Pressemitteilung
Bundestagspräsidentin Bas im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“
Bundestagspräsidentin Bas dringt auf baldige Grundsatzentscheidung zur Begrenzung der Abgeordnetenzahl
Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung
„Das Parlament“ (Erscheinungstag: 24. Oktober 2022) – bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –
Bundestagspräsidentin
Bärbel Bas (SPD) dringt in der Debatte um eine Begrenzung der
Abgeordnetenzahl des Parlaments auf baldige Vorschläge der Kommission
zur Reform des Wahlrechts. Soweit es um die Größe des Bundestages gehe
und um die Frage eines Neuzuschnitts von Wahlkreisen, müsse es
spätestens Anfang nächsten Jahres zu einer Grundsatzentscheidung kommen,
sagte Bas der Wochenzeitung „Das Parlament“. Ansonsten gälte die
aktuelle Gesetzeslage, dass die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280
reduziert werden soll. Sie höre, dass es in der Wahlrechtskommission
einen breiten Konsens gebe, bei 299 Wahlkreisen bleiben zu wollen. Dann
müsse es aber auch spätestens Anfang 2023 eine Entscheidung dazu geben.
„Wir müssen zwingend wissen, ob die Wahlkreise neu zugeschnitten werden müssen“, fügte Bas hinzu. Denn dies wäre ein längerer Prozess, der rechtzeitig vor der Wahl rechtskräftig abgeschlossen sein müsse. Sie erwarte daher baldige Klarheit zum Wahlverfahren. Auch müsse man damit rechnen, dass das neue Wahlgesetz gerichtlich überprüft wird. Darum meine sie, dass man jetzt zügig zu den nötigen Entscheidungen kommen müsse.
Das Interview im Wortlaut:
„Das Parlament“: Frau
Präsidentin, Sie stehen jetzt seit einem Jahr an der Spitze des
Bundestages. In diesem Jahr scheint sich so ziemlich alles verändert zu
haben, ausgelöst vom russischen Krieg gegen die Ukraine. Sehen Sie vor
den unzähligen Herausforderungen eine besondere Aufgabe auch für das
zweithöchste Amt im Staat?
Bas: In diesen besonders herausfordernden
Zeiten für uns alle hat sich mit dem Krieg auch die Rolle unseres
Parlaments und meine Rolle als Bundestagspräsidentin verändert. Wir sind
im Krisenmodus. Das merke ich zum Beispiel bei meiner Rolle als
Repräsentantin des Deutschen Bundestages im Ausland. Bei meinen ersten
Treffen mit anderen Parlamentspräsidentinnen oder -präsidenten haben wir
stärker über praktische Fragen gesprochen: Wie die Parlamente arbeiten,
wer schon digital abstimmt. Mit dem Krieg haben die außenpolitischen
Termine deutlich zugenommen. So nehme ich in diesen Tagen an der
Krim-Plattform teil, zu der mich mein ukrainischer Amtskollege Ruslan
Stefantschuk nach Zagreb eingeladen hat. Die Themen Energieversorgung
und Preissteigerungen drohen in vielen Ländern zu sozialen Problemen zu
führen. Natürlich ist all das gerade für die Parlamente und ihre
Abgeordneten eine große Herausforderung. Es geht um den Zusammenhalt der
Gesellschaft und die Akzeptanz politischer Entscheidungen in
Krisenzeiten bei uns und in Europa.
„Das Parlament“: Zeiten, in
denen viele Menschen das Gefühl haben , dass sie eine Krise nach der
anderen durchleben müssen: Erst die Pandemie, dann der russische
Überfall auf die Ukraine, die Energiekrise, daneben der Klimawandel.
Inwieweit spüren Sie das auch im Parlamentsbetrieb?
Bas: Wir haben
mehrere schwierige Krisen parallel. Die Pandemie ist noch nicht vorbei,
gerade steigen wieder die Infektionszahlen. Dazu kommt die Energiekrise.
Und absehbar eine Rezession. Als der Koalitionsvertrag vereinbart
wurde, sah die Welt noch anders aus. Da ging es um viele in die Zukunft
gerichtete Themen, die wir nicht vergessen dürfen. Jetzt spürt man im
Parlamentsbetrieb, dass es überwiegend um Krisenmanagement geht.
