt das Potential für den Unterricht hervor.
 
Lepra, Pest und Corona: Seuchen und Pandemien dienten schon dem Philosophen Paul-Michel Foucault als Vorlage für Theorien um Staatswesen und Macht. Hans-Jürgen Feulner zeichnet nach, wie Regierungsmodelle und Pandemiebekämpfung seit der Renaissance und bis heute zusammenhängen.
 
Vor gut 80 Jahren entstand die Communauté de Taizé. Zigtausende junge Menschen werden seitdem angezogen von der spirituellen Atmosphäre, dem einfachen Gesang und Gebet, der Gastfreundschaft. Patrik C. Höring schreibt über die Geschichte und aktuelle Entwicklungen.
 
Außerdem lesen Sie im September zwei Essays von Klaus Mertes SJ („Zum System Ratzinger“) und Julia Schwarzer (Das Erbe antreten) sowie Rezensionen aus Theologie & Kirche und Geschichte & Biografie.
 
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und eine schöne restliche Sommerzeit. Bleiben Sie gesund!
 
Ihr
P. Stefan Kiechle SJ, Chefredakteur
 
Heft 9, September 2021:
Stimmen der Zeit - Aktuelles Heft
 
Inhalt
Stefan Kiechle SJ: Brüchigkeit und Glaube
Stefan Keßler: Die Vergessenen. Flüchtlinge in der Corona-Pandemie
Michael Grütering: Youval Yariv. Erinnern gestalten
Frank Steinwachs: Der helle Schein mittelalterlicher Literatur. Zur Aktualität der Gralsromane
Hans-Jürgen Feuler: Lepra, Pest und Corona. Mit einem Blick in die Geschichte Pandemien verstehen?
Patrik C. Höring: Communauté de Taizé. Hoffnung für junge Menschen – Hoffnung für die Kirche
Klaus Mertes SJ: Ein Pontifikat in der Diskussion. Zum „System Ratzinger“
Julia Schwarzer: Das Erbe antreten. Zur Tradition
 
Aus dem aktuellen Heft:
Brüchigkeit und Glaube
Editorial: Stefan Kiechle SJ 
 
Vor Corona war im Leben immer mehr machbar, zumindest in den bürgerlichen Mittel- und Ober-schichten der meisten Länder. Bis in kleinste Details und mit allen Absicherungen waren der Alltag und erst recht die großen Events durchorganisiert, nicht nur im Arbeitsleben, auch in der Freizeit und im Urlaub. Mit dem stetig steigenden Wohlstand und immer komplexeren Technologien bekam man Unwägbarkeiten, Zufälle, Unglücke immer besser in den Griff. Das Konsumniveau war hoch wie nie zuvor in der Geschichte – unvorstellbar für die Armen bei uns und anderswo, aber diesen Aspekt übersah man geflissentlich. Der Körper wurde mit Training und gegebenenfalls auf dem Operations-tisch optimiert. Die Medizin beherrschte fast alle Krankheiten immer besser. Verheißungen ewiger Jugend lockten. Digitalisierung erweiterte die Möglichkeiten ins schier Unendliche, und manche prognostizierten, dass Künstliche Intelligenz den Menschen bald zum Homo Deus hin überwinden werde. Zwar zog die Klimakatastrophe dunkel am Horizont herauf, aber man beschwichtigte mit dem Plan, ein ökologischer Umbau der Wirtschaft werde sie besiegen und sicheren Wohlstand für alle bringen – mal schnell zum Badeurlaub nach Thailand zu jetten, das musste gesichert bleiben.
 
