Pressemitteilung
Wolfgang Strengmann-Kuhn, Sozialexperte der grünen
Bundestagsfraktion, fordert eine Neuberechnung der Regelsätze auch beim
Bürgergeld
Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 17. Oktober 2022)
- Bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Wolfgang Strengmann-Kuhn, Obmann der Grünen im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales, fordert eine neue Art der Berechnung der Regelsätze in der Grundsicherung. Dies sei trotz des Inflationsausgleichs, der Teil des neuen Bürgergeld-Gesetzes ist, notwendig, sagte er. Denn dieser „beseitigt nicht das grundsätzliche Problem: Der Regelsatz ist insgesamt zu gering und die Berechnung muss so umgebaut werden, dass er existenzsichernd ist.“ Ein paar finanzielle Verbesserungen gebe es immerhin. So würden Erwerbseinkommen weniger angerechnet, für Kinder gebe es schon seit dem 1. Juli 20 Euro im Monat mehr, in Weiterbildungsphasen solle es 150 Euro im Monat mehr geben. „Für bestimmte Gruppen bewegen wir uns also in Richtung armutsfeste Leistungen. Aber das reicht noch nicht“, so der Grünen-Abgeordnete.
Er betonte, dass Sanktionen keineswegs abgeschafft würden, zeigte sich aber zufrieden, dass die meisten Bürgergeld-Beziehenden nach den geplanten Neuregelungen von Sanktionen nicht mehr betroffen sind. In diesem Zusammenhang wies er die Kritik von Arbeitgeberverbänden und Unionsfraktion zurück, wonach das neue Sanktionsregime beim Bürgergeld zu mild sei. „Es ist eine grundsätzlich falsche Annahme, dass Menschen nur deswegen eine Arbeit aufnehmen oder eine Weiterbildung machen, weil sie mit Sanktionen bedroht werden. Dahinter steckt ein fragwürdiges Menschenbild. Die überwiegende Mehrheit ist motiviert, für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Auf diese Motivation setzen wir. Deswegen soll es künftig unter anderem ein Weiterbildungsgeld geben und das hinzuverdiente Einkommen soll weniger angerechnet werden. Insgesamt führt das neue System zu mehr Motivation und besserer Arbeitsvermittlung.“
Er verteidigte außerdem die Idee eines Grundeinkommens: „Gerade die Corona-Krise hat gezeigt, wie gut es gewesen wäre, wenn es ein Grundeinkommen gegeben hätte und dadurch bestimmte Berufsgruppen wie Künstler abgesichert gewesen wären. Auch bei den Entlastungspaketen hatten wir Mühe, dafür zu sorgen, dass wirklich alle, die es brauchen, Hilfe bekommen. Wenn es bereits ein Grundeinkommen gegeben hätte, dann hätten wir diesen Auszahlmechanismus schon, der jetzt erst mühsam geschaffen werden muss“, sagte Strengmann-Kuhn.
Das Interview im Wortlaut:
Parlament: Herr
Strengmann-Kuhn, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit dem Thema
Armut und fordern, dass soziale Sicherungssysteme armutsfest sein
müssen. Wie groß waren Ihre Bauchschmerzen bei der Agenda 2010 der
rot-grünen Bundesregierung?
Strengmann-Kuhn: Ich
habe das aus politischer und aus wissenschaftlicher Perspektive sehr
kritisch gesehen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe war richtig, aber man hätte es besser und sozialer machen
und damals auch schon mit einem Mindestlohn verknüpfen müssen. Das ist
leider nicht passiert. Deswegen habe ich mich über die Forderung im
Koalitionsvertrag nach Überwindung von „Hartz IV“ gefreut und mich auch
dafür stark gemacht.
Parlament: Mit dem
Bürgergeld soll ein „Sozialstaat auf Augenhöhe“ geschaffen werden.
Reicht es dafür, auf die Sanktionsdrohungen in den Anschreiben zu
verzichten?
Strengmann-Kuhn: Das ist ein Baustein.
Aber wir verändern grundsätzlich die Systematik des Umgangs miteinander.
Das fängt mit dem Kooperationsplan an, der am Anfang erstellt wird.