„Das Parlament“: Wie macht sich das bemerkbar?
Bas:
Abläufe werden komprimiert, Fristen werden abgekürzt. Das beschäftigt
mich natürlich als Präsidentin. Mir ist es wichtig, dass die
Abgeordneten genug Zeit haben, Themen zu beraten. Wenn viele wichtige
Themen parallel laufen, ist das eine große Herausforderung für alle
Abgeordneten, auch für die erfahrenen. Positiv ist aber: Der Deutsche
Bundestag war selbst in den schwierigsten Coronamonaten jederzeit
arbeitsfähig, und auch die aktuellen Abläufe bekommen wir hin,
Abgeordnete und Verwaltung in gemeinsamer Anstrengung.
„Das
Parlament“: Sie gehören seit 2009 dem Bundestag an, haben sich einen
Namen gemacht als profilierte Gesundheitspolitikerin. Sie sagten eben,
dass die aktuelle Situation in der Außenpolitik mehr inhaltliche
Diskussionen mit sich bringt. Wie ist das innenpolitisch: Können Sie
sich da noch in das Tagesgeschäft einbringen – und falls nicht:
Vermissen Sie das?
Bas: Ich würde mich einbringen, wenn ich es für
notwendig halte. Aber natürlich hat man im Amt der Bundestagspräsidentin
eine andere Rolle. Das bedeutet ganz klar weniger politisches
Tagesgeschäft. Ob ich das vermisse? In den vergangenen Jahren habe ich
zum Beispiel intensiv am Infektionsschutzgesetz gearbeitet; diese
Nachtsitzungen vermisse ich nicht. Auf der anderen Seite gibt es viele
parlamentarische Themen, aktuell zum Beispiel die Wahlrechtsreform, wo
ich mich als Präsidentin des Bundestags einmischen kann, und dies im
Sinne der Wählerinnen und Wähler auch tue. Sicherlich bleibe ich auch
bei anderen Themen nicht immer völlig neutral, weil ich nach wie vor
Abgeordnete bin. Ich stimme als Abgeordnete ab und habe meinen Wahlkreis
in Duisburg, aus dem ich die Themen der Menschen mit nach Berlin nehme.
Aber in meiner Rolle als Präsidentin vertrete ich das Haus in Gänze.
„Das Parlament“: Schaffen Sie es noch, im Wahlkreis Termine so wie früher wahrzunehmen, etwa mit Bürgersprechstunden?
Bas:
Die Wochen im Wahlkreis sind leider etwas weniger geworden, vor allem
da ich Auslandsreisen immer in Nicht-Sitzungswochen absolviere. Während
der Sitzungswochen bin ich natürlich durchgehend hier im Hause. Wenn ich
Glück habe, schaffe ich in sitzungsfreien Wochen drei Tage in meinem
Wahlkreis, die ich dann intensiv für Bürgergespräche, Treffen mit
Organisationen oder Unternehmensbesuche nutze. Mir ist es sehr wichtig,
mich vor Ort auszutauschen und die Stimmung der Bürgerinnen und Bürger
aufzunehmen. Dafür sind wir Abgeordneten da.
„Das Parlament“: In
Ihrer Rede zum Tag der Deutschen Einheit betonten Sie die Bedeutung des
demokratischen Streits und mahnten, dass die Demokratie Schaden nehme,
wenn sich engagierte Menschen zurückzögen. Der Bundestag sollte in der
Form der demokratischen Auseinandersetzung Vorbild sein. Welche Note
bekommt er in diesem ersten Jahr der 20. Wahlperiode?
