| Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
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| 360.000
Menschen haben die katholische Kirche im vergangenen Jahr verlassen,
während bloß 1500 eingetreten sind. Als Grund für den Kirchenaustritt
geben viele die mangelhafte Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs
an. Die Kirche selbst ringt weiterhin um die richtigen Worte, um die
Katastrophe angemessen zu beschreiben. Auch Kirchenleute nennen ihre
Institution inzwischen eine „Täterorganisation“, wie Klaus Mertes SJ in
seinem neuen Editorial (s.u.) kritisiert:
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| „Das
Schlimme am Missbrauch in der Kirche besteht ja gerade darin, dass er
in einer Institution geschieht, deren Zweck ausdrücklich nicht das
Verbrechen ist, sondern die Vermittlung von Schutz und Geborgenheit in
der Liebe Gottes. Man könnte sogar sagen: Von Kirche als ‚Täterorganisation‘ zu sprechen verharmlost das Widersinnige des Missbrauchs in der Kirche.“ Die Themen im September: Nach
dem Aufdecken des Machtmissbrauchs an Kindern und Jugendlichen nimmt
die Kirche nun auch den noch immer stark tabuisierten und weniger
skandalisierten Missbrauch an Erwachsenen in den Blick; ein dringendes Anliegen, auf das ich in meinem Artikel eingehe. Die Klimaaktivistin Lea Bonasera leistet zum Protest gegen die Umweltpolitik
zivilen Widerstand mit der von ihr mitgegründeten Gruppe „Die Letzte
Generation“. Sie gibt einen persönlichen Einblick in ihren Aktivismus
und benennt drei Wege, wie die Kirche die helfen könnte. Mit seinem Porträt von Papst Benedikt XVI. wurde Michael Triegel
weltberühmt. Weihbischof Christian Würtz analysiert zwei Werke des
Leipziger Künstlers, dessen Stil auf den ersten Blick altmeisterlich
wirkt, aber von surrealistischen und modernen Elementen durchbrochen
wird. In seinem neuen Roman „Yoga“ setzt Emmanuel Carrère
die eigene Person als Instrument der Wirklichkeitswahrnehmung ein.
Dabei kritisiert er die Versprechungen von Religion und Meditation. Knut
Wenzel erkennt in dem Werk eine authentische Verhandlung zwischen
Spiritualität und Depression. Die Begleitung Sterbender und Fragen um die Sterbehilfe
erfordern ein hohes Maß an Empathie und Feinfühligkeit auch im
pastoralen Handeln. Josef Römelt CSsR wirbt für die katholische
Position, Menschen bis zum Ende zu begleiten, aber auch dafür, die
gesellschaftliche Auseinandersetzung um das Verständnis des Todes
weiterzuführen. Der Mystiker und Dominikanermönch Eckhart von Hochheim alias Meister Eckhart provoziert
mit seiner zum Teil radikalen und rebellischen Religiosität bis heute.
Im Interview mit Alois Maria Haas fragt Rudolf Walter nach Eckharts
Freiheitsbegriff, seiner authentischen Sprache und den Umständen seines
Lebens im 14. Jhd. Außerdem lesen Sie im September einen Essay von Klaus Mertes SJ (Unterschied von Gabe und Amt) sowie Rezensionen aus Kunst & Kultur. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre Ihr
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| P. Stefan Kiechle SJ, Chefredakteur
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| Inhalt |  |
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| | • | Klaus Mertes SJ: Täterorganisation Kirche? |
| • | Stefan Kiechle SJ: Missbrauch Erwachsener. Geistliche und sexuelle Übergriffe im kirchlichen Kontext |
| • | Lea Bonasera: Die Letzte Generation. Zur Rolle der Kirche im Kampf gegen die Klimakrise |
| • | Christian Würtz: Das Bild ist klüger als sein Maler. Der Leipziger Künstler Michael Triegel |
| • | Knut Wenzel: Emmanuel Carrère. Das Büchlein über Yoga, zu dem es nicht gekommen ist |
| • | Josef Römelt CSsR: Menschen mit Sterbewunsch. Pastorales Handeln in Nähe und Respekt |
| • | Rudolf Walter / Alois Maria Haas: Freiheit im Gottesbezug. Meister Eckharts Theorie des spontanen Lebens |
| • | Klaus Mertes SJ: Unterschied von Gabe und Amt. Zur Charismen-Lehre von Paulus |
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| Täterorganisation Kirche? |  |
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| Editorial: Klaus Mertes SJ
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| Der
Kölner Weihbischof und zeitweilige apostolische Administrator der
Kölner Erzdiözese, Rolf Steinhäuser, bekannte sich im November 2021
während des Bußgottesdienstes im Kölner Dom zum Versagen der Kirche:
„Von Priestern und weiteren kirchlichen Mitarbeitern unseres Bistums ist
eine große Zahl von Verbrechen sexualisierter Gewalt an
Schutzbefohlenen verübt worden.“ Als derzeitiger Leiter des Erzbistums
sei er „Chef der Täterorganisation Erzbistum Köln“. Steinhäuser griff
damit eine Formulierung auf, die immer öfter zu hören ist, auch in der
kirchlichen Presse, ohne Präzisierungen und Differenzierungen. Nun
mag es müßig sein, allzu lang über den Begriff zu streiten. Im Rahmen
eines juristischen Sprachspiels mag diese Wortwahl einen Sinn haben,
wenn eine Organisation oder Institution unter Anklage steht, weil sie
durch Vertuschung in die Taten der Täter systemisch der „Täterseite“
zuzuordnen ist. Doch unter einer „Täterorganisation“ wird im allgemeinen
Sprachgebrauch eine Organisation verstanden, die zu dem Zweck gegründet
wird, Verbrechen zu begehen, zum Beispiel die Mafia. Das trifft für die
Kirche nicht zu, im Gegenteil: Das
Schlimme am Missbrauch in der Kirche besteht ja gerade darin, dass er
in einer Institution geschieht, deren Zweck ausdrücklich nicht das
Verbrechen ist, sondern die Vermittlung von Schutz und Geborgenheit in
der Liebe Gottes. Man könnte sogar sagen: Von Kirche als
„Täterorganisation“ zu sprechen verharmlost das Widersinnige des
Missbrauchs in der Kirche. Die immer bedenkenlosere Verwendung des
Begriffes steht deswegen eher für die Verwirrung durch den Missbrauch.