Gemeinsam sollen die Kunden und Arbeitsvermittler überlegen, was
sinnvoll und notwendig ist, um den Bürgergeldbezug wieder zu überwinden.
Danach beginnt die sechsmonatige „Vertrauenszeit“ – weitgehend ohne
Sanktionen. Im Moment gibt es viel Misstrauen und ein wesentliches Ziel
der Bürgergeld-Reform ist, beidseitiges Vertrauen aufzubauen.
Parlament: Was unterscheidet den Kooperationsplan von der jetzigen Eingliederungsvereinbarung?
Strengmann-Kuhn:
Die Eingliederungsvereinbarung kann einseitig vorgegeben werden und der
Kunde oder die Kundin muss sie dann unterschreiben. Das ist beim
Kooperationsplan nicht mehr so. Können sich Arbeitssuchende und
Arbeitsvermittler nicht einigen, soll erstmal einen Mechanismus greifen,
um zu vermitteln. Das neue System ist wirklich auf Kooperation
aufgebaut, während die Eingliederungsvereinbarung teilweise ein
einseitiger und kaum verständlicher Verwaltungsakt war.
Parlament: Arbeitgeberverbände kritisieren die entschärften Sanktionen als fehlenden Anreiz, sich ernsthaft um eine neue Arbeit zu bemühen.
Strengmann-Kuhn:
Es ist eine grundsätzlich falsche Annahme, dass Menschen nur deswegen
eine Arbeit aufnehmen oder eine Weiterbildung machen, weil sie mit
Sanktionen bedroht werden. Dahinter steckt ein fragwürdiges
Menschenbild. Die überwiegende Mehrheit ist motiviert, für den eigenen
Lebensunterhalt zu sorgen. Auf diese Motivation setzen wir. Deswegen
soll es künftig unter anderem ein Weiterbildungsgeld geben und das
hinzuverdiente Einkommen soll weniger angerechnet werden. Insgesamt
führt das neue System zu mehr Motivation und besserer
Arbeitsvermittlung.
Parlament: Ihre Partei
möchte eigentlich ein Ende jeglicher Sanktionen. Wie viel von der
grünen Garantiesicherung steckt im neuen Bürgergeld?
Strengmann-Kuhn:
Was das Verhältnis von Jobcentern zu den Betroffenen angeht, steckt da
eine Menge von unserem Konzept drin. Das wollten wir insgesamt neu
aufstellen und da waren wir uns in der Koalition auch einig. Ansonsten
werden zwar Sanktionen nicht komplett abgeschafft. Aber die meisten
Bürgergeld-Beziehenden werden nach den geplanten Neuregelungen überhaupt
nichts damit zu tun haben. Momentan steht auf jedem Schreiben
grundsätzlich eine Sanktionsandrohung unten drunter, künftig soll das
erst nach mehrfachen Termin- oder Mitwirkungsverweigerungen so sein und
dann können auch Sanktionen verhängt werden.
Parlament: Sie sind schon lange ein Verfechter des Grundeinkommens. Warum lohnt es sich, für diese Idee zu streiten?
Strengmann-Kuhn:
Zunächst einmal ist das Bürgergeld keineswegs so etwas wie ein
bedingungsloses Grundeinkommen, wie es derzeit öfter behauptet wird. Es
bleibt eine bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherung, die beantragt werden
muss. Das Grundeinkommen ist dagegen die Idee, dass Menschen eine
finanzielle Leistung bekommen, ohne dass sie sich als bedürftig erklären
müssen. Der Vorteil ist, dass die Hürden, die es im jetzigen
Sozialsystem gibt, abgeschafft werden und allen Menschen das
Existenzminimum garantiert wird, was ja im Übrigen ein Grundrecht ist.
Verdeckte Armut wird dadurch deutlich reduziert, vielleicht sogar ganz
beseitigt. Ich glaube, dass es die Gesellschaft und die Arbeitswelt
positiv verändern würde. Deswegen steht das für uns Grüne als Leitidee
nach wie vor auf der Agenda.
Parlament: Die
Gesellschaft lebt seit Jahren in einem Ausnahmezustand, erst Corona,
dann Ukraine-Krieg und Inflation. Das sind nicht gerade gute
Voraussetzungen, um diese Idee umzusetzen, oder?