Bas: Die Frage
ist, wofür ich die Note vergebe: Für die Diskussionskultur? Dafür, wie
wir von außen wahrgenommen werden? Also, insgesamt: Da wir noch
Verbesserungsmöglichkeiten haben, würde ich uns für das erste Jahr eine
Drei plus geben. Ich habe in meiner Antrittsrede gesagt, dass es wichtig
ist, wie wir hier im Haus miteinander reden. Wir haben sehr viele
Bürgerinnen und Bürger, die die Debatten verfolgen, und ich bekomme
viele Briefe, in denen es heißt, wir benähmen uns manchmal wie im
Kindergarten. Tatsächlich können wir im Parlament beim Umgang
miteinander noch besser werden. Als Präsidium achten wir gemeinsam
darauf, dass es fair zugeht und gleichzeitig eine lebendige Debatte
möglich ist. Konstruktiver Streit ist das Kernstück parlamentarischer
Demokratie – hart in der Sache, aber fair im Umgang.
„Das
Parlament“: Bei der Bundestagswahl vor einem Jahr sind relativ viele
junge Politiker ins Parlament gewählt worden. Spüren Sie neue Akzente,
die die Newcomer setzen?
Bas: Vielen Newcomern geht es so wie mir am
Anfang: Man will sofort Dinge umsetzen. Ich denke, vielen Jungen fehlt
noch die Geduld, was die Abläufe angeht, und vielleicht ist diese Unruhe
auch ganz gut. Sie wollen digital arbeiten. Sie kommen aus einer ganz
anderen Kultur. Die jungen Abgeordneten drängen darauf, dass wir
modernere Strukturen im Haus bekommen. Dass die Prozesse schneller und
einfacher ablaufen. Ich teile viele dieser Punkte und wir arbeiten
daran.
„Das Parlament“: Modernere Strukturen, worauf zielt das?
Bas:
Das zielt auch auf Politik und Familie. In dieser Legislaturperiode
sind unter den Abgeordneten viele junge Mütter und Väter, die sagen:
Familie ist mit unserem Sitzungsrhythmus kaum zu vereinbaren. Und wenn
ihr Kind in einer Sitzungswoche mit dabei ist, wünschen sie sich, dass
sie hier im Bundestag auch ausgestattete Räumlichkeiten haben, wo die
Kinder betreut werden können. Da hat mein Vorgänger Wolfgang Schäuble
schon viel möglich gemacht und wir arbeiten auch bei diesem Thema an
Verbesserungen. Ein noch schwierigerer Punkt sind die Nachtsitzungen.
Das werde ich bedauerlicherweise nicht lösen können, weil die Fraktionen
selbst bestimmen, wie sie die Tagesordnung gestalten und wie viel
Redezeit sie ansetzen. Wenn wir bis tief in die Nacht tagen, geht das an
die Substanz und macht jungen Eltern die Betreuung ihrer Kinder
schwierig. Das gilt übrigens auch für die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Abgeordneten und der Bundestagsverwaltung.
„Das
Parlament“: Sie haben jüngst mit einer Ihrer beiden Vorgängerinnen im
Amt, Rita Süssmuth, eine Veranstaltung zum Thema Parität, also zur
gleichen Teilhabe von Frauen in der Politik bestritten und darauf
verwiesen, dass wir jetzt ein paritätisch besetztes Kabinett haben und
im Bundestagspräsidium sogar mehr Frauen als Männer sitzen. Aber bei den
Abgeordneten sind derzeit mit knapp 35 Prozent noch immer nur rund ein
Drittel Frauen…
Bas: Wir sollten auf jeden Fall weiter mit allem
Nachdruck darauf drängen, den Frauenanteil in den Parlamenten zu
erhöhen: Gelingt es, verfassungsrechtlich zulässige Möglichkeiten zu
finden, bei der Listenaufstellung zu mehr Parität zu kommen? Es gab ja
zwei Urteile, die zumindest in der Begründung Möglichkeiten aufzeigten.
„Das Parlament“: Von den Landesverfassungsgerichten in Brandenburg und Thüringen...
Bas:
Genau. Diese Rechtslage müssen wir mit Engagement und mit großer
Sorgfalt prüfen. Die Parteien, die jetzt schon freiwillig paritätische
Listen aufstellen, sind auch diejenigen mit dem größten Frauenanteil
hier im Parlament. Die Quotenregelungen bringen also schon etwas. Aber
34,8 Prozent sind, nicht nur mir, wirklich zu wenig. Wir kommen seit
zwanzig Jahren über diese Ein-Drittel-Grenze einfach nicht hinaus.