Corona zog brutal einen Strich durch die Rechnung. Als biblische Plage wurde diese Pandemie empfunden, völlig unvorhersehbar und zur Gänze unverdient über uns hereingebrochen. Die Machbarkeit des Lebens schien zerbrochen. Der Flugverkehr – symbolisch für das frühere Lebens-gefühl – brach in kürzester Zeit auf wenige Prozent des vorigen Niveaus zusammen. Die Menschen fühlten sich ohnmächtig, hilflos, abgeschnitten von vielem und – weil der üblichen Zerstreuungen beraubt – auch einsam und leer; allerdings klagten viele auf beschämend hohem Niveau. Latente psychische Krisen brachen auf. Kinder und Jugendliche – auch sie häufig übersehen – litten schwer. Zwar glich bei uns der Staat die wirtschaftlichen Abstürze großenteils aus und verschuldete sich da-mit für Jahrzehnte – aber in armen Ländern, in denen Staaten nicht funktionieren, wurde der Hunger pandemisch und noch tödlicher als die Virus-Pandemie. Die Kirchen leerten sich rapide – nur wegen hygienisch motivierter Verbote? Oder auch, weil Gott offensichtlich nicht half und daher entbehrlich wurde? Allein gelassen fühlten sich die Menschen einer unsichtbaren, heimtückischen und teufli-schen, ja tödlichen Macht ausgeliefert. In seiner neuen Brüchigkeit versank das vorher so gesicherte und komfortable Leben in Angst.
 
Bringen breite Impfkampagnen das alte Leben zurück? Viele träumen davon: Die Wirtschaft wird wieder brummen und der Himmel sich mit Flugzeugen füllen. Die Kirchen werden wieder besucht werden wie vorher. Aber können wir uns in frühere Machbarkeit einfach zurückbeamen? Die Klü-geren warnen: Das Virus bleibt, auch mit Varianten, mit neuen Einschränkungen, mit Unsicherhei-ten – der hemmungslos hedonistische Lebensstil wird nicht mehr möglich sein. Die Wirtschaft verän-dert sich, auch unter ökologischem Druck. Armut und Reichtum – in der Pandemie riss die Schere nochmals gewaltig auf – müssen aktiv und für viele schmerzhaft ausgeglichen werden. Und die Kir-chen? Was schon vorher unter der Fassade, mit viel Geld halbwegs erhalten, brüchig war, brach in der Pandemie hervor. Wie früher wird es nicht mehr werden: Die Christen entwickeln sich zur Min-derheit, mit wenig Macht und Glanz, oft geringgeschätzt und an den Rand gedrängt, verunsichert, suchend, sich selbst marginalisierend. Die Kirchen werden diesen – übrigens biblisch vorgezeichne-ten – Weg nur gehen, wenn sie die Situation annehmen und sich dadurch verändern lassen, also ärmer werden, demütiger und stärker partizipativ.
 
Was sagt der Glaube zu dieser Entwicklung? Sein zu wollen wie Gott, der alles berechnet und be-herrscht, ja alles weiß und kann und wirkt, ist die Ursünde der Menschheit. Irdische Existenz ist vul-nerabel und brüchig, sie ist ständig von Armut bedroht und vom Tod überschattet. Gott als Garant unseres Wohlstands und der Machbarkeit: Das wäre, selbst mit viel Dank an den Geber der guten Gaben, Instrumentalisierung Gottes, theologischer Missbrauch. Wie Gott in der Welt wirkt, wissen wir nicht. Oft scheint er gegen unsere Wünsche und Projektionen zu wirken, das zeigt die Pandemie überdeutlich. Eigenartig abwesend wirkte er, nicht berechenbar. In der Welt leben wir zwar vor Gott, aber gleichsam ohne Gott (Bonhoeffer). Und doch: Wer glaubt, erfährt, dass Gott in der Not mitgeht und stützt. Gott verheißt Leben, auch über Not und Tod hinaus.
Die Pandemie ist ein Schuss vor den Bug. Den Schuss zu hören, das könnte bedeuten: Kinder und Jugendliche sind neu zu fördern. Der sozial-ökologische Umbau von Gesellschaft und Wirtschaft muss vordringlich weitergehen. Digitalisierung ist hilfreich, aber nur ein – durchaus ambivalentes – Mittel, kein Zweck in sich selbst. Weil irdische Existenz bleibend brüchig ist, stellen sich neu die Got-tesfrage und jene nach dem ewigen Leben. Die Kirche darf den Mut haben, christliche Liebe im 21. Jahrhundert zu leben und dadurch Gott zu verkünden. Kann die Pandemie zur Chance für Gesell-schaft und Kirche werden?
 
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