Strengmann-Kuhn:
Im Gegenteil: Gerade die Corona-Krise hat gezeigt, wie gut es gewesen
wäre, wenn es ein Grundeinkommen gegeben hätte und dadurch bestimmte
Berufsgruppen wie Künstler abgesichert gewesen wären. Auch bei den
Entlastungspaketen hatten wir Mühe, dafür zu sorgen, dass wirklich alle,
die es brauchen, Hilfe bekommen. Wenn es bereits ein Grundeinkommen
gegeben hätte, dann hätten wir diesen Auszahlmechanismus schon, der
jetzt erst mühsam geschaffen werden muss.
Parlament: Mit
dem Bürgergeld werden auch die Regelsätze deutlich angehoben.
Sozialverbände wie Ökonomen kritisieren, dass auch dies wieder nicht
armutsfest ist.
Strengmann-Kuhn: Bei der geplanten
Anhebung geht es um einen Inflationsausgleich. Der beseitigt aber nicht
das grundsätzliche Problem: Der Regelsatz ist insgesamt zu gering und
die Berechnung muss so umgebaut werden, dass er existenzsichernd ist.
Ein paar finanzielle Verbesserungen gibt es immerhin. So werden
Erwerbseinkommen weniger angerechnet, für Kinder gibt es schon seit dem
1. Juli 20 Euro im Monat mehr, in Weiterbildungsphasen gibt es 150 Euro
im Monat mehr. Für bestimmte Gruppen bewegen wir uns also in Richtung
armutsfeste Leistungen. Aber das reicht noch nicht.
Parlament: Der
Niedriglohnsektor hat sich seit der Agenda 2010 auf einem Niveau von
zirka 20 Prozent verfestigt. Das Problem wird seit Jahren beklagt - ohne
Folgen.
Strengmann-Kuhn: Es war explizit ja Ziel
von Gerhard Schröder, Wolfgang Clement und anderen, den
Niedriglohnsektor auszuweiten. Mit der Einführung des gesetzlichen
Mindestlohns 2015 wurde auf die krassesten Auswüchse reagiert. Noch
wichtiger ist: Wir wollen die Tarifbindung verbessern durch ein
Tariftreuevergabegesetz, das die Vergabe öffentlicher Aufträge an die
Tarifbindung regelt. Das ist in Vorbereitung, damit mehr tarifgebundene
Beschäftigung entsteht. Die Löhne müssen so hoch sein, dass man nicht
noch Bürgergeld beziehen muss.
Parlament: Was bedeutet Armut für Menschen?
Strengmann-Kuhn:
Armut bedeutet, dass Menschen aufgrund fehlenden Einkommens vom
normalen gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind. Für Kinder ist
das besonders schwierig, weil es den ganzen Lebensverlauf prägt, wenn
sie in Armut aufwachsen. Aber es ist auch für Erwachsene ausgrenzend,
wenn sie sich zum Beispiel keinen Gaststätten- oder Kinobesuch mehr
leisten können, denn das gehört zum normalen Leben dazu. Deswegen sollte
das Ziel sein, dass jeder Mensch am normalen Leben teilhaben kann und
das ist auch möglich.
Parlament: Viele Menschen,
die Anspruch auf Sozialleistungen hätten, nehmen diese nicht in
Anspruch, aus Scham oder wegen der umständlichen Beantragung. Erwarten
Sie eine spürbare Veränderung mit dem Bürgergeld?
Strengmann-Kuhn:
Ja, denn wir bauen Stigmatisierungen ab und auch bürokratische Hürden,
indem wir in den ersten zwei Jahren Vermögen und Wohnung nicht antasten.
Aber wir müssen noch mehr für die Information tun, denn viele Menschen
wissen gar nicht, dass sie Hilfe bekommen könnten, gerade auch
Erwerbstätige mit geringem Verdienst.
Der Volkswirt Wolfgang Strengmann-Kuhn (Bündnis 90/Die Grünen) ist seit 2008 Mitglied des Bundestages und dort für Renten, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zuständig. Derzeit ist er Obmann der Grünen-Fraktion im Ausschuss für Arbeit und Soziales.
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