Deswegen sollten wir dringend nach weiteren Instrumenten suchen.
„Das Parlament“: Aber den Parteien paritätische Listen vorzuschreiben, haben beide Gerichte ausgeschlossen.
Bas:
Ich würde trotzdem weiter versuchen, rechtliche Möglichkeiten zu
finden, über das Wahlverfahren zu einem gerechteren Frauenanteil in den
Parlamenten zu kommen. Das betrifft ja nicht nur den Bundestag, sondern
auch Landes- und Kommunalparlamente. Die Wahlrechtskommission sucht hier
nach wie vor nach Lösungen.
„Das Parlament“: Vor allem soll die
Kommission Vorschläge zur Verkleinerung der Abgeordnetenzahl erarbeiten.
598 sollten es eigentlich sein, 736 sind es jetzt. Mal abgesehen von
den Kosten: Sind 736 Abgeordnete zu viel? Der Bundestag scheint durchaus
arbeitsfähig...
Bas: Dass er arbeitsfähig ist, zeigen wir ja. Aber
dass diese große Abgeordnetenzahl zu einer Erschwerung der Arbeit führt,
ist für uns alle hier offensichtlich. Mein größtes Problem ist zudem,
dass es nach oben keine Begrenzung gibt: Beim nächsten Mal könnten es
auch 800 oder 900 Abgeordneten sein, und dann komme ich an faktische
Grenzen. Allein bei den Räumlichkeiten. Bei der jetzigen Größe des
Bundestages passt alles noch so gerade eben, die Verwaltung hat da
wirklich Enormes geleistet, aber bei 800 oder mehr Abgeordneten müssten
wir zum Beispiel in großem Stil zusätzliche Räume in externen
Liegenschaften anmieten, was enorme logistische und Sicherheitsprobleme
bedeutet, von den Kosten ganz zu schweigen.
„Das Parlament“: Bis wann, meinen Sie, muss die Wahlrechtskommission hierzu Ergebnisse vorlegen?
Bas:
Soweit es um die Größe des Bundestages geht und um die Frage eines
Neuzuschnitts von Wahlkreisen, muss es spätestens Anfang nächsten Jahres
zu einer Grundsatzentscheidung kommen. Ansonsten gälte die aktuelle
Gesetzeslage, dass die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 reduziert
werden soll. Ich höre, dass es in der Wahlrechtskommission einen breiten
Konsens gibt, bei 299 Wahlkreisen bleiben zu wollen. Dann muss es aber
auch spätestens Anfang 2023 eine Entscheidung dazu geben! Wir müssen
zwingend wissen, ob die Wahlkreise neu zugeschnitten werden müssen. Denn
das wäre ein längerer Prozess, der rechtzeitig vor der Wahl
rechtskräftig abgeschlossen sein müsste. Ich erwarte daher baldige
Klarheit zum Wahlverfahren. Andere Themen, wie die angesprochenen
Paritätsfragen und eine mögliche Absenkung des Wahlalters, behandelt die
Kommission gerade. Wir müssen auch damit rechnen, dass das neue
Wahlgesetz gerichtlich überprüft wird. Darum meine ich, dass wir jetzt
zügig zu den nötigen Entscheidungen kommen müssen.
„Das
Parlament“: Ein Teil der Bundestagswahl 2021 wird voraussichtlich
wiederholt, nämlich in Berlin wegen der zahlreichen Pannen am Wahltag.
Die Beratungen im Wahlprüfungsausschuss sind sehr strittig, auch Bundes-
und Landeswahlleitung sind sich in der Bewertung der Pannen nicht
einig. Schadet ein solcher Streit der Wahlprüfung?
Bas: Konstruktiver
und fairer Streit ist grundsätzlich wichtig für unsere Demokratie. Bei
Fragen der Wahlprüfung wünsche ich mir allerdings einen möglichst
breiten Konsens – wie bei allen Fragen des Wahlrechts. Die Wählerinnen
und Wähler müssen darauf vertrauen können, dass Wahlen ordnungsgemäß
ablaufen. Nur dann werden die Menschen auch zukünftig zur Wahl gehen und
sich aktiv an unserer Demokratie beteiligen.
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