Sie macht nicht bei der Beziehung Opfer-Täter halt, sondern erreicht das
ganze Beziehungsumfeld, die persönlichen sowie institutionellen
Selbstverhältnisse und damit auch die Aufarbeitungsprozesse. Wer den
Begriff „Täterorganisation“ verwendet, suggeriert jedenfalls, über eine
Klarheit zu verfügen, die der Komplexität der Missbrauchstaten und der
unterschiedlichen Ebenen der Vertuschung nicht gerecht wird. Überhaupt:
Wie kann man eigentlich von innen, aus der Zugehörigkeit heraus über
sich selbst von „Täterorganisation“ sprechen und dabei wirklich meinen,
was man sagt? Ich werde da eher misstrauisch. Wenn man zur Kirche gehört
und erkennt, dass sie eine „Täterorganisation“ ist, reicht es nicht,
sie zu verlassen. Man muss sie dann bekämpfen. Und was geschieht
eigentlich, wenn das leitende Personal der Kirche und auch kirchliche
Medien ohne Differenzierungen zu dieser Sprache greifen? Was sagt es
über ihr Selbstverständnis? Was wollen Pfarrer, Bischöfe, Theologinnen
und Theologen ihren Gemeinden damit sagen? Die Empörung über Verbrechen
an Kindern und Schutzbefohlenen durch „Hirten“ kann man ja nur von
Herzen teilen. Vielleicht haben auch diejenigen, die so formulieren,
inzwischen erfreulicherweise gemerkt, dass man – nicht nur Päpste und
Bischöfe, sondern auch Vertreterinnen und Vertreter von kirchlichen
Verbänden und Reformgruppen aller Art – sich aus verständlicher Empörung
heraus dennoch nicht auf die Seite der Opfer schlagen kann, um sich
dann mit ihnen über die Täter und Vertuscher zu empören. Das ist in den
letzten Jahren zu oft geschehen, wird nun aber durch die Umkehrung auch
nicht besser. Denn
mit Empörungssprache über sich selbst ist ebenfalls niemandem geholfen,
nicht Betroffenen, und schon gar nicht denen, die in der Kirche jetzt
etwas suchen, was ihnen in ihrer Kindheit vorenthalten oder gar genommen
wurde; und auch nicht den verwirrten Systemen in Familien, Gemeinden,
Schulen und Verbänden. Sprachliche Selbstgeißelung wirkt eher wie eine
Art von institutioneller und auch spiritueller Selbsthinrichtung. Damit
entzieht man sich wieder den Betroffenen, und auch der Hirtenaufgabe,
der Fürsorge für die Schutzbedürftigen hier und heute. Eine
„Täterorganisation“ sollte Vertrauen von Schutzbefohlenen am besten erst
gar nicht mehr annehmen. Und
schließlich: Was bedeutet es, sich aufgrund von Mitgliedschaft in einer
„Täterorganisation“ als schuldig zu bekennen, wie in diesem
Zusammenhang immer wieder zu hören ist? Bloße Mitgliedschaft, zumal
dann, wenn man von Kindesbeinen an in sie hineingeboren wurde, macht
nicht schuldig. Wenn sich dann allerdings herausstellt, dass die Kirche
nicht nur heilig, sondern auch sündig ist, dann ist es ein schwacher
Grund, bloß deswegen auszutreten, um selbst unschuldig zu bleiben oder
Unschuld zurückzugewinnen. Mit dieser Begründung bin ich ja doch wieder
nur bei mir selbst und nicht bei den Anliegen der Aufarbeitung. Dann
geht es mir wieder primär um mich, darum, selbst nicht schuldig zu
werden. Es gibt, wenn schon denn schon, bessere Gründe, um auszutreten. Bei
der Aufarbeitung geht es jedenfalls gerade nicht um mich. Vielmehr ist
die Angst um „mich“, um meinen guten Ruf, um meine eigene Unschuld
selbst einer der tiefsten Gründe für die Hermetik jeglicher
Schweigespiralen und Vertuschungsdynamiken, auch außerhalb der Kirche.
Mit einem Austritt aus diesem Grund ist man also noch längst nicht der
eigenen Anfälligkeit für Schweigen, Wegsehen und Vertuschen entkommen.
Der toxische Charakter des Missbrauchs streut auch jenseits der Grenzen
der Institution sein Gift weiter aus